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Sprachkritik: Forscher beim Wort-TÜV

Viele Philosophen glauben, dass Neurowissenschaftler Begriffe wie "denken", "fühlen" und "handeln" grundlegend falsch verwenden. Ist das nur spitzfindige Wortklauberei - oder hilft eine genaue Sprachanalyse, Irrwege der Forschung zu vermeiden?
Das Gehirn denkt, der Mensch lenkt?

Unser Gehirn ist ein Alleskönner, scheint es. Es nimmt wahr, denkt, fühlt, versetzt sich in andere hinein und trifft Entscheidungen. Selbst einzelne Nervenzellen haben einiges drauf: Sie kommunizieren nicht nur miteinander, sondern repräsentieren Objekte oder ganze Landkarten der Umgebung. Was aus dem Mund vieler Neurowissenschaftler fast selbstverständlich klingt, ist aus sprachphilosophischer Sicht allerdings oft – Unsinn!

Den Kampf gegen die "Verhexung des Verstandes durch die Sprache", wie Ludwig Wittgenstein (1889-1951) es formulierte, haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Denker auf die Fahnen geschrieben. Auch die Neurowissenschaften haben sie dabei ins Visier genommen: Die Philosophie kläre zwar keine empirischen Fragen und könne folglich nicht wissenschaftliche Experimente ersetzen, so das Kredo; doch sie helfe, begriffliche Unklarheiten zu beseitigen. Und das sei dringend nötig.

Betrachtet man die Redeweise von Hirnforschern näher, so merkt man schnell: Sie ist eine Mischung aus Fachjargon und Alltagssprache. Das liegt auch daran, dass "Hirnforschung" keine einheitliche Wissenschaft ist, sondern ein Sammelbecken für ganz verschiedene Disziplinen. Viele Vertreter entlehnen ihr Vokabular teils aus anderen Fächern wie der Biologie oder der Physik und garnieren es mit so manchem unscharfen Begriff aus der Umgangssprache: Sie ­reden etwa davon, dass Nervenzellen "feuern" – obwohl das natürlich allenfalls metaphorisch zu verstehen ist. Kann eine solche Redeweise womöglich zu Fehlinterpretationen führen?

Eine Reihe von Philosophen sieht das genauso. Neuroforscher geraten durch ihre sprachlichen Importe leicht auf Irrwege, glaubt ­etwa ­Peter ­Janich, emeritierter Professor für theoretische Philosophie an der Universität Marburg. Zum Beispiel sei es problematisch, Begriffe aus der Nachrichtentechnik auf das Gehirn zu übertragen: Aktionspotenziale oder die Ausschüttung von Botenstoffen würden oft als "Signale" bezeichnet. Doch Signale können wahr oder falsch sein, sie tragen eine Bedeutung, so Janich. Signale übermittelt nur jemand, der anderen etwas mitteilen will, und der Empfänger wiederum versucht, die Botschaft zu verstehen.

Ein Nervensignal hingegen sei weder wahr noch falsch ...

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  • Quellen und Literaturtipp

Literaturtipp

Bennett, M., Hacker, P.: History of Cognitive Neuroscience. Blackwell, London 2013
Die beiden Hauptvertreter der Neuro-Sprachkritik legten 2013 eine umfassende Geschichte der Hirnforschung vor.


Quellen

Bennett, M. et al: Neurowissenschaft und Philosophie - Gehirn, Geist und Sprache. Suhrkamp, Berlin 2010

Bennett, M., Hacker, P.: Philosophical Foundations of Neuroscience. Blackwell, London 2003

Christen, M.: Die Entstehung der Hirn-Computer-Analogie. Tücken und Fallstricke bei der Technisierung des Gehirns. In: Klinnert, L., Marpus, P. (Hg.): Die Zukunft des menschlichen Gehirns. Ethische und anthropologische Herausforderungen der modernen Neurowissenschaften. Institut für Kirche und Gesellschaft, Schwerte 2011, S. 135-154

Janich, P.: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009

Keil, G.: Homunkulismus in den Kognitionswissenschaften. In: Köhler, W. R., Mutschler, H.-D. (Hg.): Ist der Geist berechenbar? WBG, Darmstadt 2003, S. 77-112

Lavazza, A., De Caro, M.: Not so Fast. On some Bold Neuroscientific Claims Concerning Human Agency. In: Neuroethics 3, S. 23-41, 2010

Slaney, K. L., Maraun, M. D.: Analogy and Metaphor Running Amok: An Examination of the Use of Explanatory Devices in Neuroscience. In: Journal of Theoretical and Philosophical Psychology 25, S. 153-172, 2005

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