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Verhaltensforschung: Erschütternde Wegweiser

Als Kundschafter schwärmen einzelne Buckelzirpen aus, um neue Nahrungsquellen in Form von frischem Blattgrün zu erschließen. Verläuft die Expedition erfolgreich, so rufen sie ihre Familienmitglieder herbei - mithilfe von Vibrationssignalen.
<i>Calloconophora pinguis</i>
In tropischen Wäldern setzen insbesondere Insekten den Pflanzen arg zu: Während die einen Arten genüsslich an den Blättern kauen, zapfen die anderen die Leitungsbahnen des Phloems an, in denen Zucker und andere organische Nährstoffe zirkulieren. Und für ihre Fressorgien suchen die Schädlinge bevorzugt junge Blätter heim, die reich an Stickstoff und Wasser sind. Doch diese wertvollen Futterquellen sprudeln nur für kurze Zeit: Denn die Gewächse treiben neues Grün mitunter sehr rasch aus – eine raffinierte Strategie, um die unerwünschten Gäste auszutricksen.

Calloconophora pinguis | Die Pflanzensaft-saugenden Buckelzirpen der Art Calloconophora pinguis zapfen gerade einen neuen Spross ihrer Wirtspflanze Piper reticulatum an. Ist ihre Futterquelle versiegt, schwärmen Individuen aus der Geschwister-Gruppe als Kundschafter aus. Verläuft die Expedition erfolgreich, so rufen sie ihre Familienmitglieder mithilfe von Vibrationssignalen herbei.
Zu den Pflanzensaft saugenden Insekten zählen auch die Buckelzirpen der Art Calloconophora pinguis, die den Großteil ihrer Lebenszeit in Gesellschaft verbringen: Nach dem Schlüpfen aus dem Ei verharren sie zunächst mit ihren bis zu achtzig Geschwistern in dichten, stationären Gruppen. Getrennte Wege gehen die Individuen erst, nachdem sich die Larven in erwachsene Tiere verwandelt haben. Während dieser einmonatigen Entwicklungszeit sind die Familienmitglieder jedoch gezwungen, einmal oder mehrfach umzuziehen – und legen dabei Strecken von 10 bis 175 Zentimetern zurück.

Ein Ortswechsel ist unbedingt erforderlich, wenn die kurzlebigen Nahrungsquellen an der Basis von jungen, expandierenden Blättern zu versiegen drohen. Doch wie finden die Zikaden in dem komplexen dreidimensionalen Labyrinth ihrer Wirtspflanzen zu neuen, ergiebigen Futterstationen? Wie Laborbeobachtungen an vier Gruppen bei abnehmender Nahrungsqualität zeigten, brechen die Familien nicht als Ganzes auf. Stattdessen machen sich ein bis mehrere Individuen als Späher auf den Weg.

Entdeckt die Vorhut auf Erkundungstour eine geeignete Futterstelle, so muss sie die Geschwister über ihren Fund verständigen. Aber wie? Bereits bekannt ist, dass die Buckelzirpen Vibrationen aussenden, die entlang von Stängeln und Blättern ihrer Wirtspflanze übertragen werden. Ein gängiges Insekten-Kommunikationssystem, das sich Reginald Cocroft vom Smithsonian Tropical Research Institute mithilfe mehrerer Experimente im Nationalpark Soberanía in Panama genauer anschaute.

Um zu überprüfen, ob die Tiere auf ihren Inspektionen derartige Signale einsetzen, platzierte der Forscher zwei Zikadenlarven derselben Familie und desselben Stadiums auf zwei eng benachbarten, 15 bis 25 Zentimeter langen Stängeln derselben Pflanze – je eine Nymphe auf einen Ast mit wachsendem Blatt und eine auf einen nicht austreibenden Zweig. Mit einem Schwingungssensor zeichnete er dann die Antworten der Insekten innerhalb der ersten fünf Minuten auf.

Tatsächlich: Die Larven produzierten über 14-mal häufiger Vibrationen auf Stängeln mit Blattentfaltung als auf solchen ohne. Insgesamt traten 93 Prozent der Signale an Ästen mit Grünwachstum auf. Die Vibrationen setzten ein, sobald die Zikaden auf das neue Blatt gestoßen waren und ihre saugenden Mundwerkzeuge eingeführt hatten. So weit, so gut. Doch beeinflussen diese Signale auch das Verhalten von Artgenossen?

Die Antwort auf diese Frage lieferten Nymphen, die der Wissenschaftler einzeln auf ein breites Blatt einer Wirtspflanze setzte und entweder mit aufgezeichneten Vibrationen einer Zikade oder Kontrolllärm derselben Amplitude und Dauer beschallte. Das Ergebnis: Die natürlichen Signale lösten wesentlich effektiver als die künstlichen Geräusche das charakteristische Suchverhalten – kurze Geh-Phasen unterbrochen durch bewegungslose Pausen – bei den Larven aus.

Um herauszufinden, ob sich Individuen auch der Quelle der Vibrationen annähern, benutzte der Forscher ein Y-förmiges Labyrinth in Form einer Astgabel. Von den Stängeln entfernte er sämtliche Blätter bis auf jene an der Spitze. Anschließend setzte er eine Nymphe an die Basis vor der Abzweigung und beobachtete zunächst deren Verhalten ohne Geräuschkulisse. Dann testete er, wie die Zikaden auf Vibrationssignale eines Geschwistertieres reagierten, die er ihnen fünf Minuten lang von der einen Seite des Y und nach einer 20-minütigen Pause von der anderen Seite vorspielte.

Eindeutig näherten sich die Larven der Quelle der Signale: Von 26 getesteten Individuen verbrachen 24 mehr Zeit suchend auf dem Y-Arm, von dem die Vibrationen ausgingen. In etwa 73 Prozent der Fälle trafen die Zikaden an der Weggabelung die richtige Entscheidung. Schlugen sie indes die entgegen gesetzte Richtung ein, stoppten sie oftmals einige Zentimeter nach der Abzweigung, kehrten um und wählten den Ast, von dem die Signale herrührten.

In einem weiteren Experiment untersuchte der Wissenschaftler, wie sich einzelne Zikaden auf einem Stängel mit auswachsendem Trieb verhalten, wenn sie dort auf einen Signale aussendenden Artgenossen treffen. Zunächst begannen die Neuankömmlinge abgestimmt auf die Vibrationen voran zu schreiten. Waren sie schließlich an der Futterstelle angelangt, signalisierten sie synchron mit dem ersten Individuum.

Während des Umzugs von einer Nahrungsquelle zu einer anderen verkünden die Späher also ihre Entdeckung durch Vibrationen, die durch die Pflanze reisen. Alarmierte Familienmitglieder strömen herbei und stimmen mit dem eigenen Signal in das Konzert des bereits bestehenden Zikaden-Chores ein. Und diese Aufführung endet erst dann, wenn alle Angehörigen der Gruppe zu der neuen Lokalität gelockt wurden, betont Cocroft. Folglich ermöglicht die Evolution eines komplexen sozialen Kommunikationssystems den Buckelzirpen eine wertvolle, aber flüchtige Pflanzenressource effektiv auszubeuten.

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