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Umweltschutz: Strahlendes Paradies?

Menschenleere Wildnis, Bären, Wölfe, Adler, fischreiche Seen: Zumindest der Natur, scheint es, hat der Reaktorbrand von Tschernobyl aus dem Jahr 1986 nicht geschadet. Oder etwa doch?
Langsam zerfallen die Häuser in Prypjat, Putz bröckelt, Spielplätze werden überwuchert, Birken durchstoßen den Asphalt der Straßen. Ein verlassener Rummelplatz mit Riesenrad und Karussell rostet vor sich hin. Außer vereinzelten Militärstreifen, Wissenschaftlern und dem einen oder anderen – illegalen – Siedler ist nichts zu sehen. Prypjat ist verbotenes Gebiet, in dem sich eigentlich nur aufhalten darf, wer eine spezielle Genehmigung vorweisen kann. Denn die Stadt liegt innerhalb der 30-Kilometer-Zone rund um den havarierten Kernreaktor von Tschernobyl, die kurz nach der nuklearen Katastrophe vom 26. April 1986 evakuiert wurde, um die Bevölkerung vor radioaktiver Kontamination zu schützen.

Prypjat im "radioökologischen Reservat" | Die Stadt Prypjat musste bald nach dem Reaktorbrand in Tschernobyl vollständig evakuiert werden, um die Bevölkerung vor der Strahlung zu schützen. Heute wird sie zunehmend von der Wildnis zurückerobert.
Mehr als 350 000 Menschen mussten unmittelbar oder im Laufe der Jahre nach dem Unfall ihre Häuser verlassen und durften bis heute nicht zurückkehren. Der zeitweilige Besuch ist ohne Erlaubnis genauso wenig erlaubt wie generell Jagen oder Landwirtschaft. Doch wo der Mensch weichen musste, kehrt die Natur eindrucksvoll zurück: Über hundert als bedroht eingestufte Tierarten tummeln sich inzwischen in dem Gebiet, das die Ukraine und Weißrussland mittlerweile als "radioökologisches Reservat" unter Schutz gestellt haben. Selbst andernorts rare Raubtiere wie Bär, Luchs und Wolf haben hierher gefunden – Indikatoren, dass es auch der restlichen Tierwelt gut gehen muss, fassen es Wissenschaftler um Jim Smith von der Universität Portsmouth zusammen.

Strahlende Zukunft für Vögel?

Eine Einschätzung, die Anders Møller von der Universität Pierre et Marie Curie in Paris und seine Kollegen nicht so ganz teilen können [1]. Sie hatten untersucht, welche Auswirkungen die Strahlung auch noch über zwanzig Jahre nach dem Unglück auf die lokale Fauna haben könnte. Farbenprächtige Arten wie Pirol oder Blaumeise mit hohem Gelbanteil im Federkleid litten beispielsweise stärker unter der freigesetzten Strahlung als eher unscheinbar gefärbte Baumpiper, Tannenmeisen oder Buchfinken, in deren Gefieder Braun- oder Grautöne dominieren. Gleiches gilt offensichtlich für Fernzieher wie Wachteln, Wiedehopfe und Rotkehlchen, deren Bruterfolg verglichen mit jenem von Standvögeln deutlich schwächer ausfiel, während sie sich in unbelasteten Zonen kaum unterschieden.

Wildpferde | In dem von Menschen verlassenen Gebiet entwickelte sich eine artenreiche Wildnis, in der heute wieder Wölfe, Luchse und Adler trotz der radioaktiven Belastung leben. Auch verwilderte Pferde sind dort anzutreffen. Zumindest bei Vögeln zeigt sich aber eine gesundheitliche Belastung durch die immer noch radioaktive Strahlung.
Eine weitere ihrer Studien an Rauchschwalben, die rund um den havarierten Kernreaktor von Tschernobyl leben, deckte auf, dass diese überdurchschnittlich oft an Missbildungen wie verkümmerten Schwanzfedern oder deformierten Schnäbeln leiden. Weiße Flecken sprenkeln bei ihnen häufiger das Gefieder, wo schiefergraue oder rote Töne vorherrschen sollten, als bei Artgenossen aus unbelasteten Regionen. Und schließlich leben die Vögel im Dauerfeuer des immer noch stattfindenden radioaktiven Zerfalls, kürzer als durchschnittlich zu erwarten wäre.

Fatal wirkt sich für die bunten Vögel und die Fernreisenden wohl ihr erhöhter Bedarf an Karotinoiden aus: Die Farbpigmente kolorieren zum einen gelbe, orange und rote Feder- oder Schnabelpartien und wirken gleichzeitig als Antioxidanzien im Immunsystem. Erhöhter Verbrauch schwächt daher die Gesundheit, denn Rauchschwalbe, Blaumeise oder Wiedehopf bleiben weniger antioxidativ wirkende Substanzen im Blut, um so genannte freie Radikale zu neutralisieren. Diese entstehen unter anderem durch radioaktive Strahlung und sind besonders reaktionsfreudig, schädigen Zellen oder das Erbgut. Eskaliert diese Entwicklung, steht am Ende eine gestresste Gesundheit oder Krebs. Lebenserwartung, Bruterfolg und Bestandsdichte sinken.

Die Schlussfolgerung, Tschernobyl sei ein prosperierendes Ökosystem, lässt sich konsequenterweise nicht halten, meint Møller. Und weiter: "Entsprechende Aussagen der Weltgesundheitsorganisation und der Internationalen Atomenergiebehörde beruhten auf anekdotischen Beobachtungen."

Mutationen nur ein Kollateralschaden?

Verwilderte Städte | Nach der Evakuierung rund um den Reaktor verwilderten die Städte und Dörfer der Region wieder.
Dem widerspricht nun wieder Jim Smith, der den Rückgang der Rauchschwalben nicht auf radioaktive Strahlung zurückführt [2]. Er betrachtet die Vögel eher als Kollateralschaden Tschernobyls, deren Zahl als Kulturfolger zurückgeht, weil die Menschen die Zone verlassen mussten und deshalb die Landwirtschaft zum Erliegen kam. Statt Weideland wuchern jetzt Dickichte und junge Wälder, Gebäude stürzen ein und vernichten Brutmöglichkeiten – für Arten des Offen- und Kulturlandes, wie es Rauchschwalben sind, ein negativer Einfluss, meint Smith. Das Schwinden entsprechend angepasster Arten wäre daher ein natürlicher Vorgang, dem wachsende Zahlen an Waldbewohnern wie dem Schwarzstorch, Rothirschen oder Wölfen gegenüberstünden.

Er wirft seinen Kollegen zudem vor, dass sie in ihrer Beweisführung unsachgemäß vorgegangen seien. Sie hätten beispielsweise unterschiedlich belastete Standorte rund um Tschernobyl statistisch zu einer Gruppe zusammengefasst und mit einer unbelasteten Region verglichen, obwohl die Kontaminierung auf einzelnen Flächen in der Verbotszone um den Faktor 100 schwanken kann – zumal sich die Gesamtstrahlung seit 1986 halbiert hat und ihr Einfluss auf die Mutationsrate sinkt. Außerdem, so Smith, wurden nicht immer die gleichen Standorte seit 1991 untersucht, sodass ein Vergleich der körperlichen Schäden über Raum und Zeit unzulässig sei.

Rauchschwalben aus Tschernobyl | Rauchschwalben, die rund um den havarierten Kernreaktor von Tschernobyl leben, leiden überdurchschnittlich oft an Missbildungen wie verkümmerten Schwanzfedern (Bilder h und i) oder deformierten Schnäbeln (e,f) als Artgenossen aus unbelasteten Gebieten (a). Gleichzeitig treten bei ihnen häufiger weiße Flecken im Gefieder auf, wo schiefergraue oder rote Töne vorherrschen sollten.
Untersuchungen von James Morris von der Universität in South Carolina in Columbia bestätigen zwar, dass es zumindest anfänglich sehr viele Erbgutschäden und Missbildungen bei Fischen und anderen Tieren auftraten. Sie überleben jedoch kaum bis ins Erwachsenenalter, sodass sich die negativen Einflüsse nicht über Generationen hinweg fortpflanzen, sondern allenfalls immer wieder neu – in abnehmender Zahl – ausbilden. Morris: "Dort läuft Evolution unter Doping ab, so schnell geht es." Sein Kollege Viktor Dolin von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiew springt ihm bei, denn wichtige radioaktive Elemente wie Cäsium-137 haften seinen Forschungen zufolge an Bodenpartikeln und reichern sich nicht schädigend in Tieren und Pflanzen an.

Anders Møller kontert: "Smith verbreitet, dass die Tierbestände in Tschernobyl prosperieren, was aber nur auf anekdotischen Berichten und auf empirischen Studien basiert." Mutationen und Körperschäden beträfen auch andere Vögel wie Hausrotschwänzchen und Haussperlinge und nicht nur die Rauchschwalben, führt der Biologe weiter aus. Fehlbildungen in so hoher Zahl und derartige Misserfolge bei brütenden Schwalben wurden zudem außerhalb des verseuchten Geländes noch nirgends nachgewiesen, was ebenfalls für den weiterhin schädigenden Einfluss der Radioaktivität spräche.

In einem sind sich aber beide Seiten einig: Zukünftig müssen noch mehr ökologische Studien rund um den Reaktor stattfinden, um endlich eine gesicherte Datenbasis zu bekommen. James Morris spricht denn auch von einem auf seine Art "fantastischen Experiment". Immerhin zieht der wilde Charakter des radioökologischen Reservats bereits Besucher an – und die Vereinten Nationen sehen Naturtourismus als alternative Einkommensquelle für die geplagte Bevölkerung rund um das Kernkraftwerk.

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