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Verstrahlte Gewebeproben: Jäger der vergessenen Archive

Im Kalten Krieg wurden zahllose Tieren zu Forschungszwecken bestrahlt. Jetzt gilt es, die Proben vor der Tonne zu retten. Denn sie könnten viel über Strahlenkrankheiten verraten.
Verrostetes Atommüllfass

Die Stadt Ozersk in den abgelegenen Gebieten des südlichen Urals birgt die Relikte eines riesigen Geheimexperiments: Von Anfang der 1950er Jahre bis zum Ende des Kalten Kriegs wurden nahezu 250 000 Tiere systematisch mit ionisierender Strahlung bestrahlt. Einige wurden Alpha-, Beta- oder Gammastrahlung ausgesetzt. Andere wurden mit Nahrung gefüttert, die mit radioaktiven Stoffen versetzt waren. In einigen Fällen war die Dosis so hoch, dass die Tiere sofort starben, in anderen so gering, dass sie harmlos erschien. Nach dem Tod der Tiere – Mäuse, Ratten, Hunde, Schweine und ein paar Affen – entnahmen ihnen die Wissenschaftler Gewebeproben. Welche Schäden hatte die Radioaktivität verursacht? Die Forscher fixierten Teile von Lunge, Herz, Leber, Gehirn und weiteren Organen in Paraffin, fertigten dünne Schnitte an und legten sie unter das Mikroskop. Ganze Organe konservierten sie in Gläsern mit Formalin.

Es war die Angst vor einem Atomangriff der Vereinigten Staaten, die die Sowjetunion zu diesem Forschungsprogramm trieb. Aber auch die Sorge um heimische Unfälle wie das Unglück am Atomkraftwerk Mayak in der Nähe von Ozersk im Jahr 1957 spielte eine Rolle. Bei ihren Experimenten konservierten die Wissenschaftler das Gewebe mit äußerster Sorgfalt und hielten ihre Ergebnisse akribisch fest. Ähnliche Archive legten Forscher in den USA, in Europa und Japan an – insgesamt wurden dazu fast eine halbe Milliarde Tiere geopfert. Als dann das Ende des Kalten Kriegs kam, schwand das Interesse: Die Sammlungen wurden sich selbst überlassen und begannen zu verfallen.

"Wir können Tierversuche in dieser Größenordnung niemals wiederholen."Gayle Woloschak

Bis sie plötzlich die Aufmerksamkeit einer neuen Generation von Radiobiologen weckten. Ihnen ging es weniger um die Folgen eines Nuklearkriegs als vielmehr um die Auswirkungen deutlich geringerer Strahlendosen. Wer sich einer Computertomografie unterzieht oder in der Nähe von den beschädigten Atomreaktoren im japanischen Fukushima wohnt, ist üblicherweise einer Dosis von unter 100 Millisievert (mSv) ausgesetzt. Wie der Organismus darauf reagiert, wollen die Forscher mit Hilfe der alten Sammlungen herausfinden – einer Ressource, die sie selbst niemals erzeugen könnten. Die meisten Experimente fanden unter präzisen Bedingungen statt und mit einer großen Bandbreite von Strahlungsdosen, welche die Tiere meist ein Leben lang erhielten.

"Wir können Tierversuche in dieser Größenordnung sowohl aus finanziellen als auch ethischen Gründen niemals wiederholen", erklärt Gayle Woloschak, eine Radiobiologin der Northwestern University in Chicago. Daher haben sich in den letzten Jahren Forscherteams aus aller Welt zusammengetan, um die Archive sämtlicher großen Strahlenexperimente ausfindig zu machen und deren Erhalt zu sichern. Auch dank der Unterstützung großer öffentlicher Geldgeber wie der Europäischen Kommission, des US-amerikanischen National Cancer Institutes und des US-Energieministeriums.

Was taugen die Proben?

Die größte Herausforderung steht ihnen jedoch noch bevor. Es gilt nachzuweisen, dass Alter und Konservierungsmethoden die DNA, RNA und Proteine der Proben unangetastet ließen. Nur anhand dieser Molekulardaten lässt sich nämlich herausfinden, ob die Zellkreisläufe bei niedriger Strahlungsdosis Schaden nehmen. Anfängliche Tests ergaben, dass immerhin einige der Proben noch verwendbar sind. Sie machen aber auch schmerzlich bewusst, wie viel des so mühsam gesammelten Materials bereits verloren ging.

Als sich bei den alternden Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki und den verseuchten Arbeitern von Mayak eine überdurchschnittliche Häufigkeit von kardiovaskulären Erkrankungen zeigte [1, 2], wurde deutlich, dass Strahlung nicht nur Krebs verursacht. Es ist jedoch unbekannt, ob und wie äußerst geringe Strahlungsmengen das Risiko dieser und anderer Erkrankungen erhöhen können. Biologen gingen bisher davon aus, dass die Schäden proportional zur Dosis auftreten. In-vitro-Experimente haben jedoch gezeigt, dass Zellen in der Lage sind, moderate Strahlenschäden am Erbgut selbst zu beheben, und dass gering dosierte Strahlung Zellen sogar gegen zukünftige Risiken schützen könnte.

"Vielleicht gibt es einen Grenzwert, unter dem die Strahlendosis nicht mehr schädlich ist", mutmaßt Wolfgang Weiß, der Leiter des Fachbereichs Strahlenschutz und Gesundheit beim Bundesamt für Strahlenschutz in München. Auch epidemiologische Studien an Personen, die auf Grund ihres Berufs oder durch Atomunfälle und medizinische Behandlungen Strahlung ausgesetzt waren, konnten bisher nur wenig Licht in diese Angelegenheit bringen. Einige der Untersuchungen umfassten zu wenige Teilnehmer, um eine möglicherweise nur minimale Erhöhung des Krankheitsrisikos feststellen zu können, in anderen Fällen ließ sich die erhaltene Dosis nicht genau bestimmen.

"Die russischen Wissenschaftler waren so froh, dass endlich überhaupt jemand Notiz von der Sammlung nahm."Soile Tapio

Strahlenschutzbehörden begrenzen zwar typischerweise die berufliche Strahlenbelastung zum Beispiel für die Atomindustrie auf einen Durchschnittswert von 20 mSv im Jahr. Aber gibt es überhaupt eine Strahlenintensität, die wirklich sicher ist? Der Wissenschaft fehlen im Allgemeinen die harten Fakten, um Schlussfolgerungen mit derart weit reichenden Konsequenzen ziehen zu können. Das alte tierische Gewebe könnte hier einige Antworten liefern.

Schatzsuche im Ural

Im Februar 2007 führte die Suche nach solchem Gewebe Soile Tapio im Auftrag eines der ehemaligen deutschen Strahlenforschungszentren, dem Helmholtz Zentrum in München, ins dunkle, kalte Ozersk. Tapio war Mitarbeiterin des Programms Promotion of the European Radiobiology Archives (ERA-PRO), das zu dem 1996 gestarteten Versuch gehört, die Daten der europäischen Strahlenexperimente zu digitalisieren. 2006 machte der Leiter des Tierbestrahlungsprogramms des Biophysikalischen Instituts im südlichen Ural (SUBI) in Ozersk die Forscherin auf den enormen Umfang der dort durchgeführten Untersuchungen aufmerksam. "Damals kannten wir von SUBI nicht viel mehr als den Namen", erinnert sich Tapio. Sie ahnte nicht, was auf sie zukam, als sie sich mit ihrer kleinen ERA-PRO-Delegation auf den Weg machte.

Es hatte bereits Monate gedauert, von Russland eine Genehmigung zum Besuch der gesperrten Stadt Ozersk zu erhalten. Nach einem langen Flug, drei Stunden Fahrt und einer ausführlichen Sicherheitsprüfung führte ein Grüppchen betagter Wissenschaftler die Delegation in ein verlassenes Haus mit löchrigem Dach und zerbrochenen Fensterscheiben. Gläserne Objektträger und Laborbücher lagen in einigen Büros auf dem Boden verstreut. Andere, beheizte Räume enthielten jedoch Holzkisten voll mit Objektträgern und in Plastik verpackten Wachsblöcken.

In seiner Blütezeit verfügte das Projekt über mehr als 100 Mitarbeiter. Aber als es nach Ende des Kalten Kriegs plötzlich eingestampft wurde, blieben nur vier oder fünf als Aufpasser für die Sammlung übrig. Die Besucher waren beeindruckt, wie genau diese Wissenschaftler noch wussten, welche der Proben von 23 000 Tieren welchem Protokoll und welchen Experimenten zuzuordnen war. "Die Wissenschaftler waren so froh, dass endlich überhaupt jemand Notiz von der Sammlung nahm", erzählt Tapio. "Sie sagten mir immer wieder, dass sie alles noch in Ordnung bringen wollten, bevor sie sterben."

Zur gleichen Zeit gab es eine weitere Geweberettungsaktion in den USA. Mitte der 1990er Jahre arbeitete Woloschak mit Proben von 7 000 Beagles und 50 000 Mäusen, die zwischen 1969 und 1992 bei Versuchen im Argonne Research Laboratory in Illinois bestrahlt worden waren. Nach ihrem Wechsel an die Northwestern erfuhr sie zu ihrem Unmut, dass alle Proben weggeworfen werden sollten. Beim US-Energieminsterium holte sie daraufhin die Genehmigung ein, die Sammlung in der Northwestern zu lagern.

Entsorgungswut

"Als die Kollegen erfuhren, dass ich das ganze Argonne-Material hatte, fragten sie mich, ob ich mich nicht auch um ihre Proben kümmern könnte", berichtet Woloschak. Die Northwestern University ist heute offizielle Heimat für Materialien aller US-Strahlenversuche an Tieren – etwa 20 000 Proben, schätzt die Forscherin. Sie musste allerdings auch feststellen, dass viele Institute bereits kurzen Prozess gemacht hatten, darunter das Oak Ridge National Laboratory, das die Materialien seiner umfangreichen Versuchsreihen an Mäusen entsorgt hatte. Auch die Proben aus einer groß angelegten Hundestudie der University of California in Davis landeten im Mülleimer.

Woloschak war "frustriert und wütend, dass die Regierung viele Millionen Dollar und enorme Arbeitskraft in diese Studien investiert hat und dann das Ergebnis einfach wegwerfen will – aus Platzgründen." Aber auch andernorts wurden Gewebesammlungen vernichtet, unter anderem von Versuchen der Hiroshima-Universität in Japan, der nationalen italienischen Energie- und Umweltagentur in Casaccia und des Medical Research Council im britischen Harwell.

Den Wissenschaftlern ist bewusst, dass mit dem Aufspüren der alten Gewebeproben nur die erste Hürde genommen ist. Danach müssen sie herausfinden, ob im Material immer noch Biomoleküle entdeckt und gemessen werden können. Ziel ist es, die von geringen Strahlendosen betroffenen Stoffwechselwege zu identifizieren und zu analysieren. So soll sich zeigen, wie und ob sich Zellen an die Belastung anpassen und wodurch sich Krankheiten entwickeln. Außerdem sind die Forscher auf der Suche nach Mustern in den Biomolekülen, mit denen sich bestimmen lässt, welcher Strahlendosis ein Individuum ausgesetzt war und ob er oder sie besonders anfällig für Strahlenerkrankungen ist.

Woloschaks Arbeit an den alten Argonne-Mausproben in den 1990er Jahren lassen hoffen. Mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion zur Vervielfältigung von Genmaterial konnte sie zum Beispiel Mutationen oder Umstellungen in krebsspezifischen Genen finden. Das legt nahe, dass das bestrahlte Tier an Krebs erkrankt wäre [3]. Mittlerweile hat Tapio einige Standardmethoden der Proteinanalyse so angepasst, dass sie für die alten Gewebeproben verwendet werden können. Kollegen von ihr untersuchen, ob die Proben mikroRNA-Stränge enthalten, die die Genexpression steuern und relativ stabil sind.

Startschuss für die Forschung

Wenn es nach den Wissenschaftlern geht, könnte die systematische Erforschung der Gewebeproben sofort beginnen. Tapio wird zum Beispiel mit der Arbeit an paraffinfixiertem Herzgewebe von bestrahlten Mäusen aus den alten russischen und amerikanischen Studien beginnen. Sie möchte Anzeichen für Schäden ausfindig machen, die erklären könnten, warum bei Überlebenden der Atombomben das vermehrte Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen zu beobachten war. "Die Wissenschaftler, die an diesen Studien gearbeitet haben, interessierten sich nur für Krebs. Wir können heute jedoch auch auf andere Krankheiten achten, von denen wir wissen, dass sie relevant sind", erklärt sie.

Niemand erwartet schnelle oder einfache Antworten. Die Studien könnten viele molekulare Reaktionen aufdecken, die nur wenig mit Krankheiten zu tun haben. "Die Stressreaktion einer Zelle auf jede Strahlendosis, welche die Zelle nicht schlichtweg grillt, ist eine komplizierte Abfolge von Aktivitäten, bei der wahrscheinlich viele verschiedene Stoffwechselwege mitwirken", so Tapio. Radiobiologen erwarten zudem, dass der Grenzwert für eine "sichere" Dosis von Gewebe zu Gewebe und von Mensch zu Mensch variiert.

Zumindest wurden jedoch die Gewebe in Ozersk in Ordnung gebracht, wie es sich ihre Hüter erhofft hatten. Sie werden bald zusammen mit menschlichem Gewebe der strahlenbelasteten Mayak-Arbeiter in ein modernes Lagerhaus verlegt, das derzeit auf dem SUBI-Campus gebaut wird. Das Tiergewebe, so hoffen die Forscher, wird neuen Versuchsreihen zugeführt – dieses Mal auf internationaler Ebene.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Radiation risks: Raiders of the lost archive" in Nature 485, S. 162-163, 2012

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  • Quellen

[1] Little M.P. et al.: Review and meta-analysis of epidemiological associations between low/moderate doses of ionizing radiation and circulatory disease risks, and their possible mechanisms. In: Radiation and Environmental Biophysics 49, S. 139–153, 2010

[2] Azizova, T.V. et al.: Cerebrovascular diseases in nuclear workers first employed at the Mayak PA in 1948–1972. In: Radiation and Environmental Biophysics 50, S. 539–552, 2011

[3] Haley, B. et al.: Past and Future Work on Radiobiology Mega-Studies: A Case Study At Argonne National Laboratory. In: Health Physics 100, S. 613–621, 2011

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