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Tumorforschung: Zweifel an der Krebstheorie

Viele Krebsforscher haben eine klare Vorstellung davon, wie Tumoren Metastasen bilden. Doch womöglich sind sie auf dem Holzweg, meint eine Gruppe von Zweiflern.
Metastasen
Leicht fällt das sicher nicht: Hunderten von Kollegen klarzumachen, dass alle seit zehn Jahren in die falsche Richtung forschen. David Tarin hat auf der Jahrestagung der American Association for Cancer Research trotzdem ganz grundsätzlich die derzeit gängigste Hypothese in Zweifel gezogen, die Mediziner über den Krebs und das Streuen von Tumoren im Körper haben.

Tarin, Krebsforscher an der University of California in San Diego, bezweifelt die Theorie, dass Krebszellen erst dann von ihrem Ursprungsort aus in andere Körperregionen abwandern, wenn sie sich in einen Quasi-Urzustand rückprogrammieren – ein Stadium, das mobile Zellen auch im heranwachsenden Embryo aufweisen. Tatsächlich stützen einige Laborergebnisse diese Theorie. Das nährt zugleich die Hoffnung, Krebs in Zukunft genau hier unterbinden zu können und damit die Metastasenbildung – Todesursache für neun von zehn Krebspatienten – zu stoppen.

Tarin und einige andere Krebsforscher stimmt allerdings nachdenklich, dass den theoretisch postulierten Mechanismus bislang noch niemand beobachten konnte. Die Karriere eines Tumors beginnt oft in den Zellen der Deckgewebe eines Organs, also in Epithelzellen, die im Normalfall nicht beweglich sind. Einige Epithelzellen legen jedoch während der Embryonalentwicklung ein mobiles Stadium ein: Sie beginnen damit, so genannte Mobilitätsproteine herzustellen, und stoppen gleichzeitig die Produktion von Eiweißen, die den Zellverband zusammenhalten. Dabei entstehen bewegliche "mesenchymale" Zellen, die an die für sie bestimmten Orte im Embryo wandern. Womöglich können Forscher an ebendieser epithelialen mesenchymalen Transition (EMT) nützliches Wissen für die Krebsbekämpfung ableiten – etwa wie entartete Zellen sich von den benachbarten Gewebezellen lösen, um in den Blutkreislauf zu gelangen und neue Tumoren zu säen. "Ein Ansatz mit Charme", findet Pierre Savagner, Krebsforscher am Montpellier Cancer Research Institute in Frankreich, "der das Geschehen recht überschaubar machen kann."

Diese "EMT-Hypothese" war anfangs umstritten, bis Versuche an Mäusen zeigten, dass Metastasen tatsächlich häufiger werden, wenn man die EMT künstlich ankurbelt. Konzerne wie OSI Pharmaceuticals (mit Firmensitz in Melville, US-Bundesstaat New York) arbeiten genauso wie einige Universitäts-Forschergruppen schon jetzt an EMT-blockierenden Wirkstoffen als Basis eines Krebsmedikaments der Zukunft. "EMT ist ein zunehmend beliebtes Untersuchungsobjekt", bestätigt Shoukat Dedhar vom British Columbia Cancer Research Centre im kanadischen Vancouver. Der Tumorforscher wurde dabei erst nach und nach zum Anhänger der Hypothese, denn: "Immer mehr Daten belegen eine Rolle der EMT bei der Metastasenbildung."

Ein Epithelzelltumor metastasiert | Die Metastasierung eines Tumors in fünf Schritten: Zunächst sind die entarteten Epithelzellen des primären Tumors dicht gepackt und fest miteinander verbunden. Dann aber werden die Tumorzellen plötzlich beweglich und wandern in ein Blutgefäß, in dem sie zu anderen Geweben im Köper gelangen. Die Metastasen verlassen den Kreislauf und dringen in neues Gewebe vor. Dort verlieren sie ihre "mesenchymale" Beweglichkeit und bilden einen neuen Tumor.
Manche Kollegen bleiben indes skeptisch. Tarin zum Beispiel bereitet Kopfzerbrechen, dass die Hypothese vor allem durch Experimente in Zellkulturen und Versuchstieren Auftrieb erhalten hat – überzeugende Beweise für ihre Bedeutung bei der Metastasierung im Menschen fehlen derweil. Dabei hätten Pathologen schon in Millionen von Tumorproben nach Zellen gesucht, die sich gerade im Übergangszustand befinden – umsonst.

Unterschiedliche Vorstellungen

Bekannte Verfechter der EMT-Metastasen-Hypothese – etwa der Krebsforschungspapst Robert Weinberg vom Whitehead Institute for Biomedical Research in Cambridge, Massachusetts – haben dafür eine Erklärung: Vielleicht dauere eine EMT nur kurz und sei vorübergehend; eine metastasierende Zelle könne also womöglich ihre mesenchymale Eigenart verlieren, sobald sie in ein neues Gewebe eingedrungen ist. "Jede untersuchte Gewebeprobe eines Patienten ist nur ein Schnappschuss", ergänzt Krebsspezialist Gianluigi Gianelli von der medizinischen Abteilung der Universität Bari in Italien. "Den ganzen Film bekommen wir nie zu sehen."

Das lässt Tarin nicht gelten. Man könne auch behaupten, "Außerirdische sitzen gerade jetzt und hier unter uns, nur unsichtbar", meinte er in seinem Vortrag auf dem AACR-Meeting – "wir sehen sie nur deshalb nicht, weil wir nicht die richtige Brille aufhaben".

Auf der Linie des Kritikers Tarin sind auch ein paar Kollegen. Pierre Savagner weist etwa darauf hin, dass Proteine, die eine EMT-Aktivierung anzeigen, durchaus auch während anderer Prozesse aktiv sein könnten – vielleicht bei der Durchführung eines programmierten Zelltods. "Manch einer will einfach wahrhaben, dass Tumorzellen eine EMT durchlaufen – und übertreibt es mit der Tragfähigkeit des Konzepts", findet Savagner. Unterdessen warnt selbst Dedhar vor übertriebenen Erwartungen. So würden etwa in vielen Veröffentlichungen Resultate aus Zellkulturversuchen publiziert, doch es würde nicht überprüft, ob die dabei eingesetzten Zellen auch in Versuchstieren Metastasen bilden.

In Wirklichkeit wechselten die Zellen vielleicht gar nicht ihre zelluläre Identität, spekuliert Tarin mit einigen Mitstreitern: Die Zellen metastasieren stattdessen womöglich, sobald einzelne Mutationen die zellulären Mechanismen durcheinandergebracht haben, die zur Anbindung an die Nachbarzellen funktionieren müssen. Andere Forscher vermuten, dass sich ganze Zellpakete vom Tumor abschnüren, um dann in Klumpen weiterzuwandern.

Ein Schlüsselexperiment könnte die Streitfrage allerdings klären, erklärt Weinberg: Einzelne wandernde Krebszellen müssten dabei über ihre gesamte Entwicklung hinweg ganz genau verfolgt werden – also vom Augenblick ihres Absetzens vom Tumor bis zu dem Punkt, an dem sie ein neues Organ besiedelt haben. Dieses Experiment stelle jedoch sehr hohe technische Anforderungen, denn man könne zwar sowohl Primärtumoren untersuchen als auch Zellen, die sich in den Kreislauf abgesetzt haben – was aus den wandernden Zellen wird, sobald sie sich in ein Gewebe einnisten, sei dagegen, so Weinberg, "sehr schwer herauszufinden".

"Es bleibt ungeklärt, ob der EMT-Prozess wirklich unabdingbar für die Metastasenbildung ist", so Isaiah Findler vom M.D. Anderson Cancer Center im texanischen Houston. Man sollte allerdings Forschungen in diese Richtung nicht von vornherein ad acta legen. Eigentlich, so der Tumormediziner, sollte man in der Krebsbekämpfung besser gar keinen Ansatz ad acta legen.

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