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Zeitgeschichte II: Bohr als Ziel sowjetischer Spionage

Ende 1945 suchte ein sowjetischer Agent Niels Bohr in Kopenhagen auf. Vorwürfe, der Physiker habe dabei streng geheime Details über die Konstruktion der ersten Atombomben weitergegeben, werden durch ein kürzlich veröffentlichtes Memorandum widerlegt.

"Die entscheidenden Informationen für die Entwicklung der ersten sowjetischen Atombombe stammten von Wissenschaftlern, die in Los Alamos die amerikanische Atombombe gebaut haben.... Sie willigten ein, Informationen über Kernwaffen mit sowjetischen Wissenschaftlern zu teilen."

Diese sensationelle Behauptung stammt aus dem 1994 erschienenen Buch "Special Tasks". Im weiteren werden darin Niels Bohr (der 1922 für seine Arbeiten zur Atomphysik mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde) und andere prominente Wissenschaftler des Manhattan-Projekts beschuldigt, sie hätten sowjetische Spione mit vertraulichen Informationen über die amerikanischen Anstrengungen zur Entwicklung von nuklearen Sprengsätzen versorgt. Das Buch basiert auf den Erinnerungen Pawel Sudoplatows, eines der Spitzenmänner in Josef Stalins Geheimpolizei; es enthält jedoch keinerlei Dokumente, mit denen sich diese schwerwiegenden Anschuldigungen belegen ließen. Gleichwohl hat die Veröffentlichung eine heftige Kontroverse über den Wahrheitsgehalt der Behauptungen ausgelöst.

Kürzlich wurde ein für Stalin bestimmtes Memorandum über die Kontakte mit Bohr freigegeben, das sich in den Archiven des früheren sowjetischen Geheimdienstes KGB (vor 1954 MGB) befand. Das Dokument enthält eine vermeintlich wortgetreue Mitschrift jenes Treffens im November 1945, bei dem Bohr geheime Informationen an die Sowjets weitergegeben haben soll. Wir haben es sorgfältig analysiert und kommen zu dem Schluß, daß die Anschuldigungen falsch sind.

Die Kontroverse und unsere Untersuchung des Memos kann nur verstehen, wer mit der Entwicklung der Kernphysik vor dem Zweiten Weltkrieg sowie mit den Programmen zur militärischen Umsetzung der gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse während des Krieges einigermaßen vertraut ist. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts hatten die Wissenschaftler erkannt, daß ein Atom aus einer Hülle negativer Elektronen und einem Kern mit positiv geladenen Protonen besteht. Sie wußten ebenfalls, daß die Energie innerhalb des Kerns millionenfach größer ist als diejenige, die von chemischen Sprengstoffen freigesetzt wird. Über die Struktur des Kerns war jedoch bis zur Entdeckung des Neutrons durch James Chadwick von der Universität Cambridge (England) im Jahre 1932 wenig bekannt; seine Arbeit zeigte, daß Atomkerne Protonen und Neutronen enthalten.

Freie Neutronen erwiesen sich rasch als geeignete Sonde zur Untersuchung von Kerneigenschaften: Weil diese subatomaren Partikel elektrisch neutral sind, werden sie von den positiv geladenen Kernen nicht abgestoßen und können deshalb direkt in diejenigen vieler Elemente eindringen. Dieser Neutroneneinfang war, wie Experimente zeigten, mit zahlreichen Kernreaktionen verbunden; die Kerne selbst änderten sich dabei aber nicht wesentlich.

Im Dezember 1938 beobachteten jedoch Otto Hahn und Fritz Straßmann am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin eine erstaunliche Reaktion mit Uran, dem damals schwersten bekannten Element. Die beiden Chemiker stellten überrascht fest, daß sich nach dem Beschuß von Uran mit Neutronen Barium unter den Reaktionsprodukten befand.

Die österreichische Physikerin Lise Meitner, die fast 30 Jahre mit Hahn zusammengearbeitet hatte und der nationalsozialistischen Judenverfolgung wegen kurz zuvor nach Schweden hatte fliehen müssen, fand gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Frisch, der ebenfalls Physiker war, sofort die Erklärung dafür: Der Urankern mußte in zwei Kerne von etwa gleicher Größe auseinandergebrochen sein. Frisch und Meitner nannten diesen Prozeß "Fission". Die beiden überlegten sich, daß die schwersten Kerne wegen der elektrischen Abstoßung zwischen der großen Anzahl an Protonen nur noch wenig stabil sein müßten, so daß der Einfang eines zusätzlichen Neutrons eine Spaltung des Kerns auslösen könnte. Sie berechneten ebenfalls, daß bei diesem Vorgang weit mehr Energie freigesetzt wird als in allen zuvor beobachteten nuklearen Reaktionen.


Möglichkeit einer Kettenreaktion

Die Entdeckung der Kernspaltung löste hektische Betriebsamkeit in der kleinen Gemeinschaft von Kernphysikern aus. Deren Hauptmotiv war zunächst wissenschaftliche Neugier, und alle Ergebnisse wurden veröffentlicht. Doch zwei Entdeckungen von Anfang 1939 erwiesen sich als militärisch so bedeutsam, daß sie unter den damaligen politischen Umständen in Europa und insbesondere nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen im September 1939 zutiefst beunruhigen mußten. Fortan unterlagen die Ergebnisse kernphysikalischer Forschung einer Zensur.

Zunächst vermutete Bohr während eines Aufenthalts an der Universität Princeton (New Jersey) Anfang Februar 1939, daß in natürlichem Uranerz nur ein winziger Teil der Kerne für die beobachtete Spaltung verantwortlich sein könne. Die zweite entscheidende Erkenntnis – die zwei Forschungsgruppen unabhängig voneinander gewannen – war, daß bei der Spaltung des Urankerns mehrere Neutronen frei werden; falls diese Sekundärneutronen in anderen Kernen ebenfalls eine Spaltung hervorrufen sollten, würde dies eine Kettenreaktion auslösen.

Gemeinsam mit dem amerikanischen Physiker John Wheeler entwickelte Bohr eine detaillierte Theorie, mit der sie voraussagen konnten, ob der Kern eines bestimmten Elements nach dem Einfang eines Neutrons zerplatzen würde. Die beiden Wissenschaftler schätzten zudem die Wahrscheinlichkeiten ab, mit der Kerne spontan – also ohne vorherige Destabilisierung durch ein eingefangenes Neutron – zerfallen.

Die neue Theorie bestärkte Bohrs Vermutung, daß lediglich ein geringer Teil der Kerne in Natururan – nämlich die des Uran-235, das darin mit einem Anteil von nur 0,7 Prozent enthalten ist – leicht durch Einfang von Neutronen gespalten wird. Wie die meisten Elemente kommt auch Uran in verschiedenen Isotopen vor, die sich einzig in der Anzahl der Neutronen im Kern unterscheiden. Das Isotop Uran-235 zum Beispiel hat 92 Protonen und 143 Neutronen, was zusammen eine Massenzahl von 235 ergibt. Das weit häufigere Isotop Uran-238 unterscheidet sich davon nur dadurch, daß seine Neutronenzahl 146 statt 143 beträgt.

Bohrs Vorhersage wurde innerhalb kurzer Zeit in verschiedenen Experimenten bestätigt. Für die praktische Nutzbarmachung der Uranspaltung bedeutete dies offensichtlich, daß aus dem Natururan das Isotop 235 abgetrennt werden müsse. Dies erschien jedoch als außerordentlich schwierig, weil chemische Prozesse versagen mußten: Die entsprechenden Reaktionen werden allein durch die elektrische Ladung des Kerns und damit von seiner Protonenzahl bestimmt; die Anzahl der Neutronen im Kern hat auf das chemische Verhalten keinen Einfluß. Ein Separierungsverfahren kann deshalb nur auf dem sehr geringen Gewichtsunterschied von etwa einem Prozent zwischen den Isotopen 235 und 238 beruhen; damals war aber keine auch nur annähernd erschwingliche Methode zur Isotopentrennung in großtechnischem Maßstab bekannt.

Unter diesen Umständen schien anfangs eine praktische Nutzung der Kernspaltung weitgehend ausgeschlossen zu sein. Viele Physiker in den großen Staaten, die sich bald darauf im Krieg befanden, erkannten zwar, daß eine Kettenreaktion im Uran zwei überaus bedeutende Anwendungen haben könnte, die physikalisch ähnlich sind, sich in ihren Konsequenzen aber grundlegend unterscheiden – zum einen die Erzeugung von Energie durch eine kontrollierte, sich selbst erhaltende Kettenreaktion, und zum anderen die Auslösung einer gewaltigen Explosion, falls die Kettenreaktion unbegrenzt fortschreiten könnte. Jedoch erschien das Gewinnen einer ausreichenden Menge Uran-235 für eine Bombe so weit jenseits der technischen Möglichkeiten, daß kaum jemand glaubte, ein solcher Sprengsatz würde sich in einem überschaubaren Zeitrahmen bauen lassen oder gar eine kriegsentscheidende Funktion haben können.


Plutonium: die Alternative

Trotz dieser allgemeinen Skepsis begannen Physiker in Großbritannien und den USA damit, mögliche militärische Anwendungen der Kernspaltung zu erforschen, aus Furcht, Deutschland – das gerade in der modernen Physik herausragende Leistungen aufwies – könne eine Atombombe entwickeln. Aber das amerikanische Kernwaffenprogramm begann im Jahre 1940 recht bescheiden mit einer Regierungsbeihilfe von 6000 Dollar für Enrico Fermi und andere Wissenschaftler, darunter viele, die aus Europa emigriert waren. Der italienische Physiker hatte die Verleihung des Nobelpreises im Dezember 1938 in Stockholm zur Flucht mit seiner Familie aus Italien genutzt und war im Januar 1939 zur Columbia-Universität in New York gegangen. Sein erstes Projekt war, in Natururan trotz seines geringen Gehalts an spaltbarem Uran-235 eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion in Gang zu setzen; im Dezember 1942 schließlich konnte Fermi in Chicago den ersten Kernreaktor der Welt in Betrieb nehmen.

Bereits vorher hatten Physiker in Deutschland, Rußland und den USA unabhängig voneinander – und ohne ihre Erkenntnisse zu veröffentlichen – erkannt, daß ein solcher Reaktor eine weitere Möglichkeit zum Bau einer Atombombe eröffnen würde. Wenn nämlich Uran-238, der Hauptbestandteil von Natururan, ein Neutron einfängt, kann es sich durch anschließenden zweimaligen Beta-Zerfall in ein neues Element, Plutonium, umwandeln, das ebenso wie das seltene Uran-235 durch Neutronen spaltbar ist. Weil es sich um ein anderes Element handelt, würde es sich mit chemischen Verfahren von Uran trennen lassen, womit das vertrackte Problem der Isotopentrennung umgangen wäre. Fermis Reaktor lieferte nun die ersten wägbaren Mengen dieses künstlichen Elements; er diente als Vorbild für die anschließend in Hanford (US-Bundesstaat Washington) errichtete Anlage zur Plutoniumproduktion.

Schon im Jahre 1940, als sich die amerikanische Kernforschung noch auf die Frage konzentrierte, ob sich ein Reaktor überhaupt realisieren ließe, hatten Wissenschaftler in England zu zeigen vermocht, daß eine Atombombe durchaus machbar sein könnte: Im März jenes Jahres berechneten Frisch und ein anderer aus Deutschland geflohener Physiker, Rudolf Peierls, die unbeachtet und ohne Regierungsunterstützung an der Universität von Birmingham arbeiteten, die Mindestmenge an reinem Uran-235, die zu einer explosiven Kettenreaktion erforderlich wäre. Sie erkannten zu ihrer Überraschung, daß für eine solche "kritische Masse" bereits einige Kilogramm ausreichen.

Dieses Ergebnis und ihre vielversprechend scheinenden Ideen zur Isotopentrennung wurden in einem Memorandum dem Kabinett von Winston Churchill vorgelegt, das daraufhin veranlaßte, die Forschung zur Atombombenentwicklung wirksam voranzutreiben. Diese Entscheidung der Briten trug mit dazu bei, daß der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt 1942 das Manhattan-Projekt begründete, an dem kurze Zeit später bereits mehrere tausend Menschen im eigens dazu errichteten Laboratorium in Los Alamos (Neu-Mexiko) und in anderen großen Einrichtungen der USA tätig waren.

Um nichts unversucht zu lassen, arbeiteten die USA parallel sowohl an einer Uran- als auch an einer Plutoniumbombe. Das erste in Los Alamos ersonnene Konstruktionsprinzip – die sogenannte Kanonenrohr-Anordnung – sah vor, zwei unterkritische Massen von Uran-235 aufeinanderzuschießen, um so schlagartig eine kritische Masse zusammenzubringen. Fast reines Uran-235, das mit enormem Aufwand und immensen Kosten aus dem Erz gewonnen worden war, wurde in der nach diesem Prinzip gebauten Bombe eingesetzt, die am 6. August 1945 die japanische Stadt Hiroshima zerstörte.

Die Kanonenrohr-Anordnung ist jedoch für Plutonium ungeeignet. Als die erste Probe dieses Elements 1944 in Los Alamos eintraf, stellten die Wissenschaftler überrascht fest, daß seine Spontanspaltungsrate recht hoch ist. Versuchte man, eine kritische Masse Plutonium mittels Kanonenrohr-Anordnung zusammenzubringen, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kettenreaktion durch eines der spontan emittierten Neutronen vorzeitig ausgelöst und somit der Sprengsatz zerstört werden, bevor er seine volle Explosionsenergie freisetzen könnte.

Aus diesem Grunde wurde für die Plutoniumbombe eine völlig neue und wesentlich komplexere Konstruktion – die Implosions-Anordnung – entwickelt; Die Detonation von geeignet angeordneten herkömmlichen Sprengstoffen erzeugt eine nach innen gerichtete sphärische Druckwelle, die eine unterkritische Plutonium-Hohlkugel kollabieren läßt und das Transuran auf ein Vielfaches seiner gewöhnlichen Dichte komprimiert. Dies läßt die Geschwindigkeit der Kettenreaktion rapide ansteigen. Die Kompression verläuft aber so schnell, daß spontan emittierte Neutronen den Sprengsatz nicht vorzeitig zu zerstören vermögen. Eine derartige Implosionsbombe mit wenigen Kilogramm Plutonium als Spaltstoff zerstörte am 9. August 1945 Nagasaki.

Zwei Tage nach diesem zweiten Abwurf eines nuklearen Massenvernichtungsmittels veröffentlichte die US-Regierung ihren offiziellen Bericht über das Manhattan-Projekt. Das von dem Physiker Henry DeWolf Smyth von der Universität Princeton (New Jersey) verfaßte Dokument legte zwar viele Informationen offen, diente jedoch zugleich der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften. Weil mehrere tausend Personen an dem Projekt mitgearbeitet hatten, waren eindeutige Definitionen darüber wichtig, was als geheim einzustufen sei. So schrieb General Leslie R. Groves, der militärische Leiter des Manhattan-Projekts, im Vorwort des Dokuments: "Anfragen zu weiteren Informationen sollten unterbleiben."


Sowjetische Wissenschaftler und Spione

Auch die Sowjets arbeiteten während des Krieges an einer Atombombe. Einzelheiten dazu und das damit verbundene Zusammenspiel von Wissenschaft, Spionage und Politik hat das 1994 erschienene Buch "Stalin and the Bomb" von David Holloway auch im Westen bekannt gemacht.

Ab Mitte der dreißiger Jahre widmete sich eine Gruppe junger Experimentatoren am Physikalisch-Technischen Institut in Leningrad unter Leitung von Igor W. Kurtschatow der Kernforschung. Einer seiner Studenten, Georgij N. Flerow, bestätigte als erster die Vorhersage von Bohr und Wheeler, daß Uran spontan zerfällt; seine Arbeit erschien 1940 in der Juli-Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift "Physical Review".

Die sowjetischen Theoretiker zählten zur Weltspitze. Am Institut für chemische Physik in Leningrad führten Julij B. Chariton und Jakow B. Seldowitsch (die nach dem Krieg gemeinsam mit Andrej Sacharow das sowjetische Projekt zum Bau der Wasserstoffbombe leiteten) Pionierarbeiten zur Untersuchung der Kettenreaktion in Natururan durch, die sie auch veröffentlichten. Im Jahre 1941, nachdem alle derartigen Arbeiten der Geheimhaltung unterworfen waren, schätzten Chariton und Seldowitsch – wie zuvor Frisch und Peierls in England – die kritische Masse von Uran-235 richtig ab. (Erstaunlicherweise führten deutsche Physiker diese Berechnung während des Krieges niemals durch, obwohl es gerade der gute Ruf der deutschen Wissenschaft war, der Churchill und Roosevelt veranlaßt hatte, die Entwicklung von Kernwaffen um jeden Preis voranzutreiben.)

Auch sowjetische Physiker machten ihre Regierung auf das militärische Potential der Kernspaltung aufmerksam. Aber die UdSSR mußte sich ab Juni 1941, als Adolf Hitler den 1939 mit Stalin geschlossenen Nichtangriffspakt brach, der eindringenden deutschen Truppen erwehren und konnte bis zur Niederlage des nationalsozialistischen Reiches keine nennenswerten personellen und finanziellen Ressourcen auf ein so ungewisses rüstungstechnisches Projekt verwenden.

Doch die sowjetische Spionage war sehr erfolgreich. Im September 1941 erhielten Agenten in London einen Bericht an das britische Kabinett, der auf dem Memo von Frisch und Peierls basierte. Diese offenbar von einem höheren Beamten preisgegebene Information war für die Sowjets von unschätzbarem Wert, denn sie legte auch offen, daß die Churchill-Regierung sich in der Nuklearwaffen-Forschung zur Zusammenarbeit mit den USA entschlossen hatte.

Wenige Monate später wurde Klaus Fuchs zur wichtigsten Quelle der Sowjets. Der Physiker war Kommunist und deshalb aus Deutschland nach Großbritannien geflohen, wo er nun mit Peierls zusammenarbeitete. Zunächst von dort, später aus den USA, wohin er als Mitglied des britischen Teams im Manhattan-Projekt gekommen war, leitete er zahlreiche Fachberichte weiter. Unter diesen Dokumenten befanden sich Beschreibungen der Isotopentrennung und von Kernreaktoren. Am bedeutsamsten war, daß die Moskauer Führung von ihm im Juni 1945 Berichte mit detaillierten Angaben zur Plutonium-Implosionsbombe, die später gegen Nagasaki eingesetzt wurde, erhielt.

So irrte US-Präsident Harry S. Truman, als er zwei Wochen vor dem Bombenabwurf auf Hiroshima während der Potsdamer Konferenz Stalin gegenüber bemerkte: "Wir haben eine neue Waffe mit ungewöhnlicher Zerstörungskraft", mit seiner Vermutung, dieser habe die Andeutung gar nicht verstanden. Im Gegenteil: Der Diktator befahl umgehend forcierte Anstrengungen zu einer eigenen nuklearen Rüstung und berief Lawrentij P. Berija, den berüchtigten Chef seiner Geheimpolizei, zum Leiter dieses Projekts.

Berija löste bei allen Furcht aus, die in seinen Einflußbereich kamen. Er traute niemandem – weder seinen Wissenschaftlern noch seinen Spionen. Kurtschatow, von Beginn an wissenschaftlicher Leiter des Kernwaffenprogramms, war als einziger der beteiligten Forscher über die einschlägige Spionage voll im Bilde. Gleichwohl stellte Berija 1945 eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern zusammen, welche die unablässig eingehenden Agentenberichte separat auswerten sollten. Deren Leiter wurde Jakow Terlezkij, ein junger Physiker, der sich nicht im geringsten wissenschaftlich mit Kurtschatow und seinen Mitarbeitern zu messen vermochte, den aber Berija voll unter Kontrolle halten konnte.

Ein Besucher aus Moskau

Im November 1945 fuhr Terlezkij im Auftrag Berijas nach Kopenhagen zu Bohr, der erst kurz zuvor nach seiner Mitarbeit am Manhattan-Projekt in seine Heimat zurückgekehrt war. Das Memo an Stalin besagt, Berija habe die Mission in der Hoffnung geplant, daß der Physiker, ein bekannter Verfechter internationaler Zusammenarbeit, etwas Brauchbares über die westliche Kernforschung sagen könne. Zweifellos dachte Berija auch daran, daß Bohr, sollte er mit oder oder ohne Absicht irgendwelche Geheimnisse verraten, andere sowjetische Geheimdienstinformationen oder Forschungsergebnisse bestätigen könnte; vielleicht hoffte er überdies darauf, Bohr auf diese Weise erpreßbar machen zu können.

Am 2. November bat ein kommunistischer Abgeordneter des dänischen Parlaments den Wissenschaftler, sich heimlich mit Terlezkij zu treffen, der einen Brief an Bohr von dessen altem Freund Pjotr Leonidowitsch Kapiza mit sich trug. Kapiza, der herausragende sowjetische Experimentalphysiker seiner Generation, wurde von der sowjetischen Regierung zu dieser Zeit gleichsam unter Hausarrest gehalten.

Aage Bohr zufolge, der ebenfalls in Los Alamos gearbeitet hatte, später an der Universität Kopenhagen tätig war und schließlich die Leitung des von seinem Vater gegründeten Instituts übernahm (ihm wurde 1975 für seine Beiträge zur Kernphysik gemeinsam mit seinen Kollegen Ben R. Mottelson und L. James Rainwater der Nobelpreis verliehen), war sein Vater entsetzt. Er nannte das Ansinnen "einen bedauerlichen Fehler" und bestand gegenüber dem dänischen Abgeordneten darauf, jede Unterhaltung müsse offen geführt werden, und er könne nur über allgemein zugängliche Informationen sprechen. Niels Bohr informierte westliche Behörden, und die Briten leiteten diese Nachricht noch vor dem Treffen an Groves weiter. Man zeigte sich besorgt, es könnte versucht werden, den Forscher zu entführen.

Dennoch kam es am 14. November zu einer ersten Zusammenkunft, wobei die dänische Regierung für Bohrs Schutz gesorgt hatte – sein Sohn Ernest, damals 21 Jahre alt, wurde mit einer Pistole bewaffnet im Vorraum postiert. Die westlichen Behörden waren sicherlich neugierig auf die Fragen des sowjetischen Agenten. Unterlagen des britischen Kabinettbüros, die kürzlich freigegeben wurden, belegen, daß Bohr in den Tagen vor den Gesprächen Kontakt mit der britischen Botschaft hielt. Ein Telegramm an den Leiter des britischen Außenministeriums besagt, der Däne habe der Botschaft am Tage seines ersten Treffens mit Terlezkij einen langen Besuch abgestattet.

Es gibt zwei unabhängige Augenzeugenberichte über das Gespräch, die bemerkenswert übereinstimmen: Terlezkijs Memoiren erschienen kurz nach dessen Tod 1993 in Rußland; und Aage Bohr, damals 23 Jahre alt, blieb während der gesamten Unterhaltung in dem Raum, weil sein Vater darauf bestanden hatte – er erinnert sich genau, was sich damals ereignete.

Die Kommunikation zwischen den Gesprächspartnern war schlecht. Ein sowjetischer Handelsfachmann, der nichts von Physik verstand, fungierte als Übersetzer. Bohr hatte die Angewohnheit – was zwei von uns (Bethe und Gottfried) aus eigener Erfahrung bestätigen können –, seine ohnehin schon leise Stimme noch weiter zu senken, wenn er einen wichtigen Aspekt betonen wollte. Sein Englisch und auch sein Deutsch waren nur schwer zu verstehen, selbst wenn man wußte, was er sagen wollte, was bei Terlezkij nicht der Fall war. In seinen Memoiren gestand Terlezkij ein, daß er nur eine flüchtige Ahnung davon gewann, was Bohr sagte, und daß Notizen erst gemacht wurden, als er und der Übersetzer die Unterredung im nachhinein zu rekonstruieren versuchten.

Nach beiden Berichten sprach Bohr die meiste Zeit ausführlich über Kapiza und Lew D. Landau (Bild 2). Kapiza (Physik-Nobelpreis 1978) hatte bis 1934 bei Ernest Rutherford (Nobelpreis 1908) in Cambridge gearbeitet, bis Stalin ihn von einem Besuch bei seinen Angehörigen in der UdSSR nicht mehr zurückkehren ließ. Landau, ein hervorragender Theoretiker (Nobelpreis 1962), hatte einst an Bohrs Institut für Theoretische Physik in Kopenhagen gearbeitet und war von Stalin vor dem Krieg für ein Jahr in Haft gehalten worden. Bohr versuchte nun, sich über Terlezkij bei der sowjetischen Regierungsspitze für seine beiden Freunde einzusetzen.

Als Terlezkij endlich seine Fragen stellen konnte, war – wie er in seinen Memoiren schreibt – zu seinem Mißfallen Aage immer noch anwesend. Dies bestätigte Aage, der sich an einen "ziemlich verzweifelten Terlezkij" erinnert, "der nach einer langen Unterredung über Kapiza... sehr bemüht war, eine Reihe von Fragen zu stellen. Sie kamen in schneller Folge, vermittelt von dem Übersetzer, und wir verstanden nicht den genauen Inhalt".

Bei einem kurzen zweiten Treffen am 16. November überreichte Bohr Terlezkij den Smyth-Bericht. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 100000 Exemplare davon verkauft worden, und die in der Sowjetunion angefertigte russische Übersetzung war nahezu abgeschlossen.


Die Mitschrift

Als Berija das Memo über Terlezkijs Mission Stalin übergab, fügte er eine augenscheinlich wörtliche Mitschrift von Terlezkijs Fragen und Bohrs Antworten bei (siehe Kasten auf Seite 41). Wir wollen nun dieses Dokument analysieren, ohne seine Authentizität zu untersuchen.

Mehr als die Hälfte der 22 Fragen (die Kurtschatows Forschungsgruppe vorbereitet hatte) handelten von Kernreaktoren und Verfahren zur Isotopentrennung, einige betrafen die Spaltprozesse selbst sowie Mechanismen zur Detonation einer Bombe. Eine Frage betraf die Möglichkeit einer Verteidigung gegen Kernwaffen.

Die Mitschrift bestätigt Terlezkijs Aussage in seinen Erinnerungen, daß Bohrs "Antworten sehr allgemein waren. Er sagte immer wieder, man hätte ihm in Los Alamos keine Einzelheiten mitgeteilt... [und] daß er die Laboratorien an der Ostküste niemals besucht habe", wo die Anlagen des Manhattan-Projekts zur Isotopentrennung standen. Zu den Themen Kernreaktoren und Isotopentrennung gab er sogar nur Informationen, die bereits vor dem Krieg bekannt waren, obwohl ausführliche Einzelheiten zu späteren Entwicklungen im Smyth-Bericht zu finden waren. Auch beim Thema Kernspaltung selbst bezog sich Bohr in der Regel auf Vorkriegs-Literatur, insbesondere auf eine bedeutsame Veröffentlichung, die er zusammen mit Wheeler verfaßt hatte.

Bohr gab allerdings vermutlich eine falsche Antwort, als er behauptete, in keinem US-Reaktor würde Schwerwasser zum Abbremsen der Spaltneutronen eingesetzt. Tatsächlich wurde in dem Reaktor des Argonne-Laboratoriums in Batavia (Illinois) dieser Moderator benutzt, wie im Smyth-Bericht nachzulesen ist. Ob diese Ungenauigkeit auf Bohr oder Terlezkij zurückzuführen ist, wissen wir nicht.

Der Dialog über die Bombenkonstruktion ist besonders beachtenswert. Als Bohr nach der Anzahl der Neutronen gefragt wurde, die von den verschiedenen Uran- und Plutonium-Isotopen freigesetzt werden, antwortete er nur: "Mehr als zwei." "Können Sie eine genauere Zahl nennen?" fragte Terlezkij nach. Bohr: "Nein, kann ich nicht... Die genaue Zahl ist nicht von großer Bedeutung ..." In Wahrheit hängt aber die für eine Bombe erforderliche Menge Uran-235 oder Plutonium entscheidend von der Zahl der pro Spaltung freigesetzten Neutronen ab.

Die zweite Frage, die sich anscheinend mit der Physik nuklearer Sprengsätze befaßte, betraf die spontane Spaltung, die – wie erwähnt – wesentlich für die Konstruktion einer Plutoniumwaffe ist. Es ist allerdings nicht ersichtlich, ob sich Terlezkij dabei auf das Design von Reaktoren oder von Bomben bezog. Bohrs Antwort jedenfalls war nur für Reaktoren richtig, in denen die spontane Spaltung unbedeutend ist.

Bei der letzten Frage ging es darum, wie sich eine Kettenreaktion entwickelt, nachdem die chemische Explosion das Spaltmaterial komprimiert hat. Die Antwort war ein Musterbeispiel für gelungene Verschleierung.

Da Bohr während des Manhattan-Projekts nichts mit Isotopentrennung oder Reaktorentwicklung zu tun hatte, konnte er zu diesen Themen keine Einzelheiten angeben. Doch hatte ihn Richard Feynman (Nobelpreis 1965) während seines Aufenthalts in Los Alamos mit der Kettenreaktion in Bomben vertraut gemacht; zudem hatte Bohr an der Konstruktion der Implosions-Bombe mitgewirkt. Hätte er brisante Informationen weitergeben wollen, wären die Fragen zu diesen Themen dazu geeignet gewesen; statt dessen gab er unvollständige oder unverständliche Antworten, die nichts preisgaben.

In seiner Stellungnahme zu der Frage, ob eine Verteidigung gegen die Bombe möglich sei, ging Bohr umfassend auf das Erfordernis internationaler Kontrolle ein – eine Haltung, die er auch öffentlich vehement vertrat. Der Mitschrift zufolge soll er jedoch auch die absurde Behauptung aufgestellt haben, daß "der große Oppenheimer sich unter Protest zurückgezogen und seine Arbeit an dem Projekt aufgegeben hat". Es stimmt zwar, daß J. Robert Oppenheimer, der wissenschaftliche Leiter des Manhattan-Projekts, Los Alamos verlassen hatte, um an die Universität von Kalifornien in Berkeley zurückzukehren, doch wurde er zugleich der einflußreichste Berater der Truman-Regierung zu politischen Fragen der Kernwaffen.

Muß jedes von Berija gezeichnete Dokument ohnehin schon mit Skepsis betrachtet werden, so überzeugt uns die Bohr unterstellte Aussage zu Oppenheimer, daß die Antworten des dänischen Physikers auf ihrem Weg zu Stalins Schreibtisch in einem bestimmten Sinne bearbeitet wurden. In seinen Memoiren erinnert sich Terlezkij denn auch, daß ihn der für die Kopenhagener Mission zuständige Oberst der Geheimpolizei darin unterwies, wie er das Gehörte am besten weitergeben sollte. Dennoch – so Terlezkij – war Berija von den Ergebnissen enttäuscht; er "wurde unbeherrscht und unterbrach [mich] mit Obszönitäten über Bohr und die Amerikaner", als der Agent ihm von dem Ausforschungsversuch berichtete.

In seinem Memo an Stalin gab der Chef der Geheimpolizei jedoch zu verstehen, Terlezkijs Mission sei erfolgreich verlaufen – was kaum zu überraschen vermag, war die Operation doch Berijas eigene Idee gewesen. Wir halten es für bemerkenswert, daß das Memo den Smyth-Bericht an keiner Stelle erwähnt und auch nicht damit verglichen wurde. Wahrscheinlich nahmen Berija und seine Leute an, daß ein derart informatives Dokument ein Meisterstück der Desinformation sein müßte. Darum können wir Terlezkijs Behauptung nicht von der Hand weisen, Bohr habe dem Bericht mit der Übergabe eine Glaubwürdigkeit verliehen, die er sonst wohl nicht erhalten hätte.

Unabhängig davon, wie sehr Bohrs Worte von Terlezkij und anderen Mitarbeitern Berijas verändert wurden, bietet das Memo an Stalin doch die direkteste Version über das Treffen. Alle Verfremdungen konnten nur bezwecken, die Bedeutung der von Bohr gelieferten Informationen überzubetonen. Doch enthält die Mitschrift keinen Hinweis darauf, daß der Physiker mehr über technisch oder militärisch bedeutende Themen gesagt hätte, als bereits im Smyth-Bericht veröffentlicht war. Die Anschuldigung, Bohr habe Geheimnisse der Atombombe den Sowjets preisgegeben, wird durch Berijas eigenen Bericht über das Treffen zwischen seinem Agenten und Bohr widerlegt.

Literaturhinweise

- Heller als tausend Sonnen. Von Robert Jungk. Wilhelm Heyne Verlag, München 1990.

– Kettenreaktion. Das Drama der Atomphysiker. Von Jost Herbig. Carl Hanser Verlag, München 1976.

– Atomic Energy for Military Purposes. The Official Report on the Development of the Atomic Bomb under the Auspices of the United States Government, 1940 – 1945. Von Henry D. Smyth. Stanford University Press, 1989.

– Die sowjetische Atombombe. Von Andreas Heinemann-Grüder. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1992.

– Mein Leben. Von Andrej Sacharow. Piper, München 1991.

– Special Tasks. The Memoirs of an Unwanted Witness. A Soviet Spy Master. Von Pavel und Anatoli Sudoplatov, unter Mitwirkung von Jerrold L. und Leona P. Schecter. Little, Brown and Company, 1994.

– Stalin and the Bomb. Von David Holloway. Yale University Press, 1994.

– Were the Atomic Scientists Spies? Von Thomas Powers in: New York Review of Books, Band 41, Heft 11, Seiten 10 bis 17, 9. Juni 1994.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1995, Seite 39
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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