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Zukunft der Stadt: Blick zurück auf morgen

Sie lassen sich zurückverfolgen bis ins 15. Jahrhundert: Visionen und Entwürfe für eine ideale Stadt. Nur wenige dieser Utopien wurden ganz verwirklicht so wie Brasilia; an manchen wie Arcosanti wird seit Jahren gebaut. Wie sehen Stadtplaner die Zukunftspläne von damals heute? Was lernen sie daraus für die Zukunft der Stadt?
Kongressgebäude in Brasilia
Sie liegen in Utopia, verheißen eine neue Form des Zusammenlebens, suchen nach einer Synthese von Arbeiten, Wohnen, Natur und Leben oder spiegeln als neue Hauptstädte den Zukunftsglauben und die Macht eines Staats wider – die Zukunftsstädte der Vergangenheit sind so vielfältig wie die Ideen, die hinter ihren Entwürfen stehen. Die wohl bekannteste ist Brasilia. Als eine der wenigen wurde sie, so wie von ihren Planern erdacht, auch tatsächlich erbaut.

Kathedrale von Brasilia | Die wohl berühmteste Stadt vom Reißbrett ist Brasilia, die "neue" Hauptstadt von Brasilien: Sie hatte 1960 Rio de Janeiro als Regierungssitz abgelöst. Viele ihrer Gebäude stammen von dem berühmten Architekten Oscar Niemeyer – so wie die Kathedrale der Stadt.
Das lag nicht zuletzt am politischen Willen: Die neue Hauptstadt Brasiliens sollte das bis dahin kaum angebundene Hinterland des südamerikanischen Staats erschließen. Deshalb wurde die Metropole auf einer eigens dafür ausgesuchten Hochebene im Herzen des Landes erbaut. Sie sollte modern sein, in die Zukunft weisen, die technischen Möglichkeiten der Zeit sollten genutzt werden. Das zeigt der Grundriss in Form eines Flugzeugs von Stadtplaner Lucio Costa oder die Breite und Führung der Straßen, die die Stadt für das Auto erschließen. Und das belegen die Regierungsgebäude, die von dem berühmten brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer entworfen wurden und noch heute mit ihren imposanten Beton- und Glaskonstruktionen faszinieren. Darüber hinaus sollte Brasilia eine gerechte Stadt für gleichberechtigte Bürger werden, was sich in der Anlage der Wohnbauten und ihrer geplanten Einheitlichkeit ausdrückt. Als Wahrzeichen für die wirtschaftliche Kraft Brasiliens wurde die Stadt zudem in nur vier Jahren erbaut.

Vom Reißbrett zum Welterbe

Aber schon gleich nach ihrer Fertigstellung im Jahr 1960 zeigten sich die ersten Probleme: Die Arbeiter, die zum Bau gebraucht worden waren, blieben. Rund um die Kernstadt bildeten sich Satellitenstädte. Es gab wie in jeder anderen Stadt wieder Arm und Reich – damit hatten die Planer nicht gerechnet. Zudem fehlten Plätze, an denen Menschen sich treffen konnten. Die Funktionstrennung von Arbeiten und Wohnen, die Tatsache, dass die Stadt für das Auto gebaut wurde und Anlagen zum Flanieren und Bummeln fehlten, machten Brasilia zu einer Stadt, die sich nur schlecht eignete zum Zusammenleben: Die Menschen wohnten in ihr nicht gern.

Bis heute kann die Stadt, die mittlerweile zum Welterbe zählt, auf diese Unzulänglichkeiten kaum reagieren. Bei aller Großartigkeit, oder gerade deswegen, ist die Anlage von Brasilia dafür zur starr. "Brasilia ist die reine Lehre", sagt Stadtplanerin Ricarda Pätzold. "Aber die reine Lehre scheint nur in der Projektion zu funktionieren. In die Realität umgesetzt, kann sie auf neue Entwicklungen nicht flexibel genug reagieren. Das ist immer wieder ein Problem von Städten, die nicht wachsen, sondern am Reißbrett geplant werden."

Erfolgsmodell Gartenstadt?

Als ein weiteres Beispiel nennt Pätzold, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin arbeitet, die von Ebenezer Howard geplanten "Garden Cities". Auch sie sollten Missständen abhelfen und Fortschritt bringen. Sie sind als Reaktion auf das Ausufern des Ballungsraums London im 19. Jahrhundert zu sehen. Als eigenständige Einheiten rund um London angeordnet, sollten sie Arbeit, Natur und Wohnen auf vergleichsweise engem Raum verbinden. Die Menschen sollten weniger weit pendeln müssen, die Großstadt mit ihren Problemen nicht noch größer werden. Aber auch sie funktionierte nicht in der von Howard geplanten Form. Gartenstädte als Siedlungskonzept – ohne das Ziel der Gesellschaftserneuerung – wurden dagegen in vielen Ländern umgesetzt. "Wahrscheinlich, weil sie weniger von Ideologien getragen und die Aufgabenstellungen weniger komplex waren", meint Pätzold.

Aus der Luft | Von oben betrachtet ähnelt Brasilia einem Flugzeug: Ausgehend von der Längsachse gehen zwei Flügel nach links und rechts ab. Doch diese Ansicht ist nur ein berühmtes Missverständnis: Stattdessen soll die Form ein Kreuz symbolisieren, wie es als Markierung auf Landkarten verwendet wird.
Visionen davon, wie Städte aussehen und funktionieren sollen, lassen sich zurückverfolgen bis ins 15. Jahrhundert. 1516 veröffentlichte Thomas Morus in seinem Werk Utopia erste Ideen für eine ideale Stadt. Auch ihm ging es dabei schon um mehr als um Raumaufteilung und Schönheit und Funktion von Gebäuden: Eine ideale Gesellschaft sollte entstehen. So ging es weiter: Ob Thomas Morus' Utopia oder Fouriers Phalanstère, Howards "Garden Cities", die Hauptstädte Chandigargh in Indien und Brasilia oder Siedlungen wie Auroville und Arcosanti – immer sollten mit den neuen Städten auch die Lebensumstände der Menschen besser werden. "Stadtutopien sind Reaktionen auf Probleme in vorhandenen Städten", sagt Pätzold. "Man hat ein Problem mit der Stadt, die man hat, und baut etwas Neues. Dann funktioniert das nicht. Es entsteht wieder etwas Neues. Stadtutopien müssen immer im Kontext ihrer Zeit bewertet werden."

Gescheiterte Utopien

Das gilt auch für Auroville und Arcosanti. Auroville, 1968 in Indien als "Stadt für alle" gegründet, war als neues kulturelles und spirituelles Zentrum der Menschheit gedacht. Die Stadt gehört keinem: Wer in ihr wohnt, dient dem göttlichen Bewusstsein. Nach letzten Zählungen im November 2009 leben in Auroville 2184 Menschen aus 45 Nationen. 50 000 sollten es einmal sein. Auch an Arcosanti, etwa zur gleichen Zeit in Arizona entstanden, wird seit nunmehr 40 Jahren gebaut. Die Stadt soll ihren Bewohnern ein perfektes Leben bieten, indem sie Architektur mit Ökologie verbindet. "Arcology" hat ihr Erfinder, der Architekt Paolo Soleri, diese Synthese genannt. "Städte sollten so gebaut sein, dass Erreichbarkeiten und Möglichkeiten zur Interaktion innerhalb der Stadt maximal sind, der Verbrauch von Energie, Rohstoffen und Land minimal, Abfall und Luftverschmutzung reduziert werden können und ein Austausch mit der umgebenden natürlichen Landschaft möglich bleibt", werden die Ziele auf der Website der Projekts benannt. So wie Auroville lebt Arcosanti vom Engagement ihrer Bewohner. Wenn die Stadt fertig ist, sollen 5000 Menschen in ihr leben – nur rund vier Prozent der geplanten Gebäude wurden aber bisher gebaut.

Sind Auroville und Arcosanti also gescheitert? "Nicht wirklich", meint Ricarda Pätzold. Eine Stadt per politischem Beschluss bauen zu lassen, so wie Brasilia, sei vergleichsweise einfach – eine Stadt im Kollektiv gemeinsam weiterzuentwickeln ungleich schwerer. "Aber eine Stadt, die sich aus der Gemeinschaft herausentwickelt, hat viele Teile, steht auf vielen Beinen. Eine solche Stadt kann sich anpassen, kann Probleme lösen. Denn sie hat ein ganz anderes Entwicklungspotenzial."

Wiederbelebung des Alten

"Die 'nachmoderne' Generation der Stadtplaner hält es daher eher mit Jane Jacobs und plädiert für einen 'menschlich' dimensionierten und umweltgerechteren, kompakten Städtebau mit kleineren Blockstrukturen und guter Funktionsmischung. Und mit möglichst viel nicht motorisiertem und öffentlichem Verkehr", sagt Deike Peters, Leiterin der DFG-Emmy-Noether-Gruppe "Urbane Mega-Projekte" am Center für Metropolitan Studies der TU Berlin.

Kongressgebäude in Brasilia | An einem Ende der zentralen Monumentalachse steht das Gebäude des Nationalkongresses, das ebenfalls von Oscar Niemeyer entworfen wurde.
Jane Jacobs kritisiert als eine der Ersten die modernen Stadtplanungen mit ihren Idealstadtkonzepten à la Brasilia. In ihrem Buch "Tod und Leben großer amerikanischer Städte" wies sie anhand von Nachbarschaften in Boston, Chicago, New York und Philadelphia nach, dass diese sich trotz ihrer ungeordneten, verdichteten Bau-, Nutzungs- und Sozialstrukturen dem Verfall nicht nur widersetzen, sondern dass sie gerade wegen dieser Eigenschaften häufig sicherer, stabiler und auch wirtschaftlich dynamischer sind als die Neubausiedlungen, durch die man sie ersetzte. Damit läutete Jacobs zu Beginn der 1960er Jahre einen Paradigmenwechsel in der Stadtplanung ein.

Inzwischen schätzt eine neue Generation von Stadtplanern wieder die historisch gewachsenen Stadtteile und Städte. Die jungen Planer wollen ökologische mit sozialen Fragen verbinden. Alle Einwohner einer Stadt sollen an ihrer Entwicklung beteiligt werden, bei neuen Planungen mitdiskutieren, sich einbringen und verwirklichen können. Stadt soll für alle erlebbar und finanzierbar sein. Das Ziel ist eine Stadt, die ökologisch nachhaltig und rundum lebenswert ist für alle sozialen Schichten. Auf den Punkt bringt das der britische Stararchitekt Sir Norman Foster: "Die Stadt der Zukunft muss ein Ort sein, an dem man sich gerne aufhält, eine Stadt, in der man wirklich leben, die man wirklich besuchen will – eine, in der es Spaß macht, zu sein."

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