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Artenvielfalt: Ein Requiem für den Schweinswal

Manche behaupten, er wäre ein Erfindung der Umweltschützer: der Vaquita, von dem es nur noch rund 30 Exemplare gibt. Seine Art und sein Aussehen hat die Forschung vor große Rätsel gestellt. Seine Existenz hat politische Verwerfungen verursacht.
Nur noch wenige Dutzend Vaquitas schwimmen noch im Golf von Kalifornien

Über den nördlichen Golf von Kalifornien, auch Cortés-See genannt, bricht die Nacht herein. Es ist gespenstisch still. Die Seeschwalben und Pelikane haben ihre Schlafplätze aufgesucht, die Delfine durchkreuzen nicht mehr zu hunderten das Wasser und auch die Seelöwen haben sich zur Abendruhe an Land begeben. Die See, für gewöhnlich rau und von schokomilchfarbenem Wasser, ist spiegelglatt. Am oberen Golf von Kalifornien, jenem Nebenmeer des Pazifik, das sich wie ein Keil in die mexikanische Wüste nahe der US-amerikanischen Grenze schiebt, ist der Sonnenuntergang die beste Tageszeit. Dann macht die sengende Sonne fantastischen Streifen aus Orange-, Pink- und Rottönen am Himmel Platz, die im schwindenden Licht tanzende Schimmer aufs Wasser malen.

Bei diesem Anblick vergesse ich fast, dass ich auf dem Deck eines Schiffs stehe, das eine Piratenflagge führt, und mich gerade frage, ob nicht plötzlich wütende, bewaffnete Fischer an Bord stürmen könnten. Währenddessen zieht Nick Allen, Bootsmannsgehilfe auf dem etwa 55 Meter langen, von der Sea Shepherd Conservation Society betriebenen Schiff, eine illegale Langleine von etwa 1200 Meter Länge aus dem Wasser. Bis jetzt hingen nur ein paar tote Aale und ein als gefährdet geltender Hammerhai daran, doch dann erscheint der wahre Gewinn: »Totoaba!«, schreit Allen. »Na also, wer sagt's denn!« Der noch lebende, am Haken zappelnde Fisch ist etwa 1,20 Meter lang, wie ein Zeppelin geformt und mehrere tausend US-Dollar wert. Ohne zu zögern, macht sich das Sea-Sheperd-Team daran, das Tier zu befreien.

Die vergangenen vier Monate haben die etwa 20 Personen an Bord des Schiffs mit der Beseitigung illegaler Fangnetze, die den nördlichen Golf von Kalifornien in Massen übersäen, zugebracht und dabei mehr als 100 aufgegebene Netze und dutzende toter Totoabas, Seelöwen und anderer geschützter Lebewesen aus dem Meer gezogen. Fast jede Nacht spürt ihr Radar Fischer auf, wie sie mit kleinen Ruderbooten, die den Wasserfahrzeugen der lokalen Strafverfolgungsbehörden leicht entkommen, neue Netze ausbringen. Tagsüber schicken die Mitarbeiter der Sea Shepherd Drohnen los, mit deren Hilfe sie beobachten, wie Wilderer illegal gefangene Totoabas in der Sonne auslegen – nur wenige hundert Meter von den Vertretern der Aufsichtsbehörden entfernt, die eigentlich gegenüber solchen Aktivitäten hart durchgreifen sollten.

Sie tauchen auf, wenn alle diplomatischen Bemühungen gescheitert sind

Doch das eigentliche Interesse der Sea Shepherd gilt nicht den Totoabas. Die Umweltschützer sind wegen eines sehr kleinen Vertreters der Schweinswale hier, dessen Ausrottung nahezu unvermeidlich scheint: der Kalifornische Schweinswal, den die Einheimischen einfach Vaquita, zu Deutsch »kleine Kuh«, nennen. Nur allzu oft geraten diese Tiere in die für die Totoabas bestimmten Fangnetze und verenden. »Schaut her, dort taucht er ab!«, ruft jemand, als sich der plumpe Fisch sofort nach Entfernen des Hakens zappelnd befreit und im trüben Wasser verschwindet. »Ja, der hier war eindeutig gesund.«

Selten sind Mannschaften der Sea Shepherd eine willkommene Lösung für Fischereiprobleme jeglicher Art. Berühmt für ihre Jagd auf japanische Walfangschiffe im Arktischen Ozean repräsentieren die Mitglieder dieser Organisation Umweltaktivisten in letzter Instanz, die von Fischergemeinden auf der ganzen Welt regelrecht gehasst werden. Das Erscheinen der Sea Shepherd bedeutet denn auch üblicherweise, dass alle diplomatischen Bemühungen um Umweltschutz und Arterhaltung kläglich versagt haben. Nirgendwo trifft dies mehr zu als im nördlichen Golf von Kalifornien.

Die Cortés-See stellt eins der eindrucksvollsten Ökosysteme unserer Erde dar. Fast 1000 Fischarten leben hier, zehn Prozent dieser Spezies sind in keinem anderen Meeresgebiet zu finden, und die Hälfte des kommerziellen Fischfangs Mexikos stammt aus diesen Gewässern. Doch die Umweltschützer und Fischer der Region stehen in einem chronischen Konflikt. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sie sich wegen des Vaquita in einem Kreislauf von Schuldzuweisungen, Korruption und gelegentlicher Gewaltanwendung sprichwörtlich die Köpfe eingeschlagen. Erst am Vortag kam es in der wenige Kilometer östlich gelegenen Kleinstadt El Golfo de Santa Clara zu Ausschreitungen ortsansässiger Fischer, nachdem Regierungsvertreter in einem Versuch, die illegalen Aktivitäten zu stoppen, ein Aussetzen der Fangsaison um ein weiteres Jahr angekündigt hatten. Die Randalierer setzten zehn Regierungsfahrzeuge sowie einige Boote in Brand und schlugen auf Vertreter der Fischereibehörden ein.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich Drogenhändler mit den illegalen Fischern zusammenschließen, um den Transport der Totoabas über die US-amerikanische Grenze zu kontrollieren. Todesdrohungen gegen Staatsbeamte und Umweltschützer sind nahezu wöchentlich an der Tagesordnung, und mindestens zwei Fischer wurden in den vergangenen fünf Jahren niedergeschossen. Die einst friedlichen Fischer fahren jetzt schwer bewaffnet aufs Meer hinaus und teilen sich ihre Handelswege und Gewinne mit den Hauptakteuren des Drogengeschäfts. Und wegen wild wuchernder Geschichten über Methamphetaminlabore in der Nähe von Fischercamps und über Drogenbosse, die in Lastwagen an der Küste sitzen und auf Polizisten schießen, um die Boote der Wilderer zu schützen, ist der Tourismus auf ein Minimum zurückgegangen.

»In der Cortés-See sollte die Fischerei generell verboten werden«
Oona Layolle

»In der Cortés-See sollte die Fischerei generell verboten werden«, fordert Oona Layolle, Initiatorin der Sea-Shepherd-Kampagne. »Empfindliche Meere wie diese mit einem so riesigen Ökosystem müssen einfach geschützt werden – auch angesichts der Zahl der zurzeit auf der Erde lebenden Menschen.« Inzwischen hat sich die offizielle Anzahl der Vaquitas auf lediglich 30 Exemplare verringert. In einem letzten verzweifelten Bemühen zur Rettung dieser Tiere plant nun ein gemeinsames Team aus US-Amerikanern und Mexikanern, so viele Kalifornische Schweinswale wie möglich einzufangen und nachfolgend in Gefangenschaft zu halten.

Der Vaquita, dem höchstwahrscheinlich ein ähnliches Schicksal wie der Wandertaube bevorsteht, repräsentiert einen der dramatischsten Fehlschläge des heutigen Wildtiermanagements, und seine Geschichte lehrt uns entscheidende Lektionen über die eigentlichen Ursachen des Artensterbens in der modernen Welt. Diesem Lebewesen machten weder Siedler den Garaus, wie etwa dem unglückseligen Dodo, noch eine ungezügelte menschliche Entwicklung, wie im Fall des Chinesischen Flussdelfins. Und ganz im Gegensatz zum Sibirischen Tiger oder dem Breitmaulnashorn besitzt der Kalifornische Schweinswal keinerlei kommerziellen Wert. Was ihm zum Verhängnis wurde, war eine tödliche Mischung aus Gier und Korruption, einer unzureichenden staatlichen Aufsicht, einem tief verwurzelten Kampf zwischen wissenschaftlichen Lagern über den eigentlichen Grund des Rückgangs dieser Tiere und dem Unvermögen Mexikos, sich die Gunst der Fischer zu Nutze zu machen. Auch wenn diese Lektionen vielleicht für die Rettung des Vaquita zu spät kommen, könnten sie dennoch zahllose andere gefährdete Arten auf der ganzen Welt vor dem Aussterben bewahren.

Der erst in relativ jüngerer Zeit entdeckte Vaquita stand nicht immer derart im Brennpunkt des Interesses. Im Jahr 1950 stieß der legendäre Meeresbiologe Ken Norris bei einer Wanderung an den Stränden des nördlichen Golfs von Kalifornien zufällig auf den Schädel eines Schweinswals, der in der Sonne lag, und ihm fielen gleich dessen sonderbare Form und geringe Größe auf. Acht Jahre später veröffentlichte der Wissenschaftler einen Artikel, in dem er den Schweinswal des Golfs von Kalifornien erstmalig beschrieb, auch wenn er niemals ein lebendes Exemplar mit eigenen Augen gesehen hatte.

Menschen sahen das Geisterwesen selten

In den folgenden Jahrzehnten galt dieses Tier beinah als eine Art Geisterwesen, das die Menschen – abgesehen von den wenigen Fällen, in denen Wissenschaftler ein in der Nähe eines Fischerdorfs angespültes Exemplar fanden – nur selten zu Gesicht bekamen. Die Forscher fragten sich, ob vielleicht die lokale Totoabafischerei das Überleben der Vaquitas gefährdete. Totoabas sind sehr begehrte Vertreter der Umberfische und versammeln sich jeden Frühling zur Fortpflanzung in den nährstoffreichen Gewässern vor Santa Clara. Mit einem Gewicht von etwas mehr als 45 Kilogramm ist der Totoaba genau so groß wie der Vaquita, der wiederum nur etwa ein Drittel so groß ist wie ein typischer Vertreter der Schweinswale. Es überrascht also nicht sonderlich, dass sich beide Arten in denselben Kiemennetzen verfangen.

1975 befürchteten Wissenschaftler ernsthaft einen Zusammenbruch der Totoababestände, und als Konsequenz verbot die mexikanische Regierung den Fang der Tiere. Drei Jahre später wurde ein neues Gesetz erlassen, das auch die Vaquitas unter Schutz stellte, wenngleich außer den Fischern nur wenige Menschen diesen Meeressäugern je begegnet waren. Im Gegensatz zu den frechen Delfinen und den neugierigen Seelöwen hassen die Kalifornischen Schweinswale Boote und vermeiden tunlichst jede Begegnung mit Menschen. Allerdings ist es nicht gerade einfach, ein Tier vor dem Aussterben zu bewahren, über dessen Lebensweise die Forscher praktisch nichts wissen. Dies änderte sich jedoch 1985, als der Biologe Alejandro Robles, genannt »Waffles«, nach Santa Clara kam. Eigentlich sollte der junge, engagierte Doktorand vom Instituto Technológico y de Estudios Superiores de Monterrey am Standort Guaymas untersuchen, inwieweit der Totoaba tatsächlich gefährdet war oder ob sein Fang wieder freigegeben werden könnte. Doch in Wirklichkeit war Waffles darauf aus, den mysteriösen Vaquita zu finden. Schon bald erkannte der Wissenschaftler, dass das Schicksal beider Lebewesen untrennbar miteinander verflochten war.

Bedrohte Art | Die Vaquitas am Golf von Kalifornien könnten schon im Jahr 2018 gänzlich verschwunden sein, befürchten Wissenschaftler. Kaum 30 Tiere sollen die Fischerei in der Region überlebt haben.

Es dauerte nicht lang, bis Waffles die ortsansässigen, illegalen Totoabafischer in den küstennahen Gewässern entdecke, und er beobachtete, wie sie vor den Augen des am Strand stehenden Aufsichtsbeamten der Fischereibehörde ihren Fang aus dem Meer zogen. Der Fischereiaufseher machte keinerlei Anstalten, die Wilderer zu stoppen oder gar zu verhaften; vielmehr schien es, als würde er sie bei ihrer unerlaubten Tätigkeit bewachen. Damals hegten die Fischer noch keinerlei Misstrauen gegenüber Biologen, und sie luden Waffles ein, auf ihren Booten mitzufahren und dabei zu helfen, die illegal ausgelegten Netze einzuholen. Doch an einem Frühlingstag zogen sie einen schockierenden Fang aus dem Meer: zwei adulte Vaquitas sowie zwei Jungtiere. Der Anblick einer gesamten leblosen Schweinswalfamilie sei für ihn »ein sehr trauriger Moment« gewesen, erinnert sich Waffles, ein kräftiger und normalerweise fröhlicher Mann Ende fünfzig. »Doch gleichzeitig erkannte ich auch den wissenschaftlichen Wert jener Exemplare.«

Auffällige Gesichtszeichnung im dunklen Wasser

Waffles einziger Gedanke galt den vielen Fragen, die diese gefangenen Vaquitas beantworten würden, wenn man sie nur in einem Labor untersuchen könnte. Die kleinsten Cetaceen der Welt sind auffällig gezeichnet: Ihre Augen werden von großen, schwarzen Ringen umrahmt, und auch ihr Maul erscheint wie mit einem dicken, schwarzen Lippenstift nachgezogen. Was nützt eine solche Gesichtszeichnung in Gewässern mit einer Sicht gleich null? Und wovon ernähren sich diese Tiere? Waren die gefangenen Exemplare gesund oder eventuell durch die Wasserverschmutzung beeinträchtigt?

Nachdem die örtliche Fischereigenossenschaft dem Forscher erlaubt hatte, die Tiere in ihrer Einrichtung einzufrieren, schnappte sich Waffles die beiden ausgewachsenen Tiere, um die zehnstündige Busfahrt Richtung Süden nach Guaymas anzutreten. Dort sollten Biologen seines Forschungsinstituts die Meeressäuger gründlich untersuchen. Als der Wissenschaftler mit den zwei schweren, fest verpackten Kadavern im Gepäck den Bus bestieg, musterte ihn der Busfahrer argwöhnisch und fragte, was um alles in der Welt er da bei sich habe. »Vaquitas«, antwortete Waffles. »Aha, so etwas wie Eisenholz?«, fragte daraufhin der Fahrer und meinte eine harte Holzart, die man in der Gegend zur Herstellung von Skulpturen verwendete. »Äh, ja«, entgegnete der Biologe und nahm im Bus Platz; allerdings hatte er nicht bedacht, dass ein Zollkontrollposten auf der Strecke lag. Zum großen Entsetzen des Busfahrers zogen die Zollbeamten prompt die beiden im Auftauen begriffenen Tiere aus dem Bus und verlangten die dazugehörigen Papiere. Waffles legte eine Genehmigung für Walknochen vor und betete, dass sich die Beamten das Schriftstück nicht allzu genau ansehen würden. Die Männer waren jedoch eher ratlos und wussten nicht recht, was sie tun sollten, während die übrigen Passagiere angesichts der Verzögerung zunehmend ärgerlich wurden. »Darum sagte ich schließlich: ›Okay Leute, wenn ihr sie haben wollt, dann nehmt sie euch‹«, erinnert sich Waffles rückblickend. »Doch die Zollbeamten entgegneten nur: ›Na ja, was sollen wir schon damit anfangen. Alles klar, ihr könnt weiterfahren‹.«

Die für beide Seiten vorteilhafte Beziehung zwischen Fischern und Wissenschaftlern setzte sich über viele Jahre fort. Von mexikanischen und US-amerikanischen Biologen durchgeführte Autopsien bestätigten den Verdacht, dass es sich bei den Meeressäugern um Bodenfresser handelte, die sich nur alle zwei Jahre fortpflanzten. Doch eine ganz entscheidende Frage blieb unbeantwortet: Warum gab es so wenige dieser Tiere? Die naheliegende Antwort schienen die Fangnetze der Totoabas zu sein, denn alle bisher gefundenen Vaquitas waren aus ebendiesen Netzen tot geborgen worden.

Fehlendes Süßwasser als Ursache?

Allerdings ließ diese Argumentation eine weitere, ganz offensichtliche mögliche Ursache außer Acht: den Colorado. Seit fast einem Jahrhundert hatten die USA Dämme entlang des Flusses gebaut, um die Landwirtschaft und die expandierenden Kommunen mit Wasser zu versorgen. In den 1980er Jahren waren der Wasserstand und die Fließgeschwindigkeit des Colorado schließlich so gering, dass er die Cortés-See nicht mehr erreichte und somit den oberen Golf von Kalifornien von einer seit Jahrtausenden bestehenden Süßwasserzufuhr abschnitt. An der mittlerweile ausgetrockneten Einmündung des Colorado in den Golf verwandelten sich Ökosysteme aus Mesquitebäumen und Ästuaren auf einer Länge von vielen hundert Kilometern in Staub und Salz. Die Wissenschaftler machten sich folglich ihre Gedanken, ob es wirklich Zufall war, dass eins der bedeutendsten Artensterben des nordamerikanischen Kontinents nur wenige Kilometer von einer seiner verheerendsten Umweltkatastrophen entfernt stattfand.

Manuel Salvador Galindo, zu jener Zeit Ozeanograf an der Universidad Autónoma de Baja California und jetzt im Ruhestand, war der festen Überzeugung, dass es eine Verbindung gab und verwies auf die stark verringerten Garnelenbestände im nördlichen Golf von Kalifornien, die »etwa zur selben Zeit wie das Vaquitaproblem auftraten«, so der Forscher. Die wissenschaftliche Frage hinsichtlich eines möglichen Zusammenhangs der beiden Ereignisse, die zunächst aus reiner Neugier gestellt wurde, sollte sich schon bald zum Kernstück eines politischen Kampfes im Fokus des öffentlichen Interesses entwickeln, der jegliches Handeln zur Rettung des Vaquita zum Scheitern verurteilte.

Für den Nachweis einer Beeinträchtigung der scheuen Schweinswale durch die veränderten Umweltbedingungen im oberen Golf von Kalifornien stellten Autopsien das Hauptwerkzeug der Wissenschaftler dar. Der König der Obduktionen hieß Jorge Torres, ein Forscher, der damals ebenfalls am Instituto Technológico de Monterrey tätig war. »Wenn man mir eine Katalognummer nennt, weiß ich noch genau, um welchen Vaquita es sich handelte. Nummer 930206 zum Beispiel war ein trächtiges Weibchen«, erklärt er mit sichtlichem Stolz. »Fünf Jahre lang war das mein Leben – ganz in das Innerste des Vaquita vertieft.« Torres fand heraus, dass männliche und weibliche Kalifornische Schweinswale unterschiedlich geformte Zungenbeine besitzen; ein Umstand, der auf individuelle, geschlechtsspezifische Formen der Lautäußerung hindeutet. An den »Händen« der Tiere entdeckten der Wissenschaftler und andere zudem einen zusätzlichen Finger, der zu einer Verbreiterung der Flossen führt; allerdings kann sich niemand dieses Phänomen so recht erklären. Und so ging die Forschung Schritt für Schritt voran. Der Vaquita stellte sehr wohl eine gefährdete Art dar, das stand außer Frage, aber er war nichts, über das sich Fischer oder die breite Öffentlichkeit besonders viele Gedanken machten.

Schweinswal wird zum Spielball politischer Interessen

Doch dann sollte das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft treten. Die Verhandlungen hatten im Jahr 1990 begonnen, und der damalige mexikanische Präsident Carlos Salinas erkannte ziemlich schnell, dass eins der größten Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung sich auf den negativen Umweltauswirkungen gründete, die mit NAFTA einhergehen würden. Nach diversen Expertengesprächen, unter anderem auch mit dem berühmten Ozeanografen Jacques-Yves Cousteau, konzentrierte sich Salinas auf den Vaquita. Der Schutz dieses kleinen, in Not geratenen Schweinswals unmittelbar an der US-amerikanischen Grenze würde ein passendes Aushängeschild seines Bekenntnisses zur ökologischen Verantwortung abgeben. Über Nacht wurde der Kalifornische Schweinswal somit zu einem Spielball politischer Interessen.

»Auf einmal riefen mich all diese Leute an und fragten: ›Was haben der Vaquita und der Totoaba mit dem Freihandel zu tun?‹«, erinnert sich Waffles. »Ich war Biologe und wusste kaum, was der Begriff eigentlich bedeutet.« In einer äußerst öffentlichkeitswirksamen Zurschaustellung ihrer Verpflichtung zum Umweltschutz wies die mexikanische Regierung ein merkwürdig bemessenes Meeresschutzgebiet für den Vaquita im nördlichen Golf von Kalifornien aus. Dieses Reservat war der erste Schritt in Richtung eines sich stetig verschlechternden Verhältnisses zwischen Wissenschaftlern und der ortsansässigen Bevölkerung. Die Biologen waren auf die Fischer angewiesen, denn diese lieferten ihnen Vaquitas für wissenschaftliche Untersuchungen. Doch das Fangen der Tiere im Schutzgebiet galt jetzt als eine Straftat – zumindest auf dem Papier. Zudem gab es für die Schutzzone keinerlei Bewirtschaftungsplan, keine Regulierungen und niemanden, der etwaige Bestimmungen hätte durchsetzen können. Große Fischtrawler waren zwar theoretisch verboten, hielten sich aber auch Jahre später noch immer in den Gewässern auf. Und auch die Fischer vor Ort hatten keinerlei Ahnung von den innerhalb des Schutzgebiets geltenden Vorschriften.

Infolgedessen hegten die Menschen große Zweifel an der Ernsthaftigkeit jener Bestimmungen. Und dies zu Recht, denn bis zum heutigen Tag ist nicht ein einziger Fischer oder Zwischenhändler wegen Wilderei im Gefängnis gelandet. Ein Teil des Problems bestand darin, dass die Regierung in Mexiko-Stadt zwei völlig verschiedene Botschaften aussandte. Während die oberste Umweltbehörde des Landes, SEMARNAT, erklärte, der vom Aussterben bedrohte Kalifornische Schweinswal müsse geschützt werden, forderte die nationale Fischereibehörde, die heutige CONAPESCA, einen Schutz der gewerblichen Fischerei. Bizarrerweise argumentierte die CONAPESCA sogar, der Vaquita würde gar nicht existieren, er sei entweder ausgestorben oder eine Erfindung amerikanischer Umweltschützer – eine Behauptung, die auch heute noch mancherorts zu hören ist.

Vaquita ist keine Erfindung der Umweltschützer

Die Fehlinformationen eskalierten derart, dass Wissenschaftler dem Minister für Landwirtschaft und Umwelt schließlich während eines stilvollen Frühstückstreffens einen toten Vaquita auf einem Dessertwagen präsentierten, nur um ihn von der Existenz dieses Tiers zu überzeugen. Die CONAPESCA schwenkte daraufhin um, verwies auf den versiegenden Colorado und schrieb den gierigen Amerikanern und ihren Dämmen die Schuld am Rückgang des Vaquita zu. Autopsien der Meeressäuger ließen allerdings keine Anzeichen von Krankheit oder Hunger erkennen. Wie sich herausstellte, konnte sich der Kalifornische Schweinswal gut an veränderte Nahrungsbedingungen anpassen.

Galindo, ehemaliger Ozeanograf der Universidad Autónoma de Baja California, Anhänger der Colorado-Theorie und oberster Sprecher dieses Lagers, räumt heute ein, er habe keine direkten Beweise, dass der Zustand des Flusses den Vaquita tatsächlich beeinträchtige. Dies läge jedoch daran, dass nicht die korrekten Tests durchgeführt worden seien, so Galindo. Fischer berufen sich gern auf den Ozeanografen. »Ich kenne Dr. Galindo«, erzählt Mario Alberto, ein Veteran, der seit 25 Jahren mit seinem Boot hinausfährt. »Das Vaquita-Problem hat nichts mit uns Fischern zu tun, es ist ein Umweltproblem.«

1999 war die Zahl der Vaquitas immer noch rückläufig. Der Vorschlag, neue Schutzgebiete auszuweisen, stieß auf wachsende Verbitterung. Als die mexikanische Zentralregierung ein temporäres Fangverbot für Fische im nördlichen Golf von Kalifornien erließ, das per Definition auch die Totoabas mit einschloss, setzten die Fischer von Santa Clara mehrere Lastwagen der Regierung in Brand und inszenierten eine symbolische Entführung örtlicher Beamter, die nachfolgend aus der Luft befreit werden mussten. Inmitten dieses Chaos kam eine dritte Theorie auf, die den Rückgang des Kalifornischen Schweinswals zu erklären versuchte: Inzucht. Verfechter dieser Annahme behaupteten, in kleinen Populationen träten zuweilen gewisse »letale« genetische Kombinationen auf, die zu einer weit verbreiteten Mortalität führten.

Inzucht kein Problem, trotz kleiner Population

Das Phänomen war bereits aus Skandinavien bekannt, wo isolierte Populationen von Schlangen und Wölfen eine gesteigerte Anfälligkeit gegenüber Erbkrankheiten aufwiesen. Vertreter der mexikanischen Regierung hätten daraufhin dieses Argument benutzt und behauptet, der Vaquita sei »zum Aussterben verurteilt«, weiß der Wissenschaftler Lorenzo Rojas zu berichten, der in den späten 1990er Jahren an der Genetik des Vaquita forschte. Jetzt leitet der Forscher eine multinationale Gruppe zur Rettung dieser Tiere, die auch der mexikanischen Regierung beratend zur Seite steht. Nachdem er 75 Kalifornische Schweinswale, die ihm von Fischern zur Verfügung gestellt wurden, genetisch untersucht hatte, stellte Rojas fest, dass Inzucht keine Gefahr für diese Tiere darstellt. Da ihre Populationen schon immer klein und isoliert waren, hatten die Vaquitas offenbar bereits alle potenziell letalen Gene ausgemerzt. Wenn man die Schweinswale nur vor den Fischernetzen bewahren könnte, wären ihre Bestände theoretisch in der Lage, sich zu erholen.

Seit jener Zeit ist Rojas zu einem der streitbarsten Fürsprecher des Vaquita geworden und hat den Kampf gegen die Flut von Fehlinformationen, die Gruppen wie die CONAPESCA verbreiten, zu seiner Mission erklärt. »Seit 20 Jahren bin ich bei keinem Treffen gewesen, wo nicht irgendwelche Leute aus der Fischerei sitzen und sagen, das Problem sei der fehlende Wasserzufluss des Colorado«, macht Rojas deutlich. Und häufig verwandeln sich diese Zusammenkünfte in wahre Schreiwettbewerbe. Es gibt nicht viele Menschen, die Rojas weniger leiden kann als Galindo, den er als eine Schachfigur der großen Fischereiinteressenvertreter ansieht. Der Ozeanograf Galindo dagegen bezichtigt den Genetiker Rojas, schlampige wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Nur in einem einzigen Punkt herrschte damals allgemeines Einvernehmen: Die illegale Totoabafischerei war völlig außer Kontrolle geraten. In den frühen 2000er Jahren wurden die Fischer, die einst das zentrale Bindeglied zur Gewinnung von Proben für die Wissenschaftler darstellten, zum Feind erklärt.

Baut Hotels, anstatt Fische zu fangen!

Doch nicht immer stand die Regierung diesem Berufsstand ablehnend gegenüber. Im Jahr 2007 bot sie Fischern, die ihre Fangerlaubnis abgaben, Geld für Investitionen in den Ökotourismus an. Baut Hotels, sagte man den Menschen, und die Urlauber werden in Scharen in die nördliche Golfregion strömen. Doch keiner hatte je danach gefragt, ob die Touristen überhaupt kommen wollten. Mario Mora Rodríguez, seit mehr als 20 Jahren Fischer, war einer derjenigen, die sich auf diesen Deal einließen. Der Mexikaner beteuert, er habe ernsthaft geglaubt, zur Rettung des Vaquita beizutragen, indem er sich und seiner Familie eine neue Existenz aufbaute. Er errichtete eine Reihe von Bungalows, die er die Touristenhütten nannte, doch niemand kam. Heute stehen die Gebäude leer, direkt neben vier weiteren verwaisten Hotels, und die meisten von Rodríguez' Kindern sind inzwischen auf der Suche nach Arbeit fortgezogen.

Schließlich erteilte die CONAPESCA im Auftrag der Regierung neue Fanggenehmigungen an diverse Fischer, die sich allerdings häufig über das in den Schutzgebieten geltende Fangverbot hinwegsetzten. 2008 machten Wissenschaftler mit Hilfe von Unterwasserabhörgeräten nur noch 245 Kalifornische Schweinswale ausfindig; die Anzahl der Tiere hatte sich also seit den 1990er Jahren um etwa acht Prozent pro Jahr verringert. Von 2008 bis 2010 verlangsamte sich der Rückgang der Individuenzahlen, und diese positive Nachricht weckte vorübergehend Hoffnung. Doch ein zunehmend eskalierender Drogenhandel machte sämtliche Chancen einer Erholung der Vaquitabestände zunichte. Präsident Felipe Calderón erklärte den mexikanischen Drogenkartellen den Krieg und leitete damit eines der blutigsten Kapitel in der jüngsten Geschichte des Landes ein. Neben dem Drogengewerbe weiteten die Kartelle ihre Geschäfte auch auf Videopiraterie, Prostitution, Entführungen und – im Norden von Baja California – den Totoabaschmuggel aus. »Uns fiel auf, dass der Handel mit Totoabas an denselben Orten stattfand, an denen auch das Sinaloa-Kartell operiert«, erklärt Andrés Estrada, ein unabhängiger Journalist, der Monate in diversen Fischergemeinden auf den Spuren des illegalen Totoabahandels zugebracht hat. »Die Transferrouten waren sehr ähnlich.«

Jener Handel hatte jedoch nichts mit dem Totoaba als Speisefisch zu tun. Vielmehr ging es um seine Schwimmblase, die sich zu einer weit verbreiteten Ingredienz in der chinesischen Medizin entwickelt hatte. Da die ursprüngliche Quelle der Schwimmblasen, der Chinesische Bahaba, kurz vor der Ausrottung stand, orientierten sich die Händler zunehmend nach Mexiko, wo sie Preise von 10 000 US-Dollar (etwa 8800 Euro) pro Kilogramm für die begehrte Ware zahlten. Die Wilderer schnitten den Fischen an Land die Bäuche auf, rissen die Schwimmblasen heraus und ließen die großen Tiere einfach im Sand liegen, wo sie in der Sonne verrotteten.

»Es gibt keine Bestrafungen, niemand wird verurteilt«
Andrés Estrada

Wie Estrada und zwei mutige Kollegen, Alejandro Melgoza und Enrique Alvarado, kürzlich in einer Reportage berichteten, schaffen die Drogenhändler nicht nur Totoabas über die Grenze nach Los Angeles für den weiteren Transport nach China; bewaffnete Männer bewachen sogar die Fischer beim Anlanden ihres Fangs, denn Schwimmblasen werden mittlerweile zu ähnlichen Preisen wie Kokain oder Methamphetamin gehandelt. Die Totoabawilderei ist zu einem festen Bestandteil der organisierten Kriminalität geworden – im gleichen Maß wie der ungezügelte Drogenkonsum unter den Fischern.

»Es gibt keine Bestrafungen, niemand wird verurteilt«, kritisiert Estrada, der regelmäßig beobachtet, wie bewaffnete Männer den Fischern Methamphetamin verkaufen, während sie diesen beim Entladen ihrer Boote Rückendeckung geben. Die zur Kontrolle der Wilderer abgestellten Personen sind nicht dahingehend geschult, die Körperteile bestimmter Tiere, etwa Schwimmblasen, identifizieren zu können. Die Umweltpolizei ist zwar dazu in der Lage, hat aber wiederum nicht die Befugnis, Strafmandate auszustellen oder Verhaftungen vorzunehmen. Als ich die Gegend besuchte, sah ich mit der Überwachung der Fänge beauftragte Beamte der CONAPESCA, wie sie mit Fischen beladene Lastwagen einfach durchwinkten, ohne näher hinzuschauen, während nur wenige Kilometer entfernt Totoabakadaver wie weggeworfener Müll die Strände übersäten.

2014 wurde Samuel Gallardo, einer der Vorsitzenden einer Fischereigenossenschaft, Berichten zufolge von einem Rivalen des Sinaloa-Kartells niedergeschossen, vermutlich wegen einer Auseinandersetzung über Schmuggelrouten. Nur wenige Jahre später wurde ein weiterer Fischer, José Isaías Armenta, von örtlichen Polizisten erschossen, weil er angeblich mit Totoabas gehandelt hatte; in Santa Clara erzählt man sich allerdings, dass er wegen seiner Weigerung, Bestechungsgelder zu zahlen, sterben musste. Nach Jahren eines langsameren Rückgangs brach der Vaquitabestand zwischen 2011 und 2015 um 60 Prozent ein und ließ weniger als 100 lebende Exemplare zurück. In einem letzten Versuch zur Rettung des Kalifornischen Schweinswals verhängte die mexikanische Regierung 2015 ein zweijähriges Moratorium für alle Arten der Kiemennetzfischerei im oberen Golf von Kalifornien, darunter auch Garnelen und ein kleinerer Fisch namens Corvina. Wenn auch nicht so wertvoll wie die Garnelen, sorgten die Corvinas doch seit jeher für Hunderte von Arbeitsplätzen in der nördlichen Golfregion: von den Fischern, die sie aus dem Meer zogen, bis hin zu den Menschen in den Kleinstädten, die die Fische säuberten und für den weiteren Versand vorbereiteten.

Nur Reiche hatten Fangerlaubnis

Vor der Verhängung des Moratoriums hielten Fischer mit einer Fangerlaubnis für Corvinas die lokale Wirtschaft in Schwung. Nun zahlt ihnen die Regierung pro Fanggenehmigung fast 2000 US-Dollar (etwa 1750 Euro) im Monat, damit sie nicht mehr ihre Netze auslegen. Doch nur die reichsten Fischer konnten sich den Erwerb einer Fangerlaubnis leisten, was dazu führte, dass nur wenige Menschen im Ort über eine solche verfügen. Die zuvor bei den Besitzern von Fangerlaubnissen angestellten Fischer erhalten jetzt rund 400 US-Dollar (etwa 350 Euro) pro Monat, was bei Weitem nicht ausreicht, um die grundlegenden Lebenshaltungskosten zu decken. Und jene Menschen, die einst an Land mit dem Säubern der Corvinas beschäftigt waren, bekommen nicht einen einzigen Cent. Mit anderen Worten: Die Regierung zahlt den Reichsten ein Vermögen, während sich die Ärmsten ohne staatliche Unterstützung durchschlagen müssen.

Enrique Assaf, den sie »Gringo« nennen, besitzt sieben Fanglizenzen und beschäftigt zwölf angestellte Fischer. Die Regierung zahle ihm rund 10 000 US-Dollar (etwa 8740 Euro) pro Monat, damit er seine Boote nicht hinausfahren lasse, berichtet der Fischer, der das Geld in den Bau eines Hotels und in einen Verleih für Geländefahrzeuge investierte. Assaf wirft der Regierung die ungleiche Bezahlung der Fischer vor und macht sie gleichermaßen dafür verantwortlich, das Konzept zur Erhaltung des Vaquita gründlich vermasselt zu haben.

Im März 2017 kündigte die mexikanische Regierung an, die Fanggenehmigungen für ein weiteres Jahr auszusetzen und somit das Moratorium zu verlängern. Das war der Moment, in dem die Fischer auf die Straßen gingen und Regierungsfahrzeuge anzündeten; die Menschen allerdings behaupten beharrlich, der eigentliche Zündfunke sei ein betrügerischer Staatsbeamter gewesen, der versucht habe, sich finanziell zu bereichern. »Du weißt nicht, was morgen oder übermorgen passieren wird«, erzählt der frühere Fischer Alfonso Pita. »Ich habe eine Frau und zwei Töchter, die eine ist alleinerziehend und hat auch zwei Kinder. Was soll ich machen? Das bisschen Geld, das mir blieb, habe ich in mein Boot investiert.« Es gibt einfach keine Arbeit – weder für ihn noch für seine Töchter.

Wilderer geben sich als indigene Corvinafischer aus

Das Fleisch der Corvina ist sehr schmackhaft, und auch ihre Schwimmblase findet auf dem chinesischen Markt Abnehmer, wenn auch nur zu einem Bruchteil des Preises, der für das entsprechende Organ der Totoabas gezahlt wird. Mit Letzteren können Wilderer in einer Nacht gute 5000 bis 10 000 US-Dollar (etwa 4370 bis 8740 Euro) verdienen. Doch wegen des Moratoriums ist es niemandem erlaubt, Corvinas zu fischen – mit Ausnahme der Cocopa, einer indigenen Gemeinschaft im Norden des Landes. Mexikanische Beamte und Umweltschützer berichten, viele der illegalen Totoabafischer hätten es irgendwie geschafft, an Fanggenehmigungen der Cocopa zu gelangen und würden – als indigene Covinafischer getarnt – ihrer verbotenen Tätigkeit nachgehen. »Fremde sind in unsere Gemeinschaft eingedrungen«, bestätigt Inés Hurtado Valenzuela, Leiterin einer Fischereigenossenschaft der Cocopa. Wenn die Angehörigen ihres Volks nach Totoabas fischten, würden sie diese mit Sicherheit verzehren, statt lediglich die Schwimmblase herauszureißen und die Tiere dann verrotten zu lassen, wie es die Wilderer täten, betont Valenzuela.

Ihre Behauptung lässt sich leicht überprüfen, denn sie nimmt mich auf eine Fahrt zu den Fanggründen der Cocopa mit. Wenige Kilometer südlich der Stadt verwandelt sich die von Mesquitebäumen geprägte Landschaft in karges Schlickwatt und Salzpfannen – die verheerenden Folgen des aufgestauten Colorado. Doch ganz plötzlich taucht inmitten dieser Ödnis ein ausgedehntes, provisorisch errichtetes Dorf auf. Hunderte von Fischern bringen Corvinas über einen Kanal, der in den Golf von Kalifornien mündet, an Land. Während wir den Wasserlauf entlangfahren, treibt ein toter Totoaba mit herausgerissenen Eingeweiden an uns vorbei. Weiter unten sehen wir Dutzende von Individuen, die in aller Eile geschlachtet und achtlos weggeworfen wurden. Entlang des Kanals gibt es nur eine Stelle, um Corvinas (oder illegal gefangene Totoabas und deren Schwimmblasen) an Land zu bringen, doch als wir den dortigen Kontrollposten der CONAPESCA passieren, werfen die Beamten auf die Corvinas hinten in unserem Lastwagen nur einen kurzen Blick.

Währenddessen ist der Kalifornische Schweinswal weiterhin im Verschwinden begriffen. Von 2015 bis 2016 verringerte sich der Bestand um weitere 50 Prozent auf nur noch 30 Tiere, und im Frühjahr 2017 wurden fünf tote Exemplare entdeckt. Schuldige für die Ausrottung des Vaquita zu finden, ist nicht besonders schwierig: Es ist die CONAPESCA, die sich sträubt, Druck auf die Fischer auszuüben. Es sind die Fischer, die die Wilderer in ihren Reihen nicht zur Rede stellen. Es ist die SEMARNAT, die sich weigert, gefährdete Arten ernsthaft zu schützen. Es sind die Vollzugsbehörden, die keinen Finger rühren. Es ist die Regierung in Mexiko-Stadt, die auf dem Papier Schutzgebiete einrichtet (mittlerweile sind es drei), die auf dem Meer keinerlei Bedeutung haben. Es sind die Amerikaner, die dem Colorado Wasser entnehmen. Es sind die Biologen und Naturschützer, die ständig die machtlose einheimische Bevölkerung tadeln. Es sind die Mächtigen unter den Ortsansässigen, die dafür sorgen, dass alle anderen arm bleiben. Es sind die Chinesen, die überhaupt erst den Markt für die Schwimmblasen geschaffen haben. Und es sind die Drogenkartelle, die die Wilderei weiter anheizen.

Vorbote des Aussterbens im 21. Jahrhundert

Doch ganz gleich, wer die Verantwortung für dieses Verschulden trägt – der Vaquita jedenfalls ist mehr als nur ein einsames Lebewesen, das seinem eigenen traurigen Untergang in den trüben Wassern des Kalifornischen Golfs zuschaut. Vielmehr stellt er einen Vorboten des Aussterbens im 21. Jahrhundert dar. Niemand kann voraussagen, welches Tier als Nächstes an der Reihe sein wird, doch wir können es beschreiben. Es wird aus einer kleinen, isolierten Population kommen. Es wird sich um ein äußerst lukratives Lebewesen handeln oder mit einem solchen in Zusammenhang stehen. Und es wird in einem Entwicklungsland heimisch sein, in dem die staatlichen Einrichtungen versagen.

Experten können Dutzende anderer Spezies aufzählen, die mit ähnlichen Problemen wie der Kalifornische Schweinswal konfrontiert sind. Auch der Gangesdelfin lebt in einem geografisch begrenzten Gebiet und hat die Angewohnheit, sich in Fischernetzen zu verheddern; innerhalb von 60 Jahren sind seine Populationen um mehr als 50 Prozent zurückgegangen, so dass heute weniger als 2500 lebende Exemplare existieren. Die Zahl der an der Nordküste Südamerikas lebenden Dolchnasenhaie hat sich in zehn Jahren um 90 Prozent verringert; die Gründe liegen in der langsamen Fortpflanzung dieser Tiere sowie in der unzureichend regulierten Makrelenfischerei. In Zentralasien töten die Hirten von Kaschmirziegen wahllos vom Aussterben bedrohte Schneeleoparden, um ihre Tiere zu schützen, mit denen sie Luxusmärkte im Ausland versorgen. Nashörner, Elefanten und Schildhornvögel sind ebenfalls wertvolle Tiere, die kriminelle Netzwerke unter Ausnutzung schwacher lokaler Institutionen von Afrika und Indonesien aus illegal nach Asien verkaufen. Und auch Schuppentiere – kleine, von Hornschuppen bedeckte Säugetiere – werden von Wilderern in Asien gefangen und in geheimer Absprache mit der Regierung auf den dortigen Schwarzmärkten gehandelt.

Keine Chance ohne die Hilfe der Fischer

In gewisser Weise ist der Vaquita im Kern desselben Problems gefangen, das einen Großteil Mexikos und auch andere Entwicklungsländer im wahrsten Sinn erstickt. Das Land ist einfach nicht in der Lage, all seine Gesetze zu vollstrecken – insbesondere angesichts der dort herrschenden organisierten Kriminalität. Doch eine weitaus schwieriger zu akzeptierende Lektion ist vielleicht folgende: Auch wenn es einfach ist, den Vaquita als einen Schatz zu betrachten, der der ganzen Welt gehört, sind es in Wirklichkeit die Fischer der Region, die dieses Lebewesen ihr Eigen nennen dürfen. Sie waren die Ersten, die dieses Tier entdeckten, sie gaben ihm einen Namen und stellten den Wissenschaftlern Proben und Gefrierschränke zur Verfügung. Diese informierten dann die Gesetzgeber, die wiederum Gesetze zur Beschränkung der Fischerei erließen. Ohne die Hilfe dieser Fischer ist die Erhaltung des Vaquita ein hoffnungsloses Unterfangen.

Der größte Fehler der Umweltschützer bestand folglich darin, dass sie Biologen eine Arbeit erledigen ließen, die eigentlich in den Aufgabenbereich von Sozialarbeitern gehört hätte. Zu jenen Biowissenschaftlern zählte auch Catalina López-Sagástegui. Im Jahr 2006 ergriff die idealistische Forscherin begeistert die Gelegenheit, an der Erhaltung mariner Säugetiere mitzuwirken. Nachdem sie bei Initiativen zum Schutz der Grauwale in der Nähe von Baja California tätig gewesen war, zog es die Wissenschaftlerin in die nördliche Golfregion. López-Sagástegui merkte schnell, dass es sich bei der Erhaltung des Kalifornischen Schweinswals um kein gewöhnliches Projekt handelte. Die Fischer schrien einander regelmäßig an und verließen mitten in einer Versammlung einfach den Raum. Verwirrt und gleichermaßen fasziniert fragte sich die Wissenschaftlerin, warum diese Leute nicht in der Lage waren, eine Lösung zu finden, die sie alle weiterbringen würde.

»Ich kann es nicht glauben, dass nur noch 30 Vaquitas übrig sind und wir immer noch dieselben alten Lösungsvorschläge auf dem Tisch haben«
Catalina López-Sagástegui

Zehn Jahre hat López-Sagástegui als ein Teil dieser Fischergemeinde verbracht und dabei erkannt, dass die Probleme, die den Vaquita bedrohen, absolut nichts mit der Wissenschaft zu tun haben, sondern einzig und allein mit dem menschlichen Verhalten zusammenhängen. Die Forscherin beklagt, sie und viele andere seien schlecht darauf vorbereitet gewesen, mit den beteiligten Kräften angemessen umzugehen. »Naturschützer sind nun mal keine Experten für Sozialentwicklung. Ich kann es nicht glauben, dass nur noch 30 Vaquitas übrig sind und wir immer noch dieselben alten Lösungsvorschläge auf dem Tisch haben.« Die heute am University of California Institute for Mexico and the United States, einer grenzübergreifenden Einrichtung, tätige Biologin sagt rückblickend, sowohl Regierung als auch Umweltorganisationen hätten versucht, durch einen Wink mit dem Zauberstab die Fischer in etwas anderes zu verwandeln – ohne auch nur die leiseste Ahnung, was das sein sollte. Statt all das anzuordnen, was den Fischern verboten wurde, etwa das Auslegen von Kiemennetzen oder der Fang von Totoabas, hätten sich die Verantwortlichen besser darauf konzentriert, neue Geschäftsmöglichkeiten zu schaffen und nachhaltige Strategien zu entwickeln.

Heute jedoch gibt es keine sinnvollen Alternativen mehr – bis auf eine. In einer letzten verzweifelten Anstrengung wollen Biologen aus Mexiko und den USA im Oktober 2017 mit Hilfe von speziell ausgebildeten Delfinen der US-Navy versuchen, so viele Kalifornische Schweinswale wie möglich zusammenzutreiben, einzufangen und nachfolgend in Gefangenschaft zu züchten. Auch wenn diese Art der Aufzucht und Haltung bereits Landtiere wie den Kalifornischen Kondor vor dem Aussterben bewahrte, kam das Verfahren nie zuvor bei marinen Säugetieren erfolgreich zur Anwendung. Und noch nie hat jemand absichtlich einen Vaquita gefangen, geschweige denn lang genug am Leben erhalten, damit dieser sich fortpflanzen konnte.

Es ist sehr wohl möglich, dass sich der Kalifornische Schweinswal, ähnlich wie sein naher Verwandter, der Gewöhnliche Schweinswal, leicht fangen und ohne Probleme in die menschliche Obhut überführen lässt. Doch es kann genauso gut passieren, dass ein solches Unterfangen misslingt. Sollte das Experiment scheitern, »dann haben wir es zumindest versucht«, meint Barbara Taylor, Meeresbiologin bei der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), die an der Durchführung des US-Navy-Projekts beteiligt ist und ihr gesamtes bisheriges Forscherleben mit der Untersuchung gefährdeter Walarten verbracht hat. »Jetzt gilt: Alles oder nichts.« Das Fortbestehen einer ganzen Art ist zurzeit von 30 Individuen und einem Plan zur Haltung dieser Tiere in Gefangenschaft abhängig, wobei man nur beten kann, dass er auch funktioniert.

Viele Forscher sind müde und resigniert

Dieser letzte Versuch wird allerdings ohne die Unterstützung jener Wissenschaftler stattfinden, die den Grundstein für die Vaquita-Forschung legten. Viele Kämpfer der ersten Generation sind von dem heftigen Zorn und den politischen Verstrickungen, die die Schlacht um die Erhaltung dieser Spezies begleiteten, ausgebrannt. Müde und resigniert angesichts der festgefahrenen Situation haben Torre und Waffles stillschweigend dem Schlagabtausch den Rücken gekehrt und anderswo eine Beschäftigung gefunden. Ironischerweise betreiben beide Forscher jetzt in Mexiko eine völlig neue und erstaunlich erfolgreiche Form des Artenschutzes.

1999 wurde Torres, der Meister der Obduktionen, Mitbegründer einer Non-Profit-Organisation namens COBI zur Wiederbelebung des Hummerfangs und anderer Arten der gewerblichen Fischerei. Bei jedem neuen Projekt stellen der Forscher und sein Team weniger die Bedürfnisse des jeweiligen Tiers, sondern die Belange der einheimischen Fischer in den Vordergrund. Bevor auch nur jemand das Wort »Erhaltung« ausspricht, haben bereits ausführliche Gespräche über die Zukunft der ortsansässigen Bevölkerung stattgefunden. Mit Hilfe dieses Ansatzes ist es Torres und seiner Organisation gelungen, ganze Dörfer und Gemeinden für ein so genanntes »grassroots ocean management« zu gewinnen, also einer Meeresbewirtschaftung, bei der auch die Menschen ein Mitspracherecht haben.

»Neben der Rettung der gottverdammten Arten müssen wir vor allem Vertrauen aufbauen«
Jorge Torres

Seit COBI eine Kooperation mit Fischern auf der Halbinsel Yukatan einging, ist bei der dortigen Hummerpopulation ein Zuwachs von 250 Prozent zu verzeichnen, während die Bestände anderer kommerzieller Arten um 130 Prozent anstiegen. »In grundlegenden Angelegenheiten arbeiten wir eng mit der CONAPESCA zusammen«, betont Torres. »Neben der Rettung der gottverdammten Arten müssen wir vor allem Vertrauen aufbauen.« Wenn er an das Debakel um den Vaquita zurückdenkt, kann Torres seine Frustration nur schwer unterdrücken. Trotz Bemühungen der besten Köpfe Mexikos und der USA um eine Lösung des Problems, hätten die Wissenschaftler immer nur ihre altbekannten Argumente hinsichtlich der Durchsetzung von Vorschriften, der Kiemennetze und des Colorado wiederholt, so der Vorwurf Torres. Ihr unerschütterliches Festhalten am eigenen Standpunkt und dem ihrer Behörden, anstatt zu kooperieren, war vernichtend.

Waffles leitet heute eine Organisation, die sich Northeast Sustainable nennt und in der Region von La Paz in Baja California, etwa 890 Kilometer südlich von Santa Clara, in ähnlicher Weise Naturschutz- und Erhaltungsstrategien von der Basis her aufbaut. Vor einigen Jahren trat die Organisation an eine Gruppe von Fischern heran, die in einem nahe gelegenen Schutzgebiet illegalen Fischfang betrieb, und bot diesen Menschen eine Alternative an. In gemeinschaftlicher Arbeit regenerierten sie daraufhin ein seit Langem ökologisch totes Ästuar wenige Kilometer von der größten Stadt der Region entfernt, um dort Muscheln anzusiedeln. Statt die Menschen vor Ort dafür zu bezahlen, dass sie keine Fische mehr fingen, gab die Organisation ihnen Geld für die Bewirtschaftung der Ressource, etwa für das Erfassen biologischer Daten, das Aussetzen von Muscheln und den Schutz der Muschelbänke vor Wilderern. Heute betreiben diese Fischer eine nachhaltige Muschelaquakultur im Wert von mehreren Millionen US-Dollar, und im Sommer dieses Jahres sollen die ersten Exemplare geerntet werden.

Während er mit mir durch La Paz fährt, bringt Waffles seine Traurigkeit darüber zum Ausdruck, dass ein solcher Wandel dem Vaquita nicht helfen konnte. Und als wir später in einem Restaurant sitzen und auf das Meer hinausblicken, sagt der Biologe: »Ich glaube wahrhaftig daran, dass die einzige Lösung für den Vaquita nur dann Wirklichkeit wird, wenn auch die Fischer seine Rettung wollen.« Der Wissenschaftler weist darauf hin, dass sich im Lauf der Geschichte noch nie eine Gemeinschaft von Menschen radikalen Veränderungen unterworfen habe, nur um eine Regierung oder eine Gruppe von ausländischen Weltverbesserern zufrieden zu stellen. Ganz gleich, ob man die Fischer einer Region möge oder hasse – sie seien die Einzigen, die bestimmte Arten vor dem Aussterben bewahren könnten, ergänzt Waffles. Im nördlichen Golf von Kalifornien sind die verschiedenen Gruppen in einem niemals endenden Kreislauf aus Schuldzuweisungen und Kampf gefangen. Doch überall auf der Welt werden vom Fischfang lebende Gemeinden einen tief greifenden Wandel durchmachen, um den Fischern und ihren Familien eine Zukunftsperspektive zu schaffen.

Auf einen der fünf toten Vaquitas, die man im Frühling dieses Jahres gefunden hatte, war wiederholt mit einem Messer eingestochen worden; vermutlich, weil jemand versucht hatte, ihn vor den Aufsichtsbeamten zu verstecken oder einfach nur aus purer Wut. Im Gegensatz dazu erzählt mir Waffles in La Paz von einem Gespräch, das er kürzlich mit der Tochter eines ehemaligen Wilderers führte, der jetzt ein Muschelfarmer ist. Auf seine Frage: »Womit verdient denn dein Vater sein Geld?«, bekam er als Antwort: »Mein Vater ist Renaturierungsexperte, bewirtschaftet eine Aquakultur … und er ist auch Fischer.«

Der Artikel ist im August 2017 unter dem Titel »Goodbye, Vaquita: How Corruption and Poverty Doom Endangered Species« im »Scientific American« erschienen.

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