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Soziobiologie des Menschen - Wissenschaft oder Ideologie?

Ein neuerer Zweig der Anthropologie postuliert genetische Programme für komplexe menschliche Verhaltensentscheidungen. Sie sollen im Dienste der Fitness-Maximierung entstanden sein. Dies läßt sich jedoch mit der Evolutionstheorie nicht unbedingt vereinbaren.

Im Jahre 1975 erschien bei der Harvard University Press in Cambridge (Massachusetts) ein umfangreiches Lehrbuch über soziales Verhalten von Tieren mit dem Titel "Sociobiology – The New Synthesis". Autor war der Insektenforscher und Spezialist für das Sozialleben von Ameisen Edward O. Wilson von der Harvard-Universität. Er prägte damit den Begriff "Soziobiologie".

Deren Beginn wird allerdings meist noch früher angesetzt. Schon 1964 hatte William D. Hamilton von der Universität Oxford ein Modell veröffentlicht, demzufolge sich fremdnütziges Verhalten von sozialen Insekten wegen der engen genetischen Verwandtschaft der Koloniemitglieder in der Evolution durchgesetzt habe: Die Individuen würden in den Nistgenossen praktisch nur ihr eigenes Erbmaterial unterstützen.

Ein bis dahin ungelöstes Problem der Evolutionstheorie war nämlich, wie in der Tierwelt durch natürliche Auslese soziale Verbände entstehen konnten und wie überhaupt Kooperation und Fürsorge möglich waren. Dies gilt nicht nur für die hochentwickelten Staaten sozialer Insekten, wenn bei ihnen der Zusammenhalt auch besonders eindrucksvoll ist. Immerhin konkurrieren in der Evolution die Individuen einer Art miteinander um die Weitergabe ihres Erbgutes an die nächste Generation – sie sind primär Konkurrenten, nicht Partner. Deswegen war erklärungsbedürftig, wieso manchmal Individuen die eigene Fortpflanzung einschränken zugunsten anderer oder sogar ganz darauf verzichten – wie im Insektenstaat, aber auch in einigen Säugetiergemeinschaften.

Die frühere Verhaltensforschung hatte fremdnützige Verhaltensweisen wie soziale Verteidigung pauschal mit einem Nutzen für die Art erklärt. Aber die Wegbereiter der Soziobiologie stellten mit Recht fest, daß ein Merkmal, welches nicht die Weitergabe der eigenen Erbanlagen fördert, sich evolutiv nicht durchsetzen kann.

Hamiltons Idee war, daß in solchem Fall Verwandtenselektion wirkt: Die genetische Information, die ein Lebewesen in seinem Erbgut trägt, kommt auch bei seinen Blutsverwandten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vor. Sie hängt vom Verwandtschaftsgrad ab, ist also bei nahe Verwandten am höchsten. Deswegen würden Fitnesseinbußen durch uneigennütziges Verhalten ausgeglichen durch Fortpflanzungsvorteile von Verwandten, die das Individuum unterstützt.

Mit dem Konzept der Verwandtenselektion erzielte die Soziobiologie einen wichtigen theoretischen Fortschritt, weil sich die Gedanken der Evolutionstheorie nun auch konsequent auf soziale Verhaltensweisen anwenden ließen. Und es ist Wilsons Verdienst, daß er die neuen Erkenntnisse zusammenfaßte und deren Kern herausarbeitete. Nur verbreitete er gleichzeitig die Idee, soziales Verhalten sei nun generell biologisch erklärbar.

Wilson erhob schon 1975 den Anspruch, verschiedene Gebiete der Evolutionsforschung und der Ökologie in einem neuen Fach zu vereinen, das sich den biologischen Grundlagen allen sozialen Verhaltens widmen würde, ausdrücklich auch des menschlichen. Die Basis sollten jetzt endlich die Evolutionskonzepte bilden, die in der Biologie in den letzten rund 100 Jahren entwickelt worden waren und deren Grundlage die Theorie des englischen Naturforschers Charles Robert Darwin (1809 bis 1882) zur Entstehung der Vielfalt der Lebewesen ist. (Sein wichtigstes Werk "Über die Entstehung der Arten" war in England 1859 erschienen.)

Die biologische Evolutionstheorie sei mit der Soziobiologie nun soweit ausgebaut, meinte Wilson, daß sich langfristig auch die Sozialwissenschaften in das neue Fach integrieren ließen. Denn während diese Disziplinen bis dahin lediglich äußerliche Phänomene beschrieben und zusammenfassend deuteten, ohne deren aus der Evolution hervorgegangene genetische Grundlage zu berücksichtigen, könnten sie auf Dauer auf die modernen Ideen über die Entwicklung des Lebens und die Anpassung der Organismen an ihre Existenzbedingungen nicht verzichten. Der Versuch, menschliches Verhalten biologisch zu erklären, war allerdings keineswegs neu.


Angriff auf das überlieferte Menschenbild

In der Evolutionstheorie ging es letztlich immer schon um den Menschen, um seinen Ursprung, sein Wesen und seine Zukunft. An ihr kommt längst keine Ideologie, Weltanschauung oder Religion mehr vorbei, ob sie nun im Einzelfall diese fundamentale Deutung der Lebensgeschichte strikt ablehnt, sich davon lediglich relativierend distanziert oder sie begeistert vereinnahmt.

Von Anfang an aber war dabei das Körperliche des Menschen weniger von Interesse. Zumindest im Abendland sah man den Homo sapiens – so 1758 von dem Begründer der modernen taxonomischen Nomenklatur, dem schwedischen Arzt und Botaniker Carl von Linné (1707 bis 1778), als Primatenart bezeichnet und beschrieben – bereits lange vor Darwin als besonderen, weil vernunftbegabten Organismus. "Ni ange ni bête", charakterisierte ihn der französische Philosoph Blaise Pascal (1623 bis 1662): Er sei weder Engel noch Tier, gleichsam ein Amphibium zwischen der materiellen und der geistigen Welt. Das Eigentliche des Menschen zeige sich, dies war allgemeine Vorstellung, in seinem Denken und Tun, besonders in seiner Vernunft, Ethik und Religion.

Doch an diesem Bild rührt seit wenigstens 100 Jahren immer wieder die Wissenschaft alles Lebendigen, indem sie auch menschliches Verhalten und Denken – einschließlich der metaphysischen Vorstellungen – auf biologische Kausalzusammenhänge zurückzuführen sucht. Das begann spätestens mit Darwins Buch "Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren" (dessen deutsche Übersetzung 1872, im selben Jahr wie das Original, erschien). Erstmals behandelte Darwin darin ausführlich die Frage nach der menschlichen Abstammung.

Einige Jahrzehnte später erschütterte der Wiener Arzt Sigmund Freud (1856 bis 1939) das Menschenbild mit gänzlich anderer Stoßrichtung: Mit seiner Tiefenpsychologie postulierte er in der Art verwurzelte, weitgehend unbewußte Antriebe als maßgebliche Kraft des individuellen Verhaltens.

Mitte dieses Jahrhunderts wurde im deutschen Sprachraum die vergleichende Verhaltensforschung, die Ethologie, populär. Die Weise, wie in ihr auch menschliches Verhalten bis in die Gefühlswelt und die sozialen Beziehungen hinein aus der Evolution begründet wird, erweckte heftige Diskussionen, die kulminierten, als Konrad Lorenz (1903 bis 1989), einer der Begründer der Disziplin, 1963 sein allgemeinverständliches Buch "Das sogenannte Böse" veröffentlichte.

Aus der Beschäftigung mit der Evolution von Verhalten erwuchsen mittlerweile Spezialdisziplinen, unter anderen die sogenannte evolutionäre Erkenntnistheorie, die sich damit befaßt, wie unser Wahrnehmungs- und unser Denksystem auf unsere Umwelt passen. Andere, heute herausragende Zweige sind die Verhaltensökologie und eben die Soziobiologie, die sich inhaltlich teilweise decken; sie fragen spezifisch nach dem Anpassungswert von – auch menschlichen – Verhaltensweisen, letztlich also nach deren evolutiver Fitness.

Im folgenden möchte ich mich mit dem Menschenbild dieser beiden Richtungen kritisch befassen. Meine These ist, daß die Soziobiologie sich auf dem anthropologischen Feld weithin noch in einem vorwissenschaftlichen Stadium befindet, was nicht nur ihre Fruchtbarkeit mindert, sondern auch ideologischen Mißbrauch begünstigen und unnötige Widerstände in Nachbardisziplinen und in der Öffentlichkeit provozieren kann. Sie hat ihre eigene Forderung nach konsequenter Anwendung der Logik der Evolutionstheorie bisher nicht schlüssig wissenschaftlich umgesetzt. Diese Problematik werde ich exemplarisch an zwei für ihr Menschenbild zentralen Aspekten aufzeigen: an der soziobiologischen Floskel vom "egoistischen Gen" sowie an verhaltensökologischen Erklärungen für menschliches Handeln.


Die Metapher vom Egoismus der Gene

Der Begriff "egoistisches Gen" ("selfish gene") stammt von dem Biologen Richard Dawkins von der Universität Oxford. In seinem so überschriebenen Buch (es erschien 1976, auf deutsch 1978) versucht er den soziobiologischen Ansatz konsequent zu verfolgen und damit bestimmte in sich widersprüchlich scheinende Beobachtungen zu deuten, die man bisher im Rahmen der Evolutionstheorie nicht schlüssig erklären konnte. Zum Beispiel erschien es Biologen früher manchmal, als sei eine Art (oder Population) infolge der natürlichen Auslese in ihrer genetischen Ausstattung insgesamt derart gut an die Umwelt angepaßt, daß sie als Ganzes auf die verschiedenen Selektionskräfte in der bestmöglichen Weise reagiert, daß dieses aber nicht zugleich für die Individuen zutrifft. Wenn etwa eine Büffelherde sich einem Tiger zum Kampf stellt, um ihre Kälber zu schützen, riskieren die Kühe Verletzungen oder gar den Tod. Würde ein Weibchen sich stattdessen unauffällig zurückhalten und nur zur Wehr setzen, falls ihr eigenes Junges bedroht wäre, hätte es im ersten Fall gute Chancen, unversehrt zu bleiben. Immerhin gibt es wehrhafte Huftiere wie die Gnus, die sich nicht sozial verteidigen. Die Mutter schützt nur ihr eigenes Kalb, und andere Weibchen schauen eventuell sogar zu, wenn dieses von Hyänen gerissen wird.

Tatsächlich ließe sich das Verhalten der Büffel mit Hamiltons Ansatz erklären. Die Kühe einer Gemeinschaft sind eng untereinander verwandt – Schwestern oder Mütter und ihre erwachsenen Töchter. Die Jungtiere tragen also mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit gleiche Erbanlagen. Wenn eine Kuh auch für die Kälber der anderen Weibchen einsteht, kommt dies somit auch ihrer eigenen Fitness zugute.

In diesem Fall scheint ein soziales Verhalten einer größeren Gemeinschaft zu nutzen. Doch offenkundig ist dergleichen nicht bei allen sozialen Erscheinungen der Fall. Es gibt Merkmale, die einer Art in der ökologischen Konkurrenz schaden und sich dennoch zu bewähren scheinen. Der Grund sind innerartliche Selektionskräfte, die der Anpassung an die außerartliche Umwelt entgegenwirken, zum Beispiel die sexuelle Konkurrenz zwischen Angehörigen des gleichen Geschlechts, die Interessenunterschiede der Geschlechter oder auch der Wettbewerb unter Geschwistern.

Zum Beispiel wurde nachgewiesen, daß Löwenmännchen, die ein Weibchenrudel erobern, die vorgefundenen Jungtiere umbringen. Für die Weibchen, im Prinzip also für die Art als solche, wäre dies ein Verlust an schon erbrachter Investition in deren Aufzucht. Man erklärt das Verhalten heute so, daß die neuen Haremschefs nun ihr eigenes Erbgut schneller weitergeben können, weil die Löwinnen rascher brünstig werden. Ein Verhaltensmerkmal, das den individuellen Vorteil begünstigt, hätte sich auf Kosten der ökologischen Anpassung der Art (auf die ich später zu sprechen komme) durchgesetzt.

Dawkins nun bietet eine weitergehende, seiner Meinung nach allgemeingültige Deutung an. Demnach dienen Merkmale und Verhaltensweisen weder den Individuen noch der Art, sondern dem sogenannten Egoismus der Gene. Aus seiner Sicht sind die Lebewesen lediglich Protoplasma-Maschinen, mit deren Hilfe die Gene ihre eigene Verbreitung betreiben. Denn diese überdauern als Replikatoren (in Form von Erbinformation) viele Generationen von Individuen, auch wenn sie als Moleküle immer wieder neu hergestellt werden müssen. Darum "existieren die lebenden Organismen zum Vorteil der Gene und nicht anders herum", so Dawkins in seinem 1987 (im englischen Original 1986) erschienenen Buch: "Der blinde Uhrmacher".

Dawkins sieht dieses Prinzip auch beim Menschen verwirklicht. Er habe zwar kraft seiner Kultur eine – nicht näher definierte – Potenz, sich dem Marionettenspiel der Gene zu entziehen. Trotzdem lenkten diese auch sein Verhalten insgeheim in Richtung maximaler Gen-Reproduktion, sei es im Umgang mit den eigenen Kindern, im Sexualverhalten, in der Politik oder in anderen Beziehungen (Bild 2). Die Floskel von den egoistischen Genen wird heute zwar kaum mehr benutzt, weil sich die Einsicht durchsetzte, daß sie nur metaphorisch gemeint sein kann – die Biologen unterstellen den Genen weder Willen noch Absicht. Allerdings arbeiten sie weiterhin mit dem zugrunde liegenden Denkschema, so daß man fragen muß, ob die Metapher trifft oder irreführt.

Die Frage ist, ob sie zur logischen Struktur der Selektionstheorie paßt, die in Bild 3 skizziert ist. Das Schema weicht absichtlich von der üblichen Darstellungsweise ab; es stützt sich auf Schaltbilder, wie sie vor allem der Biologe Bernhard Hassenstein von der Universität Freiburg zur Veranschaulichung komplexer Sachverhalte in der Verhaltensforschung entwickelt hat, und zeigt, wie natürliche Auslese (Selektion), Fitness (Tauglichkeit) und Veränderungen des Gen-Pools einer Population, also genetische Änderungen, zusammenhängen. (Unter dem Gen-Pool versteht man die Gesamtheit der Genotypen oder individuellen Erbanlagen einer Population.)

Wesentlich für das Verständnis des Selektionsvorgangs ist, daß die Tauglichkeit eines Individuums nicht eine absolute Größe ist, sondern immer nur einen Wert im Verhältnis zu dem von Artgenossen ausdrückt. Sie kennzeichnet den relativen Fortpflanzungserfolg (oder -mißerfolg) von Trägern unterschiedlichen Erbguts in der Population – vereinfacht gesagt, wie viele Nachkommen ein Tier im Vergleich mit Artgenossen hat, die eine andere Erbinformation tragen.

Wenn sich nun im Gen-Pool etwas ändert (qualitativ, weil Gene mutieren, oder quantitativ, weil die Anzahl der verschiedenen Ausprägungen des gleichen Gens – der Allele – sich verschiebt), kann sich das auf das Erscheinungsbild der Population auswirken: Infolge von Mutationen treten bei Individuen (den Phänotypen) neue Merkmale auf, bei Allelverschiebungen ändert sich deren Häufigkeit im Kollektiv. (Mutationen, die sich nicht in veränderten Merkmalen auswirken, sind hier nicht wichtig.)

Durch neue oder anders verteilte Merkmale ergibt sich in der Regel eine andere ökologische Einbettung der Population, womit nicht nur die Beziehung zur unbelebten und belebten Umwelt gemeint ist, sondern auch die der Artgenossen untereinander (ökologisch neutrale Veränderungen sind wiederum bedeutungslos). Damit verschiebt sich unter Umständen auch das Tauglichkeitsmuster der Population – die Fortpflanzungsrate für die einzelnen Genotypen. Und dies wiederum wirkt sich direkt auf die Zusammensetzung des Gen-Pools aus – womit wir wieder am Ausgangspunkt angekommen wären.


Ein rückgekoppeltes System

Für die folgenden Betrachtungen wichtig zu beachten ist, daß eine Selektionswirkung nur dann vorliegt, wenn alle vier Glieder in dem Kreisprozeß sich mindestens geringfügig ändern, weil sie in der beschriebenen Weise kausal zusammenhängen. Das muß keineswegs immer so sein. In der Natur kommt es oft vor, daß ein Wandel an einer Stelle sich nicht auf die nächste durchprägt.

Bei der Kausalkette aus genetischen, phänotypischen und ökologischen Änderungen handelt es sich um ein Regelsystem mit Rückkopplung zwischen der ökologischen Situation und dem genetischen Zustand einer Art. Ist die Rückkopplung negativ, stabilisiert das System sich in der Regel selbst: Ökologisch nachteilige genetische Änderungen bedingen meist geringere Fortpflanzungsraten der betroffenen Individuen und damit die Abnahme der beteiligten Allele im Gen-Pool (man spricht von einer stabilisierenden Selektion); so werden ungünstige Mutanten eliminiert oder zumindest reduziert, ohne daß sich der Aufbau der Population wesentlich wandelte. Ist die Rückkopplung hingegen positiv, strebt das selbstorganisierende System über unterschiedliche, teils dramatische Prozesse einen neuen Gleichgewichtszustand an, der freilich wieder nur metastabil ist.

In diesem Denkmodell bemessen sich Stärke und Richtung der Rückkopplung über die Tauglichkeit, die über die Weitergabe – und relative Vermehrung – des genetischen Materials an die nächste Generation entscheidet. Dabei müssen, wie gesagt, Verschiebungen im Gen-Pool nicht in voller Stärke auf die Fortpflanzungsraten durchschlagen; vielfach dürften die anderen Glieder im System dies teilweise oder sogar vollständig abfangen, so daß nur eine geringe oder gar keine Evolution stattfindet.

Nun ist es theoretisch schwierig, ein Maß für Tauglichkeit zu begründen, und praktisch unmöglich, sie direkt zu messen. Statt dessen Fortpflanzungsraten zu ermitteln, bleibt jedoch immer nur ein Behelf; und dabei macht es wiederum auch einen Unterschied, ob man die Kinder zählt oder die Enkel oder die Nachkommen noch späterer Generationen. Weil man sich aber für genauere Berechnungen festlegen muß, hält man sich an definierte Fitness-Korrelate, also Daten mit einer plausiblen Beziehung zur theoretischen Tauglichkeit. Diese Lösung des Problems kann eine akzeptable Näherung erbringen, schränkt aber die Aussagen auch ein, wie ich später an einem Fallbeispiel zeigen werde.

Folgt man dem Schema, erweist sich die Metapher vom Gen-Egoismus als verfehlt. Bei formaler Betrachtung ist der Selektionsvorgang ein dynamisches Gesamtgeschehen, an dem sowohl die Gene als auch die Organismen teilhaben. Davon lenkt aber Dawkins Floskel gerade ab. Ebensogut – oder nicht minder einseitig und unzutreffend – könnte man vom Egoismus der Organismen reden, dem die Gene dienen müssen. Denn schließlich werden in Populationen unbrauchbare Gene durch Selektion eliminiert, unter Umständen selbst manche bislang nützlichen.

Daß der Kreisprozeß der natürlichen Auslese den Individuen nicht unbedingt ein möglichst gutes Leben sichert oder der Art eine möglichst große ökologische Potenz, bedeutet noch lange nicht, daß durch ihn die Lebensdauer von Allelen maximiert würde. In dem Kreislauf von Organismen und dem von ihnen weitergegebenen Erbmaterial hat eine solche Sonderposition der Gene keinen Platz.


Mythos

Woraus gewinnt die Egoismus-Metapher dann ihre Faszination? Hier kommen, wie ich meine, weltanschauliche Aspekte ins Spiel.

Warum argumentiert Dawkins, daß Gene wichtiger seien als Einzelorganismen? Zwar ist richtig, daß sie – als Information – länger überdauern. Aber wieso nimmt er an, daß das kurzlebige Phänomen zum Vorteil des langlebigen bestehe? Dies ist eine metaphysische Wertung, die sich naturwissenschaftlich nicht begründen läßt. Eine ähnliche Frage, nämlich ob der Staat für den Menschen oder der Mensch für den Staat da sei, wurde im Abendland unter dem Einfluß des antiken und des jüdisch-christlichen Menschenbildes eindeutig zugunsten des Individuums beantwortet.

Es sollte durchaus vermerkt werden, daß Dawkins Aussage ("Du bist nichts – deine Gene sind alles") verblüffend der Parole ähnelt, in die man im Dritten Reich den Vorrang des beständigen Volkskörpers vor dem vergänglichen Einzelnen faßte ("Du bist nichts – dein Volk ist alles"). Der Zusammenklang ist keineswegs zufällig, denn der Faschismus nationalsozialistischer Prägung war schon in seiner formativen Phase vom damaligen Sozialdarwinismus inspiriert (der italienische Faschismus in dieser Hinsicht hauptsächlich nur von der Eliten-Theorie des Wirtschaftstheoretikers und Soziologen Vilfredo Pareto).

Die Floskel vom Gen-Egoismus kennzeichnet ein materialistisches Weltbild. Genaugenommen handelt es sich um eine biologische Variante des viel älteren Mythos von der ewigen, allein wirklichen und allein seienden Materie. Eben weil Dawkins Materialist ist, findet er Gene wichtiger als Menschen; und um seinem Glauben Gestalt zu geben, schafft er sich mythische Bilder, die er als Biologe aus dem Stoff seiner Disziplin formt. Mit der Formulierung "egoistisches Gen" drückt er bildhaft-poetisch seine Ehrfurcht vor den materiellen Replikatoren des Lebens aus.

Das Problem ist nicht, daß es solche Bilderwelten gibt. Ohnehin kann der Mensch – auch als Materialist oder Nihilist – seinem ureigenen mythischen Wesen nicht entkommen; und dem verdanken wir Sprachgestalten von großer poetischer Kraft – man denke nur an das Wort des französischen Biochemikers Jacques Monod (1910 bis 1976; Medizin-Nobelpreis 1965), der Mensch sei ein "Zigeuner am Rand des Universums". Aber es wird problematisch, wenn solche Bilder das naturwissenschaftliche Reden durchdringen und mit der angemaßten Autorität empirischer Wissenschaft in Weltanschauung und Politik hineinwirken. Dann können Biologismen aufkommen wie "Untermensch", "minderwertiges" oder "unwürdiges" Leben, die in unserer Geschichte unermeßlichen Schaden angerichtet haben.

Daß man davor heute immer noch warnen muß, wird weiter unten deutlich, wenn ich die verhaltensökologische Erklärung menschlichen Handelns diskutiere. Auch in diesem Forschungszweig besteht die Gefahr, daß das Weltbild die Interpretation von Befunden vorgibt. Dawkins Metapher schwingt aber auch in konkreten soziobiologischen Untersuchungen mit, wenngleich sich dies schwerer erkennen läßt, weil die Gedankengebäude dort meist sehr viel differenzierter sind.


Lernen und Selektion

Die Komplexität der Probleme nimmt stark zu, wenn sich die Forschung dem Menschen zuwendet, weil bei ihm Erfahrungen, Lernen und Tradierung eine große Rolle spielen. Um so mehr fasziniert die Idee, selbst kulturelle Phänomene letztlich evolutionstheoretisch erklären zu können.

Wie paßt Lernen in das Konzept von Selektion und Anpassung? Um dies zu veranschaulichen, muß man das Schema von Bild 3 erweitern (Bild 4): Es ergibt sich eine zweite Rückkopplung im System, denn Lernen kann sich auf die Tauglichkeit auswirken, weil es Verhalten – ein Merkmal des Organismus – modifiziert; das ist gerade sein Zweck. (Bei negativer Rückkopplung kann es sich auch um eine Stabilisierung des Bestehenden handeln.)

Zwar beruht die Fähigkeit dazu, beispielsweise Sprache zu erwerben, auf einer genetischen Grundlage; doch der Lerninhalt ist im Falle der Sprache durchaus nicht und bei sonstigen Fertigkeiten meist nicht streng genetisch festgelegt – jedes gesunde und nicht deprivierte Kind lernt die jeweilige Muttersprache.

Alle höheren Tiere sind in bestimmter Weise für Veränderungen offen; Lernprozesse spielen bei der Verhaltensentwicklung zwingend mit, wobei die für bestimmte Erfahrungen wichtigen Altersphasen teilweise artspezifisch vorgegeben sind. Beim Menschen, dem Kulturwesen schlechthin, kommen in besonderem Maße noch Traditionen hinzu.

Die Selbstveränderung durch Lernen verläuft über die Erfahrung (beziehungsweise auch über Traditionen) mit den Folgen des eigenen Verhaltens, und der Erfolg wird von einem eingebauten, inneren System von Bedürfnissen, Motiven und Trieben bewertet. Somit ergibt sich meist eine Rückkopplung über die Umwelt. Wichtig in unserem Zusammenhang ist, daß der Regelkreis Lernen mit dem Regelkreis Selektion gekoppelt ist. Art und Stärke dieser Kopplung hängen indes von recht spezifischen Bedingungen ab.

Zum einen müssen durch Lernen bewirkte Anpassungsänderungen, also Ausformungen oder Abwandlungen von Verhaltensmerkmalen, auch Änderungen der Tauglichkeit zur Folge haben (sonst könnten sie nicht der natürlichen Auslese unterliegen). Das geschieht nun nicht zwangsläufig schon dadurch, daß Individuen, die sich verschieden verhalten, unterschiedliche Fortpflanzungserfolge erzielen, also unterschiedlich viele Nachkommen hervorbringen. Dies ist nämlich, solange sie keine anderen vorgegebenen Lernprogramme haben als die Artgenossen und sich auch sonst genetisch nicht spezifisch von ihnen unterscheiden, für die genetische Zusammensetzung der Population unerheblich.

Diese Selektionsneutralität läßt sich gut am in der Soziobiologie gern verwendeten Beispiel des Nepotismus (der Förderung von Blutsverwandten auf Kosten anderer) verdeutlichen. Seit Hamiltons Publikation gibt es eine These, daß die Unterstützung Blutsverwandter sich für die Fitness lohne, weil diese je nach dem Grad der Verwandtschaft mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit dieselben Gene hätten wie man selbst. Indem man diese unterstütze, fördere man praktisch seine eigenen Gene – und erhöhe somit die eigene Fitness. Aus der Logik der Evolutionstheorie folgt aber, daß letzteres nicht zwangsläufig stattfindet.

Nepotismus ist nämlich für die Evolution nicht relevant, solange die ihre Verwandtschaft unterstützenden Familien sich genetisch nicht spezifisch von anderen unterscheiden, solange sich der Brauch also nur durch Lernen und Tradition verbreitet. Selbst wenn solche Familien mehr Nachfahren haben sollten, heißt dies nur, daß sie mehr als andere von den Genen des Pools an spätere Generationen weitergeben; der Gen-Pool der Population bliebe unverändert, so sehr sich auch ihr Verhalten durch Etablieren der neuen Tradition wandelte.

Eine zweite Überlegung führt noch weiter: Die beiden gekoppelten Wirkungskreise Lernen und Selektion haben völlig verschiedene Regelzeiten.

Für den Gen-Pool – also bei der Selektion – beträgt sie (wenn nicht gerade eine tödliche Mutation auftritt) mindestens eine Generation; oft sind es viele. Auch dürfte die Stärke der Regelung, besonders bei komplexen Merkmalen, vielfach gering sein. Es braucht nun einmal viele Generationen, bis ein neues erbliches Merkmal sich in einer Art durchsetzt, erst recht, wenn dazu viele Mutationsschritte nötig sind.

Die Regelzeit beim Lernen hingegen ist gewöhnlich um ein Vielfaches kürzer, und der Effekt kann sehr wirksam sein. Eine neue kulturelle Gewohnheit kann binnen kürzester Zeit Allgemeingut werden. Mithin ist denkbar und praktisch wohl oft der Fall, daß sich die beiden Regelkreise entkoppeln, auch wenn die durch Lernen bewirkten Verhaltensänderungen echte Anpassungs- oder sogar Fortpflanzungsvorteile bringen.

Ein solches Entkoppeln, gleichsam ein Verwischen der genetischen Information durch eine nicht-genetische Rückkopplung von den Merkmalen eines Organismus über Umweltwirkungen wieder zu den Merkmalen, findet auch statt, ohne daß Lernen im Spiel wäre: Ein Tier in karger Umgebung etwa bleibt kleiner als eines in üppiger, trotz gleicher Gen-Ausstattung. Eine Spinne paßt ihr ererbtes Netzbau-Verhalten den von ihr vorgefundenen Umständen an. So löst sich die ökologische Einpassung in gewissen Grenzen von der genetischen Vorgabe. Selbst die meisten stark genetisch strukturierten Verhaltensprogramme sind deswegen nicht völlig starr, sondern lassen immer noch erheblichen Freiraum. Eine so umfangreiche Information, wie sie zur Feinabstimmung unter allen – insbesondere allen künftigen – Bedingungen erforderlich wäre, würde das Genom sprengen: Jede einzelne Reaktion beispielsweise auf Vegetation, Wetterverhältnisse und Beutevorkommen kann bei einer Spinne gar nicht exakt vorprogrammiert sein.

Aber durch das Lernen erreicht die Fähigkeit zu Selbstveränderung des Verhaltens – ohne genetische Rückkopplung – ganz andere Dimensionen. Das gilt vor allem für den Menschen, das bei weitem lernfähigste Lebewesen. Diesen Zusammenhang möchte ich an einem konstruierten Beispiel erläutern.

Hypothetische Indios, reale Holsteiner und Friesen

Angenommen, ein Eingeborenenstamm des vorkolumbianischen Mittelamerika hat eine neue, ertragssteigernde Ackerbautechnik erfunden und vermehrt sich nun stärker als die Nachbargruppen. Unterscheidet sich dieser Stamm auch genetisch von den anderen, wären seine Genotypen fortan im Vorteil. Wenn sich jedoch die Nachbarn innerhalb weniger Generationen das fortschrittliche Verfahren aneignen, sich dann also genauso gut ernähren können und infolgedessen ebenfalls mehr Kinder bekommen und großzuziehen vermögen, ist der Selektionsvorteil verpufft.

Das System individuellen Lernens und kollektiver Traditionsbildung gibt gleichwohl Anlaß für immer neue Änderungen im Verhalten aller beteiligten Gruppen, während insgesamt nur eine minimale Allelverschiebung resultiert. Daß genetische und kulturelle Evolution sich weitgehend entkoppeln, dürfte in der menschlichen Kulturgeschichte eher die Regel als die Ausnahme sein.

Wie gehen Soziobiologen solche Zusammenhänge an? Als Beispiel möchte ich Publikationen des Anthropologen Eckart Voland von der Universität Göttingen anführen.

Zugrunde lagen in einem Fall die Heirats-, Geburts- und Sterbedaten in den Kirchenbüchern der ostholsteinischen Gemeinde Leezen für den Zeitraum von 1720 bis 1869. Demnach waren damals in der ländlichen Bevölkerung die Überlebenschancen männlicher und weiblicher Säuglinge vom sozialen Rang der Familie abhängig. An sich sterben im Mittel geringfügig mehr Jungen als Mädchen – dies ist genetisch und konstitutionell bedingt. Doch bei den Leezener Vollbauern waren es im ersten Lebensjahr etwas mehr Mädchen, besonders unter den Erstgeborenen, in anderen Familien – Kleinbauern, Landarbeitern und Gewerbetreibenden – dagegen (wie zu erwarten) mehr Jungen. Der Unterschied betrug zwar nur wenige Prozent, war aber bei mehr als 3000 erfaßten Geburten signifikant (Bild 5).

Voland schreibt dazu: "Die beobachteten Sterblichkeitsdifferenzen ... gehen nach soziobiologischer Auffassung auf ein unterschiedliches Fürsorgeverhalten der Eltern zurück und spiegeln eine psychosozial unterschiedliche Erwünschtheit der Geschlechter in der Familienplanung der vier sozialen Gruppen wider."

Dem wird man zustimmen müssen. Aber interessanterweise erbrachte eine ähnliche Studie über Krummhörn an der ostfriesischen Küste nordwestlich von Emden, die Voland zusammen mit Claudia Engel von der Universität Göttingen unternahm, gerade umgekehrte Ergebnisse. Dort waren zwischen 1720 und 1874 den Kirchenbüchern zufolge in allen Schichten eher männliche Säuglinge gestorben, und zwar Söhne von Großbauern noch häufiger als die von Kleinbauern und von Besitzlosen; neugeborene Mädchen dagegen starben in Großbauernfamilien weniger als in anderen.

Voland und Claudia Engel vermuteten, daß die Unterschiede im Erbrecht und Bevölkerungswachstum zwischen den beiden Gegenden für diese Disparität verantwortlich gewesen seien. In Krummhörn hatte sich die Bevölkerung vom 17. bis ins 19. Jahrhundert nicht vermehrt, und dort war auch kein herrenloses Land mehr verfügbar gewesen. Die Einwohnerschaft von Leezen dagegen konnte damals noch expandieren; nicht erbende Söhne hatten also Chancen, Besitz zu erwerben.

In der Studie wird nicht recht deutlich, wie die Autoren ihre Befunde einordnen: Sind nun für die offensichtlichen Unterschiede in der Säuglingsfürsorge tradierte, mithin individuell erworbene Reaktionsmuster verantwortlich oder aber genetische Dispositionen, die zumindest die Tendenz des Verhaltens bestimmen? Einerseits beziehen die beiden Göttinger Forscher durchaus die Möglichkeit ein, daß einst gut angepaßte Verhaltensmuster wegen raschen kulturellen Fortschritts nicht mehr fitness-steigernd wirken. Andererseits scheinen sie zu der Auffassung zu neigen, daß eine genetische Disposition das Verhalten gegenüber neugeborenen Kindern in die eine oder andere Richtung lenkt: daß es je nach den Erfordernissen und sozialen Möglichkeiten – einen Erben haben oder die anderen Kinder angemessen versorgen zu müssen – auf die eine oder andere Art beeinflußt wird.

Zwischen beiden Erklärungen streng zu unterscheiden ist aber für das Verständnis bedeutsam. Träfe nämlich die genetische Interpretation zu, dann bedeutete dies: Ein erbliches Verhaltensprogramm aktiviert unterschiedlich intensive Fürsorge gegenüber Jungen und Mädchen, und zwar je nach der sozialen und familiären Situation und sonstigen Umständen – es wäre also gewissermaßen eine flexible Verhaltensausrüstung erblich angelegt, die ermöglicht, sich strategisch den jeweiligen Bedingungen anzupassen. So wären in Leezen gutsituierte Eltern veranlaßt gewesen, sich mehr um männliche Säuglinge zu kümmern; gutsituierte Eltern in Krummhörn hätten hingegen anderer Lebensumstände wegen die Mädchen besonders umsorgt. Eine solche Veranlagung, von den geborenen Kindern nach den Gegebenheiten die eines Geschlechtes zu bevorzugen, müßte sich irgendwann in der Evolution des Menschen etabliert haben, weil sie die Tauglichkeit steigerte. Möglicherweise waren andere Gruppen ohne diese Eigenschaft der Konkurrenz unterlegen und existieren heute nicht mehr. Das Muster würde immer noch gegen Verlustmutanten stabilisiert. Das ist der übliche Zustand bei Merkmalen, die alle Individuen haben.

Man könnte die Befunde von Voland und Claudia Engel freilich auch viel einfacher psychologisch deuten: Je nach den sozialen Umständen begrüßt die Familie ein Kind des einen Geschlechts oder lehnt es emotional ab, und dies drückt sich unbewußt in mehr oder weniger liebevoller und besorgter Zuwendung aus. Für Vollbauern in Leezen, die einen Hoferben wünschten, wäre also ein erstgeborener Junge tendenziell dafür motivierend gewesen, ein Mädchen frustrierend; in Krummhörn könnte es umgekehrt gewesen sein. Ein solcher emotionaler Unterschied wäre mit psychologischen Methoden meßbar und ließe sich mit bekannten Faktoren in der Verhaltenssteuerung erklären, auch wenn für die Intensität der Pflege weiblicher und männlicher Säuglinge kein spezifisches genetisches Programm existierte.

Somit wäre die psychologische Erklärung hinreichend. Nach dem wissenschaftlichen Prinzip, daß die sparsamste Interpretation vorzuziehen ist, solange für eine komplexere keine wichtigen Argumente vorliegen, müßte die genetische Deutung speziell begründet werden.

Was würde für die genetische Hypothese sprechen? Zum Beispiel könnte dies ein Befund sein, der sich rein psychologisch nicht mehr zuordnen ließe. Eine solche kritische Evidenz wäre etwa gegeben, wenn sich herausstellte, daß die Familien der Großbauern in Leezen und Krummhörn infolge ihres jeweiligen Verhaltens mehr Nachfahren hatten als andere, die für neugeborene Jungen und Mädchen gleich gut oder gleich schlecht sorgten. Damit wäre die Existenz eines genetischen Verhaltensprogramms zwar noch nicht erwiesen; aber zumindest würde dies bedeuten, daß ein solches Programm, falls es denn existierte, sich in der Population behaupten würde.

Für eine derartige Schlußfolgerung reichen die Ergebnisse der Göttinger Soziobiologen nicht aus. Wohl lebten in Krummhörn im 19. Jahrhundert tatsächlich überverhältnismäßig viele Abkömmlinge wohlhabender Hofbauern im Vergleich zu Nachkommen aus anderen Ehen, die hundert Jahre früher geschlossen worden waren. Entscheidend wäre jedoch zu wissen, wie dieser Reproduktionsvorteil zustande kam. Dabei müßte man zum einen berücksichtigen, daß für Großbauern der fraglichen Zeit ohnehin an jedem Ort allein aus sozialen Gründen zu erwarten ist, daß ihre Kinder sich besser standen, und zum anderen, ob aus den anderen Schichten relativ mehr Menschen abgewandert sind.

Des weiteren würde es für einen genetischen Einfluß sprechen, wenn man ähnliche Unterschiede in der Säuglingssterblichkeit auch bei anderen Bevölkerungskreisen fände, etwa im Vergleich zwischen Adel und Bürgertum oder zwischen Groß- und Kleinbürgern. Denn es ist kaum zu erwarten, daß ein erbliches Verhaltensprogramm – so es denn existiert – sich nur auf eine Schicht, Region oder Kultur beschränkte. Hingegen wäre bei einer psychologischen Erklärung gerade viel wahrscheinlicher, daß das Pflegeverhalten von kurzzeitigen und kleinräumigen kulturellen Unterschieden geprägt ist. Meines Erachtens sind die Divergenzen zwischen den beiden bäuerlichen Regionen Leezen und Krummhörn eher so zu deuten.


Biologischer Imperativ?

Die Arbeiten von Eckart Voland und Claudia Engel habe ich nicht als Beispiele gewählt, um diese Autoren zu diskreditieren, sondern um aufzuzeigen, daß in der Soziobiologie die Unterscheidung von individuell erworbenen und ererbten Verhaltensmustern bei der Theorienbildung nicht hinreichend berücksichtigt wird. Der Grund scheint mir zu sein, daß der Ansatz ihrer Disziplin logisch unscharf ist, wie man an folgendem Zitat aus einer Schrift von Voland und seinem Kollegen Paul Winkler erkennt: "Das wahrhaft Innovative der Hominisation besteht nach soziobiologischer Auffassung darin, dem 'biologischen Imperativ genetischer Fitnessmaximierung' verstärkt mit kulturellen Mitteln – und damit flexibler und anpassungsfähiger – zu entsprechen." (Das eingefügte Zitat stammt von dem früheren Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft Hubert Markl, Ordinarius der Fakultät für Biologie mit dem Arbeitsgebiet Verhaltensphysiologie an der Universität Konstanz.)

Was heißt das? Wenn damit lediglich gesagt sein soll, daß der Mensch als Art sein Leben und das seiner Nachkommen im Unterschied zu allen Tieren durch kulturelle Leistungen sichert, dann ist das richtig, aber keine Entdeckung der Soziobiologie. Natürlich sind Kulturleistungen imperativ für den Menschen – wer wollte das bestreiten? Ist damit hingegen gemeint, daß die besonderen Handlungsmuster von Kulturen auf gleiche Weise durch natürliche Selektion entstehen wie die genetische Information, dann wird damit mehr gesagt, als beweisbar oder auch nur plausibel wäre. Der Begriff "biologischer Imperativ" erweist sich als ebenso metaphorisch wie der vom "egoistischen Gen", und wiederum scheint mir ein weltanschauliches Universalitätsbedürfnis der Biologen im Spiel zu sein.

Ich meine, der soziobiologischen Forschung am Menschen fehlt es noch an theoretisch klaren und damit prüfbaren Hypothesen – der ersten Voraussetzung für eine fruchtbare Wissenschaft. Somit besteht die Gefahr, daß weltanschauliche Vorgaben unbemerkt die Interpretation der Daten beeinflussen. Deshalb scheint mir, daß die in solchen anthropologischen Studien verwandten Konzepte sich noch in einem vorwissenschaftlichen Stadium befinden. Nun wäre das an sich nicht verwerflich und noch kein Grund zur Kritik, denn keine Forschungsrichtung ist davon gänzlich frei. Allerdings dürfen wohlklingende Metaphern nicht den Blick auf dringend anliegende wissenschaftliche Probleme verstellen.

Zum Beispiel wäre eigentlich überfällig, die Verhaltensbiologie mit der Psychologie und der Soziologie zusammenzubringen, doch ist noch völlig unklar, wie diese drei Disziplinen sich verknüpfen ließen. Psycho- und Soziologie befassen sich seit vielen Jahrzehnten mit dem Verhalten des Menschen. Ihre Erkenntnisse haben erhebliche Erklärungskraft, auch ohne daß sie Selektionseffekte annehmen müssen, ja sogar unter dem Postulat, daß das menschliche Verhalten sich aus seinen Eigengesetzlichkeiten heraus verstehen lasse.

Daneben haben die biologischen Ansätze durchaus ihre Berechtigung und ihren Wert. Nur fehlt bislang eine Standortbestimmung im Kreis der anderen Fächer. Zu meinen, man könne sie sozusagen in der eigenen Disziplin vereinnahmen, wie Wilson es glaubte, wird dieses Problem jedenfalls nicht lösen.

Noch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts herrschte weitgehend Einigkeit darüber, daß die Naturwissenschaft ein für alle Bereiche verbindliches, einheitliches Weltbild liefern könnte – auch ein umfassendes Menschenbild. Naturgesetze, die es nur noch zu entdecken gälte, sollten ebenso wie die Bewegungen der Gestirne oder der Atome die äußeren und inneren Bewegungen des Menschen erklären können. Die Vorstellung, die Realität lasse sich objektiv erfassen, wurde zuerst in der modernen Physik aufgegeben. Seine Disziplin beschreibe nicht die Natur, so formulierte es der Atomphysiker Werner Heisenberg (1901 bis 1976), der an diesem Prozeß maßgeblich beteiligt war, sondern "unsere Erfahrungen mit der Natur".

Kann nur die Physik sich die aus heutiger Sicht naiv anmutende Denkweise des 19. Jahrhunderts nicht mehr leisten? Der Physik-Theoretiker Paul Davies von der Universität Newcastle upon Tyne sagt über die Entwicklungen der Physik und der Biowissenschaften in seinem 1986 erschienenen Buch "Gott und die moderne Physik": "Es ist, als befänden sich die beiden Disziplinen in Schnellzügen, die in entgegengesetzter Richtung fahren." Das mag übertrieben sein, ist aber nicht grundsätzlich falsch. Unter Biologen ist die Einsicht erst wenig verbreitet, daß ihre Methoden nicht den Menschen als solchen erfassen, sondern sie nur Daten von ihren Forschungserfahrungen mit ihm gewinnen; die Krise ihres wissenschaftlichen Weltbildes steht ihnen noch bevor.

Unterschwellig hat der unkritisch überzogene Anspruch, die Soziobiologie könne zu einer umfassenden Theorie über den "Menschen an sich" gelangen, wie Wilson als Ziel vorgab, offenbar bereits praktische Auswirkungen in der Forschung: So werden rein ethologische Untersuchungen mehr und mehr zum Beispiel durch neurobiologische verdrängt. Statt das Verhalten selbst zu studieren, ermittelt man lieber dessen anatomische und biochemische Voraussetzungen – von der höheren Systemebene weicht man auf eine tiefere aus, weil dort die klassischen Konzepte des naturwissenschaftlichen Reduktionismus vorläufig noch einigermaßen passen. In der Ethologie und der anthropologischen Soziobiologie genügen sie nicht mehr.

Die Biologie braucht philosophische Fortschritte aber nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus ethischen Gründen. Das Bild vom Menschen, wie es in den Köpfen geformt wird, ist nicht belanglos für den Umgang mit dem Menschen in Staat und Gesellschaft. Hier ist Verantwortung zu entdecken und wahrzunehmen.

Literaturhinweise

- Sociobiology. The New Synthesis. Von Edward O. Wilson. The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts und London 1975.

– Das egoistische Gen. Von Richard Dawkins. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 1978.

– Der blinde Uhrmacher. Ein neues Plädoyer für den Darwinismus. Von Richard Dawkins. Kindler Verlag, München 1987.

– Der Mensch – eine Marionette der Evolution? Eine Kritik an der Soziobiologie. Von Hansjörg Hemminger. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1983.

– Verhaltensbiologie des Kindes. Von Bernhard Hassenstein. 4. erweiterte Neuauflage, Piper Verlag, München 1987.

– Die Gene sind es nicht... Biologie, Ideologie und menschliche Natur. Von Richard C. Lewontin, Steven Rose und Leon J. Kamin. Psychologie Verlagsunion, München, Weinheim 1988.

– Vom Töten zum Mord. Das wirkliche Böse in der Evolutionsgeschichte. Von Christian Vogel. Hanser Verlag, München, Wien 1989.

– Evolution und Anpassung. Warum die Vergangenheit die Gegenwart erklärt. Herausgegeben von Eckart Voland. Hirzel Verlag, Stuttgart 1993.




Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 72
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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