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Viehzucht: Der kluge Bauer füttert den Wurm

Weltweit untersuchen Wissenschaftler und Unternehmer, wie man Insekten zu Tierfutter verarbeiten kann. Damit erschließen sie eine dringend benötigte neue Proteinquelle.
Insektenlarven, schmackhaft angerichtet

Ihre Mundwerkzeuge sind zu Haken umgeformt, damit sie besser vorwärtskriechen können – vorwärts zur nächsten Futterquelle: Gammelfleisch, Hühnermist, Ketschup, verrottendes Obst, verschimmeltes Brot. Denn sie fressen alles und sie fressen immer, täglich das Doppelte ihres Körpergewichts: Fliegenmaden. Und sie tun dies, bis man sie schockgefriert oder kocht, um sie danach zu trocknen und zu zerreiben. Das fertige Produkt ist ein bräunliches Madenmehl.

Das auf den ersten Blick wenig appetitliche Pulver könnte aber die Tierzucht des 21. Jahrhunderts revolutionieren und weckt entsprechend viel Hoffnung. "Insekten wandeln jeglichen organischen Abfall in hochwertige Proteine um", sagt Marcel Dicke, Entomologe an der Universität Wageningen in den Niederlanden: "Wir haben diese Möglichkeit der Proteinproduktion viel zu lange außer Acht gelassen."

"Proteine aus Fliegenlarven sind hochwertiger als die aus Soja"Elaine Fitches

Das ist nicht mehr länger der Fall. Weltweit laufen Versuche, wie man Insekten in großem Stil zu Tierfutter verarbeiten kann. Denn die Proteinversorgung ist zu einem drängenden Problem geworden: Die wachsende Weltbevölkerung verlangt nach Nahrung. Laut Berechnungen der vereinten Nationen muss allein die Weizenproduktion bis 2050 um 60 Prozent steigen, um die bis dahin gut neun Milliarden Menschen satt zu machen. Auch der Fleisch- und Fischkonsum steigt besonders in den Entwicklungsländern stetig an. Bevor Hühnerbrust und Lachssteak jedoch auf dem Teller landen, müssen die Tiere fressen – und zwar ebenfalls reichlich Proteine, etwa in Form von Soja- oder Fischmehl. So gewaltig ist der Fleischhunger, dass heute schon 85 Prozent der weltweiten Sojaproduktion von 210 Millionen Tonnen im Kraftfutter landen und 20 Millionen Tonnen kleine Meeresfische jährlich zu Fischmehl verarbeitet werden. Das entspricht etwa einem Viertel der weltweiten Fangmenge von Fischen und Meeresfrüchten und macht Edelfische, Hühner und Schweine, die zur Ernährung des Menschen gedacht sind, auch noch zu unseren direkten oder indirekten Nahrungskonkurrenten.

Antwort auf steigende Preise

Das Problem verschärft sich zudem: Die Fläche an fruchtbarem Land nimmt durch den Klimawandel und die fortschreitende Verstädterung ab, das Meer ist überfischt. Entsprechend sind die Preise für Weizen, Soja und auch Fischmehl in den vergangenen Jahren explodiert. Vor diesem Hintergrund erscheint die Insektenzucht – Ekelfaktor hin oder her – als genialer Ausweg: Die Sechsbeiner warten nicht nur mit wertvollen Proteinen auf, sie ernähren sich auch vielfach von Abfall, einer schier unendlichen Ressource. Allein in der Europäischen Union werden jährlich 90 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Doch lassen sich Insekten massenweise produzieren? Und ist das daraus gewonnene Tierfutter qualitativ vergleichbar mit dem Soja- oder Fischmehl?

Insektenlarven, schmackhaft angerichtet | Sie sind gefräßig, Energiebomben und delektieren sich gerne an organischen Abfällen: Fliegenmaden vereinen – allem Ekel zum Trotz – eine Reihe positiver Eigenschaften in sich. Bald könnten sie die Viehzucht revolutionieren und auf umweltfreundlichere Beine stellen.

Elaine Fitches, von der staatlichen britischen Nahrungsmittelforschungsagentur Fera, koordiniert das Projekt PROteINSECT, das die EU mit drei Millionen Euro fördert. "Wir wollen den Nachweis erbringen, dass Insektenproteine eine sichere, nachhaltige und wirtschaftliche Futterquelle sind", sagt Fitches: "Proteine aus Fliegenlarven sind hochwertiger als die aus Soja und vergleichbar mit denen aus Fisch." Sie und ihre Kollegen untersuchen unter anderem, wie die Massenproduktion von Insekten automatisiert werden kann. "Insekten zu züchten, mag einfach klingen, aber um das im industriellen Maßstab wirtschaftlich zu machen, braucht es noch einige Arbeit", so Fitches.

Die Forscher feilen an Faktoren wie Temperatur, Licht, Luftfeuchtigkeit und vor allem der Nahrungsbeschaffenheit: Wie muss der Abfall zusammengesetzt sein? Wie feucht darf er sein? Lässt er sich lagern? Und so weiter. Auch die potenziellen Risiken der Proteinproduktion – etwa Verunreinigungen mit Chemikalien oder Keimen – nehmen Fitches und ihre Kollegen unter die Lupe.

Andreas Stamer und seine Kollegen vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau in der Schweiz haben schon erste praktische Erfahrungen. Sie untersuchten in einem dreijährigen Projekt, inwieweit Fliegenmadenmehl herkömmliches Fischmehl in der Forellenzucht ergänzen kann. Ihre Ergebnisse: Bis zu 50 Prozent des Fischmehls lassen sich durch die Maden ersetzen. Die "Fliegen-Forellen" wachsen ebenso gut wie ihre auf die übliche Weise gefütterten Artgenossen. 2014 ist nun eine Pilotanlage geplant, mit der sie 1000 bis 3000 Jahrestonnen Madenmehl produzieren wollen.

Rechtliche Hürden

In Europa und der Schweiz ist es momentan allerdings noch verboten, Insektenmehl an Wirbeltiere zu verfüttern – Insektenproteine existierten bisher einfach nicht in der Futtermittelgesetzgebung. Doch in der Zwischenzeit ist das Thema bei den Behörden präsent, und für 2014 rechnen Experten mit einer Zulassung des Mehls als Tierfutter. Gleichzeitig soll auch festgelegt werden, welche Anforderungen organische Abfallstoffe erfüllen müssen, um an Insekten verfüttert werden zu dürfen.

Andere Länder sind bereits einen Schritt weiter. Brad Marchant ist Geschäftsführer von Enterra, einem Fliegenzucht-Testbetrieb in Vancouver. "Die größte Herausforderung war die Automatisierung der Fliegenzucht", sagt auch Marchant. Sechs Jahre tüftelten Enterras Mitarbeiter an dem Prozess. Heute füttern sie ihre Zöglinge mit einer Lebensmittelrestemischung, die aus 85 Prozent Früchten und Gemüse und 15 Prozent Brot, Brauereiabfällen und Fischresten besteht. Die Maden fressen sich zwei Wochen lang rund und dick, bevor sie geerntet werden. Ein Prozent von ihnen darf sich zu Fliegen entwickeln, die sich paaren und Eier legen und auf diese Weise den Kreislauf erhalten. Heute wandelt Enterra 36 000 Tonnen Abfall in 1800 Tonnen Madenmehl und 1000 Tonnen Öl pro Jahr um. Hinzu kommen 3000 Tonnen Dünger – pure Larvenexkremente. "Wir produzieren nicht nur Tierfutter, wir gewinnen auch Nährstoffe aus Lebensmitteln zurück, die normalerweise verrotten würden. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung: Wir müssen lernen, unsere Ressourcen nachhaltig zu nutzen, so wie die Natur es auch tut", sagt David Suzuki, ein bekannter kanadischer Umweltaktivist und Mitgründer von Enterra. Für 2014 plant Enterra den Bau eines industriellen Betriebs mit einem entsprechend größeren Produktionsvolumen.

"Es ist ein einträgliches Geschäft und wird weltweit Mitspieler finden"Jason Drew

Enterra sowie viele andere Testbetriebe nutzen die schwarze Soldatenfliege Hermetia illucens – die Art spielt die Hauptrolle im Fliegenzuchtuniversum: Ihre Larven sind gefräßig und groß und bestehen zu 42 Prozent aus Protein und zu 35 Prozent aus Fett. Bei entsprechender Fütterung reichern sie ungesättigte Fettsäuren wie Omega-3 an, was sie zu idealen Futtertieren macht. Hinzu kommt, dass sie bei ausreichend hoher Populationsdichte andere Tierarten wie Frucht- oder Stubenfliegen fast vollständig verdrängen. Auch die Ausbreitung bestimmter Bakterienarten wie Escherichia coli und Salmonellen im Substrat wird unterdrückt.

Das Unternehmen Agriprotein in Südafrika nutzt neben den Soldatenfliegen auch Haus- und Schmeißfliegen – und bietet damit Larven mit unterschiedlicher Protein- und Mineralstoffzusammensetzung an. Mehrere Jahre hat Agriprotein an der Optimierung der Fliegenzucht gearbeitet, denn Haus- und Schmeißfliegen fressen lieber Blut und Schlachtabfälle als Obst und Gemüse, brauchen also eine andere Haltung als Soldatenfliegen. In Zusammenarbeit mit der Stellenbosch-Universität hat das südafrikanische Unternehmen mehrere Proteinvergleichsstudien durchgeführt, im Mai hat die Forschungskooperation den African Innovation Price gewonnen. Tatsächlich ist es der am weitesten fortentwickelte Fliegenzuchtbetrieb: "2014 werden wir zwei Betriebe bauen. Der eine wird 110 Tonnen Abfall täglich aufnehmen. Daraus können wir täglich 20 Tonnen Maden und sieben Tonnen Madenmehl gewinnen", sagt der Gründer Jason Drew. Der zweite Betrieb soll 165 Tonnen Abfall täglich verwerten können, und für 2015 plant Agriprotein den Bau eines Betriebs in der Nähe von Berlin.

"Es ist ein einträgliches Geschäft und wird weltweit Mitspieler finden", ist Drew überzeugt – angesichts des gewaltigen Bedarfs und der ebenso gewaltigen verwertbaren Abfallmengen wohl keine unrealistische Prognose, auch wenn die bisherigen Produktionskapazitäten nur einen Bruchteil des Bedarfs decken. Um zweifelnde Farmer zu überzeugen – bislang hat Agriprotein nur Biobauern als Kunden –, plant das Unternehmen, knapp ein Sechstel unter dem Preis für Fischmehl zu bleiben. Einen Trumpf haben ohnehin alle Insektenfarmer in der Hand: "Wir alle essen gerne Wildlachs, Bachforellen und Biohühnchen. Und was fressen die? Insekten! Denn diese sind Teil der natürliche Nahrung von Fischen, Hühnern und Schweinen", sagt Drew.

Wie es gehen kann, machen die Chinesen vor: Dort fressen viele Hühner bereits gezüchtete Insektenlarven. Und die Bauern können sie dann teurer verkaufen – weil nicht wenige Chinesen überzeugt sind, dass mit Insekten gefütterte Hühner besser schmecken.

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