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Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen


"Erinnere dich!" So lautet nach Jan Assmann, Professor der Ägyptologie in Heidelberg, der kulturelle Imperativ, der – in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise vermittelt und befolgt – die Ausbildung und spezifische Ausformung gesellschaftlicher Identität bestimmt. Assmanns in brillanter Wissenschaftsprosa geschriebenes Buch bietet im ersten Teil eine Theorie des für die Entstehung dieser Identität essentiellen "kulturellen Gedächtnisses". Im zweiten Teil wird die Tragfähigkeit dieser Theorie am Beispiel der drei frühen Hochkulturen Ägypten, Israel und Griechenland erprobt.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Erkenntnis, daß jede Gesellschaft um ihrer (Über-)Lebensfähigkeit willen eines besonderen kulturellen Profils bedarf, das sich vor allem aus dem Bezug auf die Vergangenheit speist. Vergangenheit wirkt somit sinnstiftend für die Gegenwart; aber sie ist nicht einfach vorhanden, sondern muß erst hergestellt werden, und zwar durch Erinnerung.

Wie entsteht und funktioniert nun die Erinnerungskultur? Im Rückgriff auf den 1945 im Konzentrationslager Buchenwald ermordeten französischen Soziologen Maurice Halbwachs erläutert Assmann die Abhängigkeit des Gedächtnisses von den Bedürfnissen und Bedingungen der jeweiligen Gegenwart: Erinnert wird das, was rekonstruierbar ist und als erinnerungswert angesehen wird; alles andere fällt dem Vergessen anheim.

Zwei "Formen der kollektiven Erinnerung" sind zu unterscheiden: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Ersteres beinhaltet die erlebten Erfahrungen von Zeitzeugen, angereichert durch mündliche Informationen, und umfaßt allenfalls die jeweils letzten achtzig Jahre. Letzteres hingegen hat nicht geschehene, sondern durch Erinnerung (re)konstruierte Geschichte zum Gegenstand; es betrifft die "absolute Vergangenheit einer mythischen Urzeit" und ist an besondere Organisationsformen, insbesondere an Riten und Feste gebunden. Träger des kulturellen Gedächtnisses sind Experten, Spezialisten für die Zelebrierung der Riten und Feste sowie die Exegeten kanonischer Texte – denn, und darin besteht Assmanns wichtiger, über Halbwachs hinausführender Schritt: Es ist die Erfindung der Schrift, die erst dem kulturellen Gedächtnis ein Medium zur Verfügung stellt, das mehr ermöglicht als nur die in Festen und Riten beschworene Bewahrung des ewig Gleichen. Der Schrift ist nämlich die Entstehung klassischer, kanonischer Texte zu verdanken, in denen Werte und Normen einer Gemeinschaft ausformuliert werden, wie etwa in der Bibel.

Die kanonischen Texte müssen jedoch in die Wirklichkeit übersetzt werden, um im praktischen Lebensvollzug als Leitlinien für richtiges Handeln und Verhalten fungieren zu können. So entsteht eine Gruppe von Exegeten und Interpreten, welche die Schriften deuten und in ihrem Sinne verkünden: "der israelitische sofer, der jüdische Rabbi, der hellenisti-sche philologos, der islamische Scheich und Mullah, der indische Brahmane, die buddhistischen, konfuzianischen und taoistischen Weisen und Gelehrten" (Seite 95).

Hochaktuell ist Assmanns besonders eindrucksvoll am Beispiel Israels geführter Nachweis, daß in Krisenzeiten eine gesteigerte, besonders rigide Kanonisierung des kulturellen Gedächtnisses stattfindet. Zur Selbstvergewisserung nach innen korreliert eine schroffe Distanzierung nach außen, eine Ablehnung all dessen, was als fremd qualifiziert wird.

Von den Fallstudien des zweiten Teils vermag denn auch diejenige über Israel am meisten zu überzeugen. Assmann zeigt, daß die monotheistische "Jahwe-allein-Bewegung" sich aus dem religiösen Umfeld des polytheistisch ausgerichteten frühen Israel ausgliederte und sich im babylonischen Exil dann endgültig durchsetzte. Die Selbsterhöhung dieser Gruppe zum allein dem einen Herrn geweihten Volk sicherte das Überleben der Gruppenidentität in der Fremde und bedingte den Erfolg dieser Gemeinschaft nach der Rückkehr aus dem Exil.

In diesem Rahmen gelingt dem Autor ein Kabinettstück konsequenter Interpretationskunst. In seiner Deutung stiftete das 5. Buch Mose, das Deuteronomium, auf bis dahin unbekannte Weise kulturelle Identität, indem es neue Formen der kulturellen Erinnerung begründete: Der Text enthält die Proklamation und Begründung des Gesetzes als Konsequenz des Bundes zwischen dem Volk Israel und Jahwe und mündet in einen Kodex von Einzelgesetzen. Immer wieder findet sich explizit die Aufforderung zur Erinnerung, zum Nicht-Vergessen und Weitergeben des Erlernten: Es entsteht eine geistige Gemeinschaft derer, die sich durch ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis, durch eine "kulturelle Mnemotechnik", von allen anderen Gruppen abgrenzen.

Eine zweite Fallstudie Assmanns gilt Ägypten, und wiederum gelangt er zu plausiblen Ergebnissen. Insbesondere gilt dies für seine Einschätzung der spätägyptischen, aus der Ptolemäerzeit stammenden Tempel, in deren Komposition er "gebaute Erinnerung" entdeckt: Der Grundriß, die an den Wänden aufgezeichneten Inschriften, die künstlerische Verzierung sowie die Kulthandlungen sichern und vermitteln ein kanonisches Weltbild und damit zugleich die kulturelle Identität des Volkes.

Bei seinen Überlegungen zu Griechenland greift Assmann jedoch augenscheinlich zu kurz, wenn er die homerische "Ilias" als den allein die gemeingriechische Identität "fundierenden Text" begreift. Das nur zeitweise wirklich lebendige panhellenische Bewußtsein stand stets im Schatten der Zersplitterung der griechischen Welt, die von Hunderten verschiedener Poleis geprägt war. Es entstand nur in begrenztem Maße eine gemeinsame kulturelle Identität, die überdies mehr Wurzeln hat als einen kanonischen Text.

Dessenungeachtet hat Assmann ein überaus gedankenreiches, originelles, ja bisweilen faszinierendes Buch geschrieben, das nicht zuletzt durch ein Feuerwerk geschliffener Formulierungen den Leser in seinen Bann zieht. Hier wird ein noch weitgehend unerforschtes Terrain vermessen, das weit über die altertumswissenschaftlichen Disziplinen hinausreicht und dank der wegweisenden Überlegungen Assmanns gewiß noch Raum für manche Neuentdeckung bieten wird.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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