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Der Nachweis des top-Quarks

Jahrelang fahndeten Teilchenphysiker nach dem vermutlich letzten noch nicht entdeckten Grundbaustein der Materie. Erst mit Hilfe riesiger Beschleuniger und ausgefeilter Detektoren konnten sie unter vielen Milliarden Zusammenstößen zwischen Protonen und Antiprotonen einige herausfiltern, bei denen die superschweren Teilchen entstanden sind.

Am 2. März 1995 drängelten sich Wissenschaftler in den Vortragssälen des Fermi National Accelerator Laboratory in Batavia in der Nähe von Chicago (Illinois). Das Fermilab, wie dieses Großforschungszentrum der USA für Hochenergiephysik meist genannt wird, hatte kurzfristig zu einer Veranstaltung mit historischer Bedeutung geladen: In aufeinanderfolgenden Vorträgen verkündeten Physiker mehrerer dort tätiger Arbeitsgruppen die Entdeckung eines neuen Teilchens, des top-Quarks. Damit war die jahrzehntelange Suche nach einem der letzten noch fehlenden Glieder im gängigen Theoriegebäude der Elementarteilchenphysik, dem sogenannten Standardmodell, erfolgreich zu Ende gegangen.

Das top-Quark ist das sechste und vermutlich letzte in einer Reihe von Partikeln, die zusammen mit den Leptonen – zu denen auch das Elektron gehört – die Grundbausteine der Materie darstellen. Die leichtesten von ihnen, das up- und das down-Quark, sind Bestandteile der bekannten Protonen und Neutronen, aus denen wiederum die Kerne aller Elemente im Periodensystem aufgebaut sind. In der Frühzeit des Universums, kurz nach dem Urknall, gab es auch schwerere Quarks – das charm-, strange-, top- und bottom-Quark – sowie schwerere Leptonen in Mengen, doch können sie heute nur in aufwendigen Beschleunigerexperimenten erzeugt werden. Das Standardmodell beschreibt die Wechselwirkungen zwischen diesen fundamentalen Teilchen. Ihm zufolge gibt es immer Paare von Leptonen sowie von Quarks, die zusammengehören und deshalb gelegentlich Generationen genannt werden (Kasten Seite 85).

Nachdem die Physiker 1977 das bottom-Quark gefunden hatten, waren sie sich sicher, daß es auch das Gegenstück – top genannt – geben mußte. Dieses erwies sich jedoch als außerordentlich schwer nachweisbar. Obwohl das top-Quark ein Elementarteilchen ohne erkennbare Struktur ist, ergab sich seine Masse zu 175 Gigaelektronenvolt (GeV, Milliarden Elektronenvolt). Das ist soviel wie ein Goldatom und weitaus mehr als die meisten Theoretiker in Betracht gezogen hatten. Demgegenüber ist das Proton, das eine innere Struktur aufweist und aus zwei up-Quarks und einem down-Quark besteht, ein Leichtgewicht: Seine Masse beträgt nur knapp 1 GeV. (Hochenergiephysiker geben die Masse eines Teilchens gewöhnlich in Elektronenvolt, einer Energieeinheit, an. Die Masse m und die Energie E sind nämlich äquivalent und können ineinander umgewandelt werden, wobei beide Größen über die Lichtgeschwindigkeit c gemäß der berühmten Einsteinschen Formel E = mc2 verknüpft sind.)

Um ein top-Quark zu erzeugen, muß deshalb eine enorme Energiemenge auf kleinstem Raum konzentriert werden. Physiker erreichen dies dadurch, daß sie zwei Teilchen beschleunigen und dann frontal aufeinanderprallen lassen. Man hoffte, bei vielen Billionen solcher Partikelzusammenstöße wenigstens einige top-Quarks finden zu können. Allerdings wußte zuvor niemand, wieviel Energie dazu erforderlich war; denn das Standardmodell sagte zwar viele Eigenschaften des gesuchten Teilchens vorher (darunter die Ladung und den Eigendrehimpuls, den Spin), aber nicht seine Masse.

Obwohl Teilchen im Prinzip aus reiner Energie entstehen können, müssen dabei für bestimmte Eigenschaften – wie etwa die elektrische Ladung – gewisse Erhaltungsregeln erfüllt sein. Am einfachsten erzeugt man ein top-Quark gemeinsam mit seinem zugehörigen Antiteilchen (das gleiche Masse, aber entgegengesetzte Vorzeichen in anderen Eigenschaften hat), so daß sich die Erhaltungsgrößen gegenseitig aufheben.


Die Suche beginnt

Als der Beschleuniger am Fermilab 1985 in Betrieb genommen wurde, hatte man bereits seit acht Jahren in anderen Instituten nach dem top-Quark gefahndet. Erste Versuche am Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) in Palo Alto (Kalifornien) und am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg verliefen negativ. Als verschiedene andere Beschleuniger mit höherer Strahlenergie verfügbar wurden, setzte man sie ebenfalls für die Jagd nach diesem Teilchen ein. Anfang der achtziger Jahre wurden am CERN, dem Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik in Genf, Strahlen aus Protonen und Antiprotonen mit einer Gesamtenergie von bis zu 315 GeV aufeinander geschossen. Dabei entdeckte man zwei neue Teilchen: das W- und das Z-Boson.

Im Unterschied zu den Quarks und Leptonen sind diese Bosonen keine Bestandteile von Materie; vielmehr gehören sie zu den Austauschteilchen oder Eichbosonen, die Kräfte übertragen – in diesem speziellen Falle die schwache Kraft, die für einige Arten des radioaktiven Zerfalls ursächlich ist. Ihre Entdeckung lieferte damals eine weitere Bestätigung des Standardmodells; denn dieses hatte ihre Massen genau vorhergesagt. Man war nun in der allgemeinen Euphorie überzeugt, am CERN in Kürze auch das top-Quark nachweisen zu können.

Dies erwies sich jedoch als schwieriges Unterfangen. Ein Zusammenstoß von Protonen und Antiprotonen findet nämlich eigentlich nur zwischen ihren Konstituenten statt, den Quarks (den materietragenden Teilchen) und den Gluonen (den Überträgern der zwischen den Quarks wirkenden starken Kraft). Da auf jedes dieser Teilchen nur ein Bruchteil der Gesamtenergie des Protons oder Antiprotons entfällt, muß die Kollision äußerst energiereich sein, wenn dabei ein top-Quark entstehen soll (Bild 1). Solche Zusammenstöße sind jedoch sehr selten – und zwar um so seltener, je höher die benötigte Energie, je größer also die Masse des gesuchten Teilchens ist.

Bis 1988 hatte man am CERN lediglich herausfinden können, daß die Masse des damals noch hypothetischen top-Quarks größer als 41 GeV sein müsse. Durch die Inbetriebnahme des neuen Detektors CDF am Fermilab entbrannte in jenem Jahr eine Art Wettstreit zwischen beiden Forschungseinrichtungen; doch die achtziger Jahre gingen ohne Nachweis des gesuchten Quarks zu Ende, und man hatte nur die Erkenntnis gewonnen, daß dessen Masse mindestens 77 GeV betragen muß.

Mit der am CERN damals verfügbaren Strahlenergie war es unwahrscheinlich, Teilchen größerer Masse erzeugen zu können. So lief das Wettrennen nun innerhalb des Fermilab weiter. Auf Veranlassung des damaligen Direktors, Leon M. Lederman, hatte man einen zweiten Detektor namens D0 (gesprochen: D-Null) an anderer Stelle des Beschleunigerrings aufgebaut, der 1992 in Betrieb ging. Diese hausinterne Konkurrenz zur CDF-Gruppe war nicht nur ein Ansporn für die weitere Suche, sondern bot auch den entscheidenden Vorteil, die Meßergebnisse durch ein unabhängiges Experiment verifizieren zu können.

Die Experimente CDF und D0 werden in internationaler Zusammenarbeit durchgeführt, und an jedem wirken mehr als 400 Physiker mit. Hinzu kommen unzählige Ingenieure, Techniker und Hilfskräfte. Die konkurrierenden Teams arbeiten unabhängig voneinander und werten ihre Daten auch niemals zusammen aus. Jede Gruppe versucht, die andere zu überbieten. Es ist jedoch ein kollegialer Wettbewerb; wir tauschen Informationen in der Cafeteria aus und genießen sowohl die fachliche Diskussion als auch die unvermeidlichen Sticheleien.

Eines der ungeschriebenen Gesetze beider Experimente ist es, daß außerhalb der Arbeitsgruppe nicht über vorläufige Ergebnisse gesprochen wird. Dennoch konnte niemand erwarten, daß etwaige Neuigkeiten vor der anderen Gruppe verborgen blieben, zumal mindestens drei Physiker mit einem Mitglied des anderen Teams verheiratet waren. Um ein Überkochen der Gerüchteküche zu verhindern, vereinbarten wir mit der D0-Leitung, daß die jeweils andere Arbeitsgruppe eine Woche vor einer wichtigen Ankündigung benachrichtigt würde.


Nachweisverfahren

Die entscheidende Komponente eines Hochenergie-Experiments ist der Detektor, der die bei einer Teilchenkollision entstehenden Reaktionsprodukte registriert. Den besten Berechnungen zufolge sollte unter jeweils zehn Milliarden Kollisionen ein top-Quark zu erwarten sein. Die Jagd nach diesem Teilchen glich damit einer verschärften Version der Aufgabe, eine Nadel im Heuhaufen zu finden.

Beide Arbeitsgruppen bauten im Laufe eines Jahrzehnts riesige komplizierte Instrumente mit mehreren hunderttausend elektronischen Zählern auf, um die Signatur des top-Quarks – also die Spur im Detektor, die es verrät – aus einer Unmenge von Datenmüll herauszufiltern. Die Meßverfahren sind dabei unterschiedlich: Während der CDF-Detektor die entstehenden Teilchen in einem Magnetfeld ablenkt, um aus der Krümmung der Bahnen ihren Impuls bestimmen zu können, beruht das D0-Experiment auf einem extrem genauen, aus Segmenten aufgebauten Kalorimeter, das die Energie der Reaktionsprodukte mißt.

Das gesuchte top-antitop-Teilchenpaar läßt sich nicht direkt nachweisen, denn es ist – im Gegensatz zu den up- und down-Quarks – nicht stabil, sondern zerfällt bereits nach etwa 10–24 Sekunden wieder. Dem Standardmodell zufolge müßte das top-Quark bei hinreichend großer Masse fast immer in ein W-Boson und ein bottom-Quark zerfallen. Somit sollten aus einem top-antitop-Paar zwei W-Bosonen, ein bottom- und ein antibottom-Quark entstehen.

Doch auch diese Teilchen lassen sich nicht direkt registrieren. Die Lebensdauer des W-Bosons entspricht in etwa der des top-Quarks. Das bottom-Quark ist ebenfalls instabil, wenngleich es viel länger bestehen bleibt. Zudem gibt es keine einzelnen – gewissermaßen nackten – Quarks. Die starke Wechselwirkung sorgt dafür, daß sie stets mit anderen Quarks oder Antiquarks zusammen auftreten: Zu zweit bilden sie ein Meson, zu dritt ein Baryon. (Protonen und Neutronen beispielsweise sind Baryonen.) Sobald ein Quark im Energieblitz einer Teilchenkollision entsteht, wird es sozusagen von einer Wolke anderer Quarks und Antiquarks umhüllt. Im Experiment bildet sich ein Jet, ein Strahl aus Partikeln, die etwa die gleiche Bewegungsrichtung wie das ursprüngliche Quark aufweisen.

Ein W-Boson kann in ein Quark und ein Antiquark derselben Generation zerfallen (beispielsweise in ein up- und ein antidown-Quark), wobei diese dann im Detektor als zwei Jets in Erscheinung treten. Eine andere Zerfallsart ist die in ein geladenes und ein neutrales Lepton derselben Generation, zum Beispiel in ein Elektron und ein Neutrino. Handelt es sich bei dem geladenen Lepton um ein Elektron oder ein Myon (eine schwerere Variante des Elektrons), so kann dieses direkt im Detektor beobachtet werden. Ist es jedoch ein Tauon (eine noch schwerere Version des Elektrons), zerfällt es recht schnell und ist somit schwer zu identifizieren. Das entstandene Neutrino (das keine oder nur eine sehr kleine Masse hat) passiert den Detektor völlig unbemerkt. Auf sein Vorhandensein läßt sich nur indirekt schließen, weil es einen Impuls hat: Addiert man die Impulse aller im Detektor gemessenen Teilchen und zeigt sich dabei ein beträchtlicher Fehlbetrag, so nimmt man an, daß die Differenz von einem Neutrino weggetragen worden ist.

Als wir im August 1992 den Meßbetrieb aufnahmen, lag die Untergrenze für die Masse des top-Quarks bereits bei 92 GeV. Dieser Wert hatte grundlegende Bedeutung, weil er einen denkbaren Erzeugungsweg für dieses Teilchen ausschloß. Das W-Boson vermittelt nämlich Wechselwirkungen zwischen Quarks derselben Generation und folglich auch zwischen top- und bottom-Quark. Deshalb hätte das top bei einer Masse unter etwa 75 GeV durch Zerfall eines W-Bosons entstehen können, wobei gleichzeitig ein antibottom-Quark entstanden wäre. Die Mindestmasse von 92 GeV machte jedoch klar, daß es sich nur durch Erzeugen eines top-antitop-Paares nachweisen ließe.

Zu den auffallendsten Eigenschaften eines Kollisionsprozesses, bei dem vorübergehend ein solches Paar auftritt, sollten die von den bottom-Quarks (seinen Zerfallsprodukten) erzeugten Jets gehören (Kasten auf Seite 88). Das bottom-Quark ist darin als Teil eines Mesons oder Baryons enthalten und zerfällt seinerseits etwa einen halben Millimeter nach dem Ort seiner Erzeugung. Im Jahre 1992 begannen wir, die Bahnen von Teilchen in Jets sehr genau aufzuzeichnen, indem wir einen speziellen Detektor einsetzten, den wir exakt über dem Kollisionsbereich der Strahlen – dem Vertex – plazierten. Mit einem solchen Vertex-Detektor aus Siliciumstreifen läßt sich die Bahn eines Teilchens auf 15 Mikrometer (tausendstel Millimeter) genau bestimmen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, August 1995, Seite 54). Durch das Aufspüren und Zurückverfolgen der meisten Bahnen in einem Jet hofften wir, den Zerfallsort des bottom-Quarks zu finden, um so die Art des Jets eindeutig identifizieren zu können.

Die Silicium-Technik war neu, und wir sorgten uns über die Beständigkeit des Detektors, durch den während des Meßbetriebs immerhin mehrere Billionen hochenergetische Teilchen drangen. Sollte er zufällig vom Strahl des Beschleunigers direkt getroffen werden, würde er unweigerlich innerhalb von Sekundenbruchteilen zerstört. Deshalb entwickelten wir eine Schutzvorrichtung, die den Strahl im Falle einer Störung behutsam von ihm weglenkt. Während wir erste Erfahrungen mit dem neuen Vertex-Detektor sammelten, nahm auch die D0-Arbeitsgruppe auf der entgegengesetzten Seite des Beschleunigerrings ihr neuartiges Kalorimeter in Betrieb.

Nur drei Monate später, im Oktober 1992, registrierten wir einen ersten Hinweis auf das top-Quark: Das Ereignis, wie Teilchenphysiker die Vorgänge im Gefolge einer Kollision nennen, war durch ein hochenergetisches Myon und Elektron, ein großes Impulsdefizit und mindestens zwei Jets gekennzeichnet. Wir analysierten es akribisch und kamen zu dem Schluß, daß es möglicherweise Entstehung und Zerfall des gesuchten Teilchens widerspiegelte. Am D0 hatte man eine ähnliche Partikelspur beobachtet, die sich ebenfalls gut mit der vorübergehenden Erzeugung eines top-Quarks erklären ließ. Dennoch: ein einziges Ereignis genügte nicht. Um sicherzustellen, daß wir nicht fälschlich ein Hintergrund-Signal für die Signatur des gesuchten Teilchens hielten, mußten wir top-Quarks in nennenswerter Anzahl produzieren und beobachten. Also untersuchten wir die Daten noch eifriger als zuvor. Als wir nichts Außergewöhnliches fanden, wußten wir, daß wir noch einen weiten Weg vor uns hatten.


Wann ist ein Teilchen entdeckt?

An der Auswertung der im CDF-Detektor registrierten Ereignisse waren drei Gruppen beteiligt. Eine suchte nach Teilchenschauern, in denen zwei Leptonen (aus zwei W-Boson-Zerfällen) und mindestens zwei Jets (vermutlich von den bottom-Quarks) auftraten; dieses Team hatte auch den ersten hoffnungsvollen Hinweis auf eine top-Quark-Signatur gefunden. Die anderen beiden Gruppen hielten Ausschau nach Ereignissen mit einem Lepton (aus dem Zerfall eines W-Bosons) und mehreren Jets (aus dem Zerfall des anderen W-Bosons und der bottom-Quarks). Dabei verfolgten sie jedoch unterschiedliche Strategien: Die eine Gruppe fahndete in den Signalen der Silicium-Vertex-Kammer nach bottom-Jets; die andere suchte nach niederenergetischen Leptonen, die auf den Zerfall eines bottom-Quarks hinweisen.

Nach einem knappen Jahr hatten wir am CDF die Untergrenze für die Masse des top-Quarks auf 108 GeV angehoben; kurz darauf erhöhte das D0-Team auf 131 GeV – und noch immer hatten wir keine heiße Spur. Im Juli 1993 schließlich stellten die drei Gruppen bei einer internen Besprechung der gesamten CDF-Kollaboration ihre neuesten Resultate vor. Für sich genommen waren sie nicht eindeutig, zusammen lieferten sie jedoch überzeugende Indizien für die Existenz des top-Quarks. Dies stimmte einerseits hoffnungsvoll; doch würden wir unsere Resultate auf einer Konferenz präsentieren, müßten die Zuhörer folgern, wir hätten stichhaltige Beweise für das top-Quark. Für eine solche Aussage war es indes noch zu früh. Darum hielt einer von uns (Tipton) auf der nächsten Konferenz einen Vortrag, der sich im wesentlichen auf unsere Methoden und auf die Schwierigkeiten bei der Suche nach dem top-Quark beschränkte, ohne auf die neuesten Ergebnisse einzugehen. Dennoch wurde das Auditorium hellhörig, und schon bald kursierten Gerüchte, von denen einige sehr nahe bei der Wahrheit, andere wiederum völlig abwegig waren. Als wir einen für das Frühjahr 1994 geplanten Vortrag auf einer wichtigen Konferenz absagten, heizte dies die Spekulationen weiter an.

Was hatten wir zu bieten? Unter den etwa einer Billion im CDF erzeugten Kollisionen hatten wir zwölf Ereignisse herausgefiltert, die auf die Erzeugung eines top-antitop-Paares hinwiesen. Die Signaturen konnten jedoch prinzipiell auch bei anderen physikalischen Prozessen entstanden sein; wir mußten also deren Wahrscheinlichkeit abschätzen. Nach monatelanger Arbeit kamen wir zu dem Ergebnis, daß unter unseren Messungen statistisch etwa 5,7 Hintergrundereignisse zu erwarten gewesen wären. Die Wahrscheinlichkeit, daß unsere zwölf top-Ereignisse allein solchen Hintergrundsignalen zuzuordnen waren, lag also bei 1:400. Es bestand somit immer noch eine wenn auch kleine Möglichkeit, daß wir gar kein top-Quark beobachtet hatten.

Um größere Gewißheit zu erlangen, unterzogen wir die zwölf Ereignisse einer eingehenden Untersuchung. Insbesondere versuchten wir, die Masse des top-Quarks gewissermaßen zu rekonstruieren, indem wir für jeden dieser Fälle die Energien in den Jets sowie der Leptonen aufsummierten, die bei dem Zerfall des mutmaßlichen top-antitop-Paares erzeugt worden waren. Falls die Ereignisse wirklich von solch einem Paar stammten, mußten die so ermittelten Werte einigermaßen übereinstimmen. Für Hintergrundereignisse war dagegen eine viel breitere statistische Verteilung zu erwarten. Und tatsächlich: Die abgeleiteten Werte für die Masse streuten nur um einen relativ engen Bereich um etwa 175 GeV (Bild 2 links). Für viele von uns war das Hinweis genug, daß wir nicht durch Hintergrundereignisse getäuscht wurden.

Anfangs planten wir, vier Fachveröffentlichungen zu schreiben: jeweils eine pro Untersuchungsmethode und eine, in der die Ergebnisse zusammengefaßt werden sollten. Beim nächsten Treffen aller Mitglieder der CDF-Kollaboration, das wir im nachhinein als das Oktober-Massaker bezeichnen, stellten die vier Autorengruppen ihre Entwürfe den anderen Teammitgliedern vor. Wir wurden lautstark und angemessen kritisiert, weil unsere Beiträge unvollständig waren und kein einheitliches Bild zeichneten. Daraufhin verwarfen wir den Plan mit den vier Veröffentlichungen; statt dessen machte sich eine kleine Gruppe (zu der auch die beiden Verfasser gehörten) an das Schreiben eines einzigen Artikels.

Was folgte, war schrecklich. Jeder hatte eine andere Meinung darüber, was gesagt werden sollte. Es ist schwierig, 400 Mitautoren zufriedenzustellen. Als sich schließlich Monate später die Arbeiten ihrem Ende näherten, erhielten wir sogar Korrekturen von Physikern außerhalb der Arbeitsgruppe, die eigentlich überhaupt nicht im Besitz der Entwürfe hätten sein dürfen. Nach langem Hin und Her entschied die Arbeitsgruppe, das Ergebnis nicht als Entdeckung, sondern als Indiz für die Existenz des top-Quarks zu präsentieren. Am 22. April 1994, als wir endlich den Artikel bei den "Physical Review Letters" einreichten, waren die meisten mit ihm zufrieden. Unser Beitrag war das Ergebnis eines vorbildlichen demokratischen Prozesses, von dem wir alle hofften, ihn nicht wiederholen zu müssen.

Unsere gesamten Entwürfe und Unterlagen hatten wir auf dem Rechner unseres Sekretariats in einem Unterverzeichnis mit der Bezeichnung "pot" (Umkehrung von top und "Topf") abgelegt. Wie wohl zu erwarten gewesen war, scheiterte dieser linkische Versuch einer Verschlüsselung kläglich. Kurz vor der offiziellen Bekanntgabe unserer Ergebnisse veröffentlichten zwei Post-Doktoranden einen nicht ernst gemeinten Artikel auf einem elektronischen schwarzen Brett im Internet. Darin sagten sie die Masse des top-Quarks auf der Grundlage einer völlig verrückten Theorie vorher. Ihre Angaben stimmten bis zur letzten Nachkommastelle mit dem CDF-Wert überein, und ihr Beitrag endete mit dem Hinweis, sie hätten ein offenes Ohr für attraktive Stellenangebote.

Wenige Tage nach Einreichen des CDF-Artikels gaben wir unsere Ergebnisse auf einem Seminar und einer Pressekonferenz bekannt. Die D0-Arbeitsgruppe stellte ihre Resultate ebenfalls vor. Obwohl diese mit den CDF-Werten übereinstimmten, ließ sich aus den D0-Daten (bis auf das eine Ereignis zu Beginn der Aufzeichnungen) kein zwingender Nachweis für die Existenz des top-Quarks herleiten. Die Arbeitsgruppe hatte noch einen niedrigeren Wert für seine Masse angenommen und daher das Experiment nicht optimal abgestimmt. Innerhalb weniger Wochen schloß sie jedoch ihre Neuberechnungen (für ein schwereres top-Quark) ab; auf dieser Grundlage fanden sich ebenfalls Hinweise auf das gesuchte Teilchen.

Unterdessen machten sich beide Teams an das Sammeln weiterer Daten. Um die vorläufigen Ergebnisse abzusichern, mußte die Anzahl registrierter top-Ereignisse mindestens verdoppelt werden. Am CDF setzte man einen neuen Silicium-Vertex-Detektor ein, weil der alte durch Strahlung beschädigt worden war. Wieder mußten wir erst lernen, mit den Eigenheiten des Nachweisgeräts umzugehen, doch schließlich funktionierte es besser als sein Vorgänger. Gestützt auf unsere bisherige Erfahrung programmierten wir einen neuen Auswerte-Algorithmus, um mögliche top-Ereignisse noch besser aufspüren zu können. Als wir ihn auf unser neues Datenmaterial anwandten, wurde fast augenblicklich klar, daß wir das top-Quark tatsächlich gefunden hatten.

In den letzten Vorträgen, die am 2. März 1995 am Fermilab gehalten wurden, präsentierten sowohl die CDF- als auch die D0-Kollaboration überzeugende Indizien für die Existenz des top-Quarks. Übereinstimmend wurde die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die mutmaßlichen top-Ereignisse sämtlich durch Hintergrundsignale vorgetäuscht sein könnten, mit weniger als 1:500000 angegeben.


Grenzen des Standardmodells

Seitdem haben wir insgesamt mehr als 100 top-Ereignisse registriert und auch erste Experimente zu Phänomenen durchgeführt, die sich nicht mit dem Standardmodell erklären lassen. Die extrem große Masse des top-Quarks – der gegenwärtige Wert liegt bei 175,6 GeV – legt nahe, daß es sich grundsätzlich von den fünf leichteren Quarks unterscheidet. Dies läßt hoffen, eine Erweiterung des Standardmodells finden zu können, mit der sich auch solche Fragen beantworten lassen, die gegenwärtig jenseits seiner Möglichkeiten liegen.

Innerhalb dieses Modells wird die schwache Kraft (vermittelt durch W- und Z-Bosonen) und die elektromagnetische Kraft (vermittelt durch Photonen) bei sehr hohen Energien zu einer einzigen elektroschwachen Wechselwirkung vereinheitlicht. In der Natur gab es derart hohe Energien in einer sehr frühen Phase des Universums. In unserer heutigen niederenergetischen Welt verhalten sich elektromagnetische und schwache Wechselwirkung sehr unterschiedlich. Was die Ursache für diese Aufspaltung war (die Physiker sprechen von einer Brechung der anfänglichen Symmetrie), ist zwar nicht bekannt; aber im einfachsten Modell wird sie durch ein sogenanntes Higgs-Teilchen hervorgerufen.

Im symmetrischen Zustand bei hohen Energien sind W- und Z-Bosonen, Photonen, Leptonen und Quarks sämtlich masselos. Wenn bei niedrigeren Energien die Symmetrie bricht, wechselwirken W- und Z-Bosonen mit Higgs-Teilchen und erhalten dadurch eine Masse, die sich mit dem Standardmodell berechnen läßt. Quarks und Leptonen erhalten bei diesem Vorgang ebenfalls eine Masse; man kann sie jedoch nicht aus dem Modell herleiten, sondern muß sie in Form von Variablen einsetzen. Diese Parameter beschreiben, wie stark jeder Quark- oder Lepton-Typus mit dem Higgs-Teilchen wechselwirkt.

Für ein Elektron – das eine sehr geringe Masse hat – beträgt die Stärke dieser Wechselwirkung oder Kopplung 3 ¥ 10-6, für ein top-Quark hingegen ziemlich genau eins. Diese recht starke Kopplung an das Higgs-Teilchen und bis zu einem gewissen Grade auch die besondere Bedeutung der Zahl 1 legen die Vermutung nahe, daß das top-Quark eine Sonderrolle spielen könnte. Zwar wissen wir noch nichts darüber; sicher ist jedoch, daß es wegen seiner großen Masse das – bezüglich seiner Wechselwirkung mit anderen Teilchen – einflußreichste Quark ist. Auf Grundlage einer präzisen experimentellen Bestimmung der Massen von top-Quark und W-Boson könnte man möglicherweise die Masse des Higgs-Teilchens ermitteln (Bild 2 rechts).

Prinzipiell wäre es auch möglich, ohne Hinzunahme eines fundamentalen Higgs-Teilchens die Symmetriebrechung der elektroschwachen Theorie zu erklären. In einer dieser Theorien ist das Higgs-Teilchen durch ein top-antitop-Paar ersetzt. Sie sagt ferner die Existenz eines neuen, schweren Teilchens voraus, das in top-antitop-Paare zerfällt. Ein solcher Effekt würde die Produktionsrate von top-Quarks erhöhen.


Was kommt nach dem top-Quark?

Die enorme Masse des top-Quarks macht seine Zerfälle zu einem fruchtbaren Feld für die Suche nach neuen Teilchen. Manche Theoretiker spekulieren bereits, daß einige der vom CDF registrierten Ereignisse supersymmetrische Partikel enthalten haben könnten (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, August 1986, Seite 68). In der Theorie der Supersymmetrie ordnet man jedem Teilchen aus dem Standardmodell ein noch unentdecktes Partnerteilchen zu. Sollte es diese tatsächlich geben, und sollten sie leichter als das top-Quark sein, könnten sie im Beschleuniger bei top-Ereignissen entstehen. Beispielsweise könnte ein top in seinen eigenen supersymmetrischen Partner (das stop) zerfallen. Unter Supersymmetrie wäre es auch erlaubt, daß ein Gluino (der hypothetische Partner des Gluons) in ein top-antitop-Paar zerfällt. Solche Effekte könnten sich sogar gegenseitig aufheben, so daß sich die beobachtete Gesamtproduktionsrate von top- und antitop-Quarks überhaupt nicht ändert.

Supersymmetrie-Theorien sagen nicht nur ein Higgs-Teilchen voraus, sondern eine ganze Familie von vier oder mehr. Falls es sie gibt und sie leichter als das top-Quark sein sollten, könnten sie in dessen Zerfällen gefunden werden. Sowohl mit dem CDF- als auch mit dem D0-Experiment wird nach diesen hypothetischen Teilchen gesucht, bislang allerdings ohne Erfolg.

Eine andere wichtige Frage ist, ob es sich bei den Quarks, insbesondere bei dem schweren top, wirklich um strukturlose fundamentale Teilchen handelt. Vor kurzem maß die CDF-Arbeitsgruppe am Fermilab-Beschleuniger die Häufigkeit, mit der hochenergetische Jets erzeugt werden: Sie war höher als erwartet. Hochenergetische Streuung unter großen Winkeln (analog zur Rutherford-Streuung, mit der die Existenz von Atomkernen nachgewiesen wurde) liefert Einblicke in den Aufbau der kollidierenden Objekte. Eine mögliche Erklärung unserer Ergebnisse ist, daß die überzähligen Jets durch die Kollisionen noch kleinerer Objekte innerhalb der Quarks erzeugt werden. Das wurde jedoch noch bei keinem anderen Experiment beobachtet.

Zu einer solch radikalen Schlußfolgerung, welche die Theorie der Quarks völlig revolutionieren würde, kann man jedoch nur gelangen, wenn alle anderen Möglichkeiten auszuschließen sind. Auch minimale Ungenauigkeiten bei der Vorhersage könnten solche überzähligen Jets hervorrufen. Gegenwärtig untersuchen wir verschiedene Interpretationsmöglichkeiten; die Daten scheinen einige der eher langweiligen Erklärungen zu bestätigen. Vorerst müssen wir annehmen, daß das top-Quark trotz seiner enormen Masse ein wirkliches Fundamentalteilchen ohne Unterstruktur ist.

Zur Zeit wird der Beschleuniger am Fermilab aufgerüstet; die Teams sind dabei, sowohl den CDF- als auch den D0-Detektor wesentlich zu verbessern. Der Meßbetrieb soll 1999 fortgesetzt werden. Wir erwarten, daß anschließend die Produktionsrate an top-Quarks 20mal höher ist als bisher und sich auch die Effizienz bei der Identifikation interessanter Ereignisse entsprechend erhöht. Die Ausbeute an tops soll damit insgesamt auf das 30fache steigen, was einen viel genaueren Einblick in die Struktur dieses Teilchens ermöglichen würde. Im Jahre 2006 wird der Große Hadronen-Kollider am CERN in Betrieb gehen. In ihm können zwei Protonenstrahlen bei 14 TeV (Tera- oder 1012 Elektronenvolt, entsprechend der siebenfachen Energie des Fermilab) aufeinandergeschossen werden; damit hofft man, fast jede Sekunde ein top-antitop-Paar erzeugen zu können.

Welche neuen Gesetze der Physik jenseits unseres jetzigen Wissenshorizontes auftauchen können, ist Gegenstand vieler Spekulationen. Sie werden erst dann enden, wenn Messungen neue Einzelheiten über die Natur der Materie zu enthüllen beginnen. Untersuchungen über das top-Quark werden mit Sicherheit dazu beitragen, viele der noch immer offenen Fragen über die Grundlagen unserer physischen Welt zu beantworten.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1997, Seite 82
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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