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Theory of Mind: Literatur macht empathisch

Die Fähigkeit des Menschen, den Gefühlszustand anderer zu erkennen und zu verstehen, ist eine Grundvoraussetzung, um komplexe, soziale Beziehungen erfolgreich einzugehen. Defizite in dieser Fähigkeit, der "Theory of Mind", können zwischenmenschliche Probleme, aber auch psychische Störungen zur Folge haben. Emanuele Castano und David Kidd von der New School for Social Research in New York haben nun herausgefunden, dass das Lesen anspruchsvoller Literatur zumindest kurzfristig ein stärker ausgeprägtes Einfühlungsvermögen hervorruft als das Lesen von einfachen Romanen.

Um ihre Hypothese zu testen, teilten die Forscher die Studienteilnehmer in verschiedene Gruppen ein und ließen sie entweder einen Kurztext gehobener Literatur, populärer Erzählliteratur oder gar nichts lesen. Die Einteilung der Testpersonen – pro Experiment waren es um die 90 – geschah nach dem Zufallsprinzip. Ein Vergleich der Gruppen untereinander erfolgte, indem die Forscher alle Versuchspersonen fünf unterschiedlichen Tests unterzogen. Zum Beispiel der Test "Reading the Mind in the Eyes", bei dem die Teilnehmer Emotionen aus den Augen von schwarz-weiß fotografierten Schauspielern lesen sollten. Das Ergebnis: Testpersonen, die hochwertige Romane lesen mussten, deuteten danach die Emotionen besser als die Leser populärer Erzählliteratur oder jene, die nicht lesen durften. Bei allen fünf Experimenten konnte dieser temporäre Effekt beobachtet werden: Wer zuvor einige Seiten anspruchsvoller Literatur gelesen hatte, schnitt bei den Tests besser ab. All jene, die gar nichts oder lediglich Belletristik zu lesen bekamen, konnten Gefühle hingegen nicht besser deuten.

Castano und Kidd vermuten, dass literarische Texte die psychologischen Prozesse antreiben, die benötigt werden, um die Erfahrung der Figuren im Buch nachzuempfinden. Die Hauptfiguren anspruchsvoller Literatur seien meist komplizierte Individuen, mit Problemen, die sich kaum von Personen des wirklichen Lebens unterschieden. Um ihre Handlung nachvollziehen zu können, sei das gesamte Repertoire an Einfühlungstechniken gefragt. Popliteratur orientiere sich dagegen eher an Gewohnheiten und stereotypem Verhalten und trainiere diese Fähigkeiten dementsprechend weniger.

Um die Ergebnisse zu überprüfen, wollen die Forscher weitere Studien durchführen. Auch andere Aspekte der Literatur, wie Ästhetik oder stilistische Mittel, wollen die Forscher in den Fokus zukünftiger Forschung rücken. Sollte sich empirisch nachweisen lassen, dass anspruchsvolle Literatur positive Auswirkungen auf das Einfühlungsvermögen hat, könnte dies den Stellenwert von Kunst und Literatur untermauern. Bereits zuvor hatten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen dem Effekt von Literatur auf die Empathie des Lesers festgestellt.

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  • Quellen
Science 10.1126/science.1239918, 2013

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