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Falling Walls 2010: Einstürzende Mauern, die Zweite

Falling Walls
Da ich schon im letzten Jahr an der ersten dieser Veranstaltungen teilnahm, übrigens in einem fabulösen ehemaligen Wasserwerk, einst an der innerdeutschen Grenze gelegen, wusste ich ungefähr, was ich von dieser von Sebastian Turner vorzüglich organisierten Veranstaltung erwarten konte: kompakte Einsichten in große Probleme in Forschung und Gesellschaft, wie sie derzeit attackiert werden – und welche Chancen für die Zukunft bereitliegen.

In eisern durchgehaltenen 15-Minuten-Vorträgen präsentierten über 20 Forscher ihre Einsichten. Wände werden niedergerissen. Aber auch wenn man nicht immer gleich auf rauchenden Trümmern stand, so zeigten sich doch Richtungen, in denen beträchtliche Fortschritte gemacht werden oder demnächst zu erwarten sind: zwischen dem Ich und dem Andern, zwischen Blinden und Sehenden, zwischen unheilbar an Aids Erkrankten und wirksamen Therapien, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen Endlagern für radioaktivem Abfall für Millionen Jahre, oder einem, das nur für Jahrhunderte reichen muss.

Falling Walls: die gesamte Konferenz in fünf Minuten


Die Neuropsychologin Tania Singer, seit kurzem erst Direktorin am MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften, ging der Frage nach, warum Menschen altruistisch sind und wie viel Empathie und Mitleid sie aufbringen sollten. Mit Kernspin-Tomographen nimmt sie Einblick in die Vorgänge beim Mitleiden und Einfühlen. Erstaunlich sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, etwa bei Rachegedanken. Der rechte Abstand zum nächsten sei entscheidend: Einfühlung und Mitleid so, dass man nicht vergisst, dass es nicht man selbst ist, der leidet. Zuviel Altruismus, sagte sie, führt zum Burn-out. Das hat die Forscherin an Studien mit buddhistischen Mönchen erkannt. Wie Tania Singer mir hinterher berichtete, wolle sie jetzt Schamreaktionen bei Primaten untersuchen.

Prominente Gäste | Zu den über 700 Teilnehmern an der Falling-Walls-Konferenz zählten auch Dirk Heinz, Strukturbiologe am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Helmut Dosch, Chef des Deutsches Elektronen-Synchrotrons DESY und Barbara Bludau, bis vor kurzem Generalsekretärin der Max-Planck-Gesellschaft
Die alte Debatte "Umwelt oder Gene", auf englisch "Nature or Nurture", entlarvte der Sozialwissenschaftler Dalton Conway aus New York weitgehend als einen Scheinkonflikt. Die Antwort darauf, ob wir mehr durch unsere Gene oder unsere Erziehung gesteuert werden, sei schlicht "beides". Wir sind, sagte er, auch die Gene der anderen! Berücksichtige man die sozialen und genetischen Faktoren menschlichen Verhaltens, dann lasse sich vieles besser organisieren – von Klassenzimmern bis zur Psychotherapie.

Unter Kollegen | Spektrum-Chefredakteur Reinhard Breuer (rechts) mit Journalistenkollege Hilmar Schmundt vom Spiegel
Seit sich mit der Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke die Debatte um die Kernenergie dramatisch wiederbelebt hat und Castortransporte nur unter großem Protest durch die Lande fahren können, ist Endlagerung auch wieder als Thema der Wissenschaft nach vorne gerückt. Wie können Geologen bei hochradioaktivem Abfall die Stabilität von Lagerstätten für eine Millionen Jahre garantieren? Jede Prognose gerät dabei offensichtlich in den Bereich der Spekulation.

Dabei sind Lösungen, wie sie in Berlin Joachim U. Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie präsentierte, schon lange sehr weit ausgearbeitet. Transmutation heißt das Stichwort und beinhaltet ein Alchemistenrezept: man wandle die langlebigen Isotope im nuklearen Abfall so um, dass sie kurzlebigere Tochterisotope erzeugen. Erstaunlicherweise ist das – wissenschaftlich gesehen – völlig realistisch und hat gar nichts mehr mit Goldmacherei zu tun. Mit Neutronenbeschuss aus einem Teilchenbeschleuniger, kombiniert mit Wiederaufarbeitung und Abtrennung, lässt sich der strahlende Müll auf Abklingzeiten von Jahrhunderten reduzieren. Worauf Knebel bewusst nicht einging, ist die Frage der politischen Umsetzung.

Wirklich überrascht hat mich der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Doug Guthrie. Entgegen dem Dogma, dass allein Kapitalismus und freie Marktwirtschaft der Weg zum ökonomischen Erfolg seien, betrachtete er mit offenen Augen die chinesische Wirtschaft. Ja, die steht unter dem Diktat einer politischen Diktatur. Aber ist sie allein deshalb auch wirtschaftlich marode wie einst die Wirtschaft der DDR oder Sowjetunion? Eben nicht, vielmehr ist es heute die Wirtschaft mit dem weltweit höchsten Wachstum. Der chinesische "Staatskapitalismus" boomt also, das ist offensichtlich.

Bundespräsident Christian Wulff | Auch Bundespräsident Christian Wulff besuchte die Konferenz und sprach vor den wissenschaftlichen Zuhöreren.
Aber wo sind dann die allheilig machenden Treibkräfte des freien Marktes? Guthrie machte den überraschten Zuhörern zwei Dinge klar: Einmal lässt die westliche Politik den Markt keineswegs frei agieren. Sonst hätten ja zum Beispiel in der letzten Bankkrise jede Menge Großbanken Pleite gehen müssen, und nicht nur Lehmann Brothers. Umgekehrt zeigte der Soziologe, dass die chinesische Planwirtschaft sehr wohl in der Lage ist, ökonomische Reformen voranzutreiben und spektakuläre Wachstumsraten zu erzielen (das leidige Umweltthema sprach er dabei nicht an). Lehrreich an Guthries Vortrag war, dass wir uns nicht in Denkschablonen einfangen lassen sollten, wenn wir in Wahrheit immer wieder – Griechenland und Irland lassen grüßen – in europäischen Staatskapitalismus verfallen.

Einstürzende Mauern – die Konferenz zum 21. Jahrestag hat wieder einmal sehr erfrischend gezeigt, wie die großen Probleme der Welt weitergetrieben werden. Manchmal sind die Probleme noch größer als die präsentierten Lösungen; manchmal aber scheint sich die Mauer zu bewegen. Nächstes Jahr will ich wieder dabei sein.

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