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Spektrum-Interview: Die Wahrheit in der Wissenschaft

Gewinnen Naturforscher durch objektive Erkenntnisse ein immer vollständigeres Bild der Wirklichkeit - oder ist der Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaft nur eine historisch wandelbare Übereinkunft? Mit Spektrum diskutierten der Astrophysiker Jürgen Ehlers und der Sozialwissenschaftler Rudolf Stichweh.


Spektrum: Herr Professor Ehlers – wie gültig ist Newtons Gravitationsgesetz?

Prof. Dr. Jürgen Ehlers: Newtons Gesetz ist eine Aussage nicht nur über unser Planetensystem, sondern auch über andere Doppel- und Mehrfachsysteme von Körpern, die in einem bestimmten Größen- und Genauigkeitsbereich als eine richtige Aussage über die Natur aufzufassen ist. Sie ist zwar in Feinheiten korrigiert und ergänzt worden durch die Allgemeine Relativitätstheorie, doch das hat überhaupt nichts daran geändert, dass diese Erkenntnis ein für alle Mal dasteht. Sie gilt unabhängig davon, in welchem Kulturkreis sie zu Stande gekommen ist und von welchen speziellen Menschen sie erfunden wurde.

Spektrum: Herr Professor Stichweh – "ein für alle Mal": Wie reagieren Sie auf so etwas?

Prof. Dr. Rudolf Stichweh: Die Frage ist, wovon wir sprechen. Sprechen wir vom Text der "Principia mathematica" und von dem, was wir da lesen – was ja kaum jemand getan hat; das Buch war schon bei Erscheinen "unlesbar", weil die archaische mathematische Darstellungsform für die meisten Zeitgenossen nicht mehr nachvollziehbar war. Was meinen wir, wenn wir sagen, das ist gültig für alle Zeit? Reden wir über den Text eines Buches, so wie es 1687 erschienen ist, oder reden wir über das, was ein Physiker heute sagt, der eine Selektion vornimmt und gewisse Dinge nach wie vor für gültig hält?
Das ist der Unterschied, der praktizierende Naturwissenschaftler und Historiker voneinander trennt. Naturwissenschaftler nehmen rationale Rekonstruktionen vor, und denen sprechen sie Überzeitlichkeit zu. Der Wissenschaftshistoriker liest zeitgenössische Texte und findet in den Originalquellen auf einmal nicht mehr die geordnete Abfolge wachsender Einsicht, die Sicherheit des Fortschreitens, sondern unverständliche Begriffe, eigentümliche Illustrationen, absurde Theorien.

Ehlers: Wir reden über das Feststellen von Sachverhalten: Newton versucht Beobachtungen darüber, wie bestimmte Punkte am Himmel ihre Stellung verändern, mit einem theoretischen Bild zu beschreiben. Ich kann zumindest die Bücher, in denen Newton die Gesetze der Himmelsmechanik formuliert, so lesen, dass ich keinen grundsätzlichen Unterschied sehe zu der Art, wie wir diesen Teil der Physik heute in Vorlesungen darstellen. Dass Newton als Beweistechnik die Geometrie Euklids benutzt hat und die Theorie der Kegelschnitte von Appolonius, ist mehr eine Äußerlichkeit.
Natürlich ist es für uns heute einfacher, wenn man den Kalkül der Differenzialrechnung verwendet, aber das ist eigentlich nur eine Übersetzung – so wie es mir mehr Mühe macht, einen französischen Text über Quantenmechanik zu lesen als einen deutschen. Der sachliche Inhalt, sogar die Erfahrungsdaten, auf die Newton sich bezieht, sind erstaunlich gültig geblieben. Dieser Wirklichkeitsbezug ist mir mindestens so wichtig wie der Bezug auf den Text.

Stichweh: Wir reden eigentlich nie über Wirklichkeit, sondern über bestimmte Sätze, die Wissenschaftler über Wirklichkeit produzieren. Die Wirklichkeit bleibt immer draußen.
Wir beobachten einen Argumentations- und Kommunikationsprozess unter Wissenschaftlern, denen es auf bestimmte Weise gelingt, Überzeugungen zu produzieren, und auf andere Weise nicht. Eigentlich sprechen wir nur über Kommunikation, die andere Kommunikation zu beeinflussen versucht. Diese Indirektheit nimmt in der Geschichte der Wissenschaft sogar zu: Die Wirklichkeit bleibt immer weiter draußen.

Spektrum: Entschwindet die Wirklichkeit aus der Wissenschaft?

Ehlers: Was ich in Herrn Stichwehs Beschreibung vermisse, ist, dass sie nicht auf Experimente und Beobachtungen Bezug nimmt. Bei der Erforschung eines wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs wird man gewisse theoretische Ansätze erst dann akzeptieren, wenn die aus der Theorie resultierenden Vorhersagen über Experimente sich innerhalb vernünftiger Fehlergrenzen als mit der Theorie verträglich erweisen.
Dieser Bezug auf das, was nicht vom Menschen gemacht ist, sondern von außen kommt, ist mindestens so wichtig wie die innertheoretische Diskussion.

Stichweh: Ich würde gar keinen Unterschied machen zwischen Kommunikation, die sich auf Theorien bezieht, und solcher, die von Experimenten handelt. Ich halte etwas Bestimmtes für das Ergebnis meines Experiments – das ist ja nichts, was der Wirklichkeit einfach ablesbar wäre –, und das kann umstritten sein. Wir reden eigentlich immer nur mit anderen Wissenschaftlern, die wir von unserer Deutung des Experiments überzeugen müssen, und nie tritt die Wirklichkeit in diese Kommunikation ein, sondern die ist immer "da draußen". Es kann immer jemand daherkommen und sagen: Das ist ein einmaliger Effekt, das scheint mir eine unzuverlässige Technik et cetera. Nie kommt die Wirklichkeit dazwischen und entscheidet die Sache für uns.

Ehlers: Solange es nur um die Beschreibung dessen geht, was Menschen unmittelbar tun, stimme ich Ihnen völlig zu. Aber nehmen wir das Beispiel des Planetensystems: Von Eudoxus über Aristoteles, Ptolemäus, Kepler, Kopernikus, Newton bis zu Einstein finde ich es eine sinnvolle Beschreibung all dieser menschlichen Aktivitäten – wozu Beobachtung und Theoriebildung gehören –, zu sagen: Da hat man über einen Naturgegenstand immer Genaueres gelernt.
Warum darf man das nicht aussprechen? Das ist der Punkt, der mich aufregt. Wenn man den Wirklichkeitsbegriff als unerlaubt hinstellt, dürfte ein Historiker, der anhand von Dokumenten die Umstände von Cäsars Ermordung erforscht, nicht sagen: Ich stelle etwas fest über einen historischen Sachverhalt, der sich tatsächlich abgespielt hat – sondern er konstruiert sich nur in seinem Geist ein Bild.
Aber jeder vernünftige Mensch würde doch meinen: Auch schon vor etlichen Generationen hat es meine Vorfahren gegeben. Warum erlauben wir uns da über Wirklichkeit zu reden, aber im Kontext der Naturwissenschaften, wo auch etwas konstruiert wird auf Grund von uns direkt zugänglichen Dokumenten – das sind die Experimente –, da wollen wir uns das plötzlich nicht mehr erlauben?

Stichweh: Die Geschichtswissenschaften haben alles in allem akzeptiert, dass der Historiker Geschichten erzählt, die man auch anders erzählen kann. Von der Ermordung Cäsars kann es völlig verschiedenartige Versionen geben, die in gewissem Sinne gleichermaßen "wahr" und überzeugend sind. Die Geschichte, die der Historiker erzählt, ist ein bisschen auch eine künstlerische Konstruktion.

Ehlers: Ein bisschen, aber nicht nur!

Stichweh: Die wissenschaftliche Tradition setzt sich unablässig unter den Druck, Wirklichkeit erreichen zu wollen. Ich behandle das als eine Prämisse, als einen selbstgestellten Anspruch, aber nicht als etwas, das an irgendeinem Punkte tatsächlich einträte.
Diese Prämisse ist in gewissen Disziplinen wie der Physik besonders stark. Mathematiker akzeptieren viel selbstverständlicher, dass sie konstruieren, dass sie erfinden; sie setzen viel mehr auf Kreativität.

Spektrum: Wenn in einer physikalischen Theorie eine Größe willkürlich verändert wird, dann hat das Folgen: Die Theorie stimmt nicht mehr, eine danach konstruierte Brücke stürzt ein.

Stichweh: Ingenieure können auf Grund ihres Erfahrungswissens durchaus stabile Brücken konstruieren, obwohl die zu Grunde liegende Theorie falsch ist. Ich würde die Kopplung von Wissenschaft und Technik nicht so eng sehen. Man kann oft etwas konstruieren auf der Basis einer falschen Theorie, und solange die Brücke hält – oder solange eine medizinische Therapie funktioniert, obwohl sie falsch erklärt wird –, ist da kein Problem.

Spektrum: Wir kommen um eine Begriffsklärung nicht herum. Was ist Wirklichkeit?

Ehlers: Letztlich muss die Physik ihre Aussagen immer auf einfache und direkt wahrnehmbare Sachverhalte rückbeziehen können. Insofern kann man auch dem Wirklichkeitsbegriff nur einen Sinn geben in Bezug auf Wahrnehmungen – wobei wir mit Instrumenten auch etwas lernen können über Dinge, die unseren Sinnen nicht direkt zugänglich sind.
Wenn ich Amöben im Mikroskop sehe oder die Oberfläche eines Planeten im Teleskop, dann kommt es mir einfach vernünftig vor, zu sagen: Da sehe ich mir einen wirklichen Gegenstand an, da mache ich nicht etwas, was nur meiner Fantasie entsprungen ist. Im normalen Leben sagen wir doch auch: Ich bin überzeugt, mein Haus steht als wirklicher Gegenstand da, obwohl ich es im Augenblick nicht sehen kann. Warum wird das Zuschreiben von Wirklichkeit, das im täglichen Leben zumindest außerordentlich zweckmäßig ist, plötzlich als problematisch hingestellt?
Auch wenn zwei Historiker über Cäsars Ermordung streiten, so meinen doch beide: Auf eine Weise hat sich der Mord abgespielt, wir wissen nur nicht genau, wie. Und wir Physiker wollen wissen, wie sind die Planeten beschaffen, wie strahlen die Sterne ihre Energie aus – wir reden über Gegenstände der Natur. Das erscheint mir vernünftiger, als zu sagen: Wir reden über Kommunikationsweisen zwischen bestimmten Menschen.

Stichweh: Die Vorstellung davon, was Wirklichkeit ist und wie sie erreicht werden kann, hat sich historisch sehr verschoben. Es gibt im 18. Jahrhundert eine große Diskussion über die Unterscheidung zwischen Natur und Kunst, die etwas mit der Durchsetzung des Experiments zu tun hat.
Eine Tradition, die bis zu Goethe reicht, besagt: Das Experiment tut der Natur Gewalt an, und die Natur wird unter diesen Umständen nie wirklich etwas über sich aussagen, sondern immer nur Artefakte produzieren. Irgendwann akzeptieren Physiker und Chemiker dann, dass durch einen Experimentalapparat eine Annäherung an die Wirklichkeit vorstellbar ist.
Auch in der Geschichte der Elementarteilchenphysik des 20. Jahrhunderts ist eine scharfe Trennung zu beobachten zwischen Experimentaltraditionen, die auf visuelle Instrumente setzen und mit Fotografien von Einzelereignissen arbeiten, und anderen, die auf elektronische Instrumente setzen und statistische Vielheiten von Ereignissen registrieren. Solche Traditionen laufen über Jahrzehnte hinweg getrennt und bestreiten sich gegenseitig den Wirklichkeitsaspekt: Die Elektroniker sagen, ihr habt nur ein einzelnes Foto, das besagt überhaupt nichts, während die Optiker auf die Evidenz des einmaligen Eindrucks eines Partikels setzen. So bleibt die Frage, was wirklich ist, lange Zeit strittig unter den beteiligten Physikern.

Ehlers: Ich glaube, man kann über Wirklichkeitserkenntnis in der Physik nicht reden, ohne sich darüber zu einigen, was Theorien sind und wie sie auf Experimente bezogen sind – und das ändert sich im Laufe der Zeit etwa so, wie Sie das beschrieben haben. Einerseits werden die Erkenntnisse in der Physik intern beurteilt – das heißt, man verlangt, dass eine Theorie ein logisch geordnetes und mathematisch ausformuliertes Satzsystem ergibt. Andererseits hat man Experimente, wobei man natürlich auch Regeln braucht. Außerdem muss man Theorie und Experiment aufeinander beziehen. Wenn dann in der Theorie gezogene Folgerungen auf Grund dieser Zuordnungsregeln mit den Experimenten übereinstimmen, sagen wir Physiker, wir haben etwas von der Wirklichkeit verstanden.
Sie haben eben darauf hingewiesen, dass die experimentellen Sachverhalte, die man jeweils für richtig ansieht, sich im Laufe der Zeit verschieben. Ich behaupte aber, dass man eine Theorie nur dann als eine Verbesserung der früheren ansehen wird, wenn nicht nur die Experimente, die man neuerdings dafür ins Feld führt, mit der Theorie übereinstimmen, sondern auch – bei angemessener Beurteilung – die früheren Experimente.

Spektrum: Herr Stichweh, würden Sie sagen: Da findet Fortschritt statt? Oder wird da nur eine Geschichte durch eine andere abgelöst?

Stichweh: Ich glaube nicht, dass "Fortschritt" eine gute Beschreibung für die Entwicklung der Wissenschaften ist. Ich würde eine evolutionäre Beschreibung vorziehen. Wenn man das Evolutionsdenken auf die Wissenschaftsentwicklung anwendet, wird die Darwinsche Unterscheidung von Variation und Selektion wichtig. Wissenschaftler behaupten, dass sie auf etwas Neues gestoßen sind, das einen Unterschied macht zu dem, was bisher geglaubt und beobachtet worden ist.
Und dann gelingt es – das ist die Selektionsseite des wissenschaftlichen Kommunikationsprozesses –, für diese behaupteten Neuheiten Überzeugungskraft zu mobilisieren und sie durchzusetzen oder auch nicht. Interessant ist es, ähnlich wie in der Evolutionsbiologie, Selektionsumwelten zu studieren, in denen sich wissenschaftliche Variationen entweder behaupten oder wieder eliminiert werden. Dann braucht man den Fortschrittsbegriff nicht mehr.

Spektrum: Herr Ehlers, gibt es Fortschritt in der Wissenschaft?

Ehlers: Nehmen wir ein Stück Metall. Seine Eigenschaften hat man im Laufe der Geschichte immer genauer verstanden. Zunächst beschrieb man es wohl nur ganz grob – mit den Mitteln der Geometrie – als ein Ding, das eine bestimmte Form hat. Dann fand man, es hat ein bestimmtes Gewicht, da kam ein neuer Begriff wie Masse hinzu.
Dann lernte man, die Verformung zu beschreiben, und sagte, es hat auch elastische Eigenschaften. Dann entdeckte man optische, elektrische Aspekte. Zunächst hat man das grob so dargestellt, wie es unseren Sinnen zugänglich ist oder mit einfachen Geräten erforscht werden kann. Später bildete man sich Vorstellungen über die atomare Feinstruktur und kam auf neuartige Experimente – zum Beispiel, wie verhalten sich die spezifische Wärme und die Leitfähigkeit bei sehr niedrigen Temperaturen.
Bei diesem Vorgang erfahren wir etwas über ein und dasselbe wirkliche Gebilde, nämlich über einen Metallklotz. Mir leuchtet nicht ein, dass es einem verboten sein soll, zu sagen: Da lernen wir über ein wirkliches Ding im Laufe der Zeit immer mehr!

Spektrum: Herr Stichweh, es kommt doch bei einer Theorie darauf an, dass sie stimmt. Das ist ihre Art von Fitness.

Stichweh: In den 150 Jahren seit Darwin tritt in den Evolutionstheorien immer stärker an die Stelle der Selektion eines Organismus durch die Umwelt ein anderer Aspekt: interne Selektionsmechanismen, die gewissermaßen als interne Repräsentanten der Umwelt lange greifen, bevor die Konfrontation mit der Umwelt geschieht.
Und so ähnlich stelle ich mir auch Wissenschaft vor: als etwas, das immer stärker interne Auswahlmechanismen an die Stelle der Direktbewährung in der Umwelt – die ja sowieso unerreichbar ist – setzt. Und diese internen Mechanismen sind eben alle diese Erfindungen, welche die Naturwissenschaft in ihrer Geschichte macht.

Ehlers: Würden Sie sagen, diese Eigenschaften hat ein Eisenklotz erst, weil Menschen sich diese Begriffe überlegt haben? Oder würden Sie es nicht doch sinnvoll finden, zu sagen: Das Eisen hatte immer diese Eigenschaften, nur wir Menschen haben im Laufe der Zeit immer mehr darüber erfahren? Im normalen Leben sagen wir auch nicht: "Es kommt mir so vor, als stünde da ein Stuhl", sondern: "Da steht ein Stuhl".

Stichweh: Unbestritten. Doch wenn man Wissenschaftler von außen beobachtet, dann fällt einem sofort auf, dass zu allem, was ein Wissenschaftler sagt, ein anderer etwas Anderes sagen kann. Solange etwas Wissenschaft ist, ist es auch umstritten.

Ehlers: Es gibt Bereiche wie die Mechanik oder die Quantenmechanik der Atome und Moleküle, daran ändert sich nichts mehr. Für einen gewissen Größen- und Energiebereich ist die Quantenmechanik ein für alle Mal richtig – ähnlich die Newtonsche Mechanik für Sterne und Planeten. Das sind sozusagen die Fertigprodukte, die aus der Wissenschaft herauskommen: zuverlässige Einsichten, die man sich nicht nur ausdenkt. Wie wäre die Landung auf dem Mond gelungen, wenn die Newtonschen Gesetze nicht etwas Wirkliches über die Natur enthielten?

Spektrum: Stichwort Objektivität. Wenn Wissenschaftler eine Theorie als abgeschlossen betrachten, dann sagen sie: Sie ist objektiv, unabhängig von ihren Herstellern oder Erfindern. Ist dieser Objektivitätsbegriff nur ein Konstrukt einer innerwissenschaftlichen Diskussion? Ist er nur eine ethische Norm?

Stichweh: Objektivität ist ein professioneller Standard in bestimmten Communities. Gemeint ist primär, dass etwa in der biomedizinischen Forschung nicht die Betroffenheit durch Erfahrungen am eigenen Körper dominieren soll, sondern ein distanziertes, eben "objektives" Herangehen. Gibt es wirklich Dinge, wie Herr Ehlers meint, von denen wir wissen, dass sie immer wahr sein werden? Woher wissen Sie das?
Vielleicht gibt es morgen eine Theorie, die das, was wir heute für gesichertes Wissen über den Metallkörper halten, in ein ganz anderes Licht rückt, vielleicht sogar widerlegt. Manche Wissensbestandteile können über Jahrhunderte stabil sein, und dann passiert auf einmal doch etwas, was sie erschüttert.

Spektrum: Also gibt es keine "ewigen Wahrheiten"?

Ehlers: Keine ewigen Wahrheiten, wenn man damit Aussagen meint, die in keiner Weise mehr verbesserbar sind. Aber am sachlichen Gehalt von Newtons Gravitationsgesetz oder Galileis Fallgesetz hat sich innerhalb gewisser Genauigkeitsgrenzen nie etwas geändert.

Spektrum: Würden Sie, Herr Stichweh, trotzdem sagen, es sei nur Spekulation, dass das Fallgesetz für alle Zeit gelten wird?

Stichweh: Ich finde es psychologisch plausibel, dass Wissenschaftler annehmen, etwas, das relativ lange unbestritten blieb, werde auch künftig so bleiben. Aber da gerade Überraschungen Wissenschaft interessant machen, wäre ich da nicht so sicher.
Denken Sie an den bis heute unverarbeiteten Schock, den Darwin in der Jahrhunderte und Jahrtausende alten Tradition des Nachdenkens über Natur, Biologie, Organismen und deren Geschichte ausgelöst hat. Ist nicht der physikalische Mechanismus der Gravitation noch immer ungeklärt? Ob es da nicht Überraschungen geben könnte?

Ehlers: Dass man die Allgemeine Relativitätstheorie später in einer verbesserten Theorie nur als Näherung betrachten wird, davon bin ich fest überzeugt. Aber eine neue Theorie wird doch nur akzeptiert, wenn sie die empirischen Erfolge der alten reproduziert. Eine neue Theorie setzt sich nicht nur deshalb durch, weil die Vertreter der alten aussterben.
In dem Zwischenstadium, wo man noch herumprobiert und noch nicht weiß, wie man die Theorie verbessern soll, spielen natürlich persönliche Überzeugungen und Wünsche eine erhebliche Rolle. Aber die Entscheidung fällt auf Grund von Argumenten, denen schließlich beide zustimmen: die Vertreter der älteren und die der jüngeren Generation.

Stichweh: Ob das immer so ist? Ich kenne keinen einzigen Gegner Darwins, der je überzeugt worden wäre. Die sind tatsächlich ausgestorben, irgendwann im Laufe des 19. Jahrhunderts.

Spektrum: Herr Stichweh, was ist für Sie Wahrheit in der Naturwissenschaft?

Stichweh: Das ist eine normative Leitvorstellung – ein Ziel, das die Wissenschaft in ihren Kommunikationsprozessen anstrebt. Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen heißt, dass man im Prinzip jeden zur Zustimmung zwingen könnte, wenn man nur lange genug mit ihm darüber argumentieren würde. Aber diese Leitvorstellung unterliegt enormem Wandel. Im 19. Jahrhundert beginnen die Wissenschaftler zu sagen: Mit absoluter Wahrheit wollen wir nichts zu tun haben; das würde uns in Konkurrenz zur Religion bringen; wir haben es allenfalls mit relativen Wahrheiten zu tun, mit vorläufigen Urteilen.
Im 20. Jahrhundert konstatieren die Wissenschaftssoziologen, dass unter praktizierenden Naturwissenschaftlern Attribute wie "Wahrheit" eigentlich nicht mehr vorkommen, sondern dass sie eher eine ironische, zynische, manipulative Sprache bevorzugen, etwa: "Okay, ich werde das schon irgendwie so hindrehen, dass es stimmt". Ich würde nicht so weit gehen wie manche Soziologen, die meinen, damit sei Wahrheit aus der Wissenschaft ganz verschwunden. Wahrheit bleibt eine Letztbeschreibung für das, was man in der Wissenschaft anstrebt, hat aber in ihrer Alltagswirklichkeit vom 18. Jahrhundert bis heute zunehmend an Bedeutung verloren.

Spektrum: Produziert Naturwissenschaft relative Wahrheiten, die dem historischen Wandel unterliegen, oder haben diese einen Absolutheitscharakter, der sie von anderen kulturellen Aktivitäten unterscheidet?

Ehlers: Naturwissenschaftliche Sätze haben nicht den Charakter absoluter Wahrheiten. Physiker arbeiten approximative Richtigkeiten heraus; allerdings ist diese Approximation manchmal so zuverlässig, dass man meint, damit habe man etwas Wichtiges erkannt – ob man dies nun "wahr" nennen will oder "brauchbar", ist mehr eine Frage der Terminologie. Doch gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit ist es wichtig, zu betonen, dass dieser Grad an Zuverlässigkeit jedenfalls sehr viel personenunabhängiger ist als in irgendeinem anderen Bereich menschlicher Tätigkeit.

Spektrum: Zuverlässigkeit, Brauchbarkeit, Nützlichkeit – sind das Kategorien, auf die wir uns einigen könnten?

Stichweh: Das mit der Zuverlässigkeit ist so eine Sache. Moderne Wissenschaft am Ende des 20. Jahrhunderts hat ein sehr klares Bewusstsein von der Ungewissheit, dem approximativen Charakter allen Wissens. Allerdings: Wenn Sie beispielsweise Klimamodelle machen, wo Ihnen massive gesellschaftliche Erwartungen gegenüberstehen – Sie sollen Empfehlungen aussprechen, der Politik Handlungsimperative auferlegen –, dann teilen Sie die Ungewissheit nach außen nicht mit, sondern versuchen, relativ eindeutige Botschaften zu liefern.
Nach innen würde ich die Wissenschaft nicht durch Zuverlässigkeit beschreiben, sondern als ein Unterfangen, das ein immer klarer artikuliertes Bewusstsein von der Vorläufigkeit der möglichen Aussagen hat.

Spektrum: Würden Sie der Wissenschaft unter den gesellschaftlichen Aktivitäten überhaupt einen Sonderstatus einräumen?

Stichweh: Wenn ich Wissenschaft von außen betrachte und mit Kunst oder Religion vergleiche, dann unterscheidet sie sich dadurch, dass sie für ihre Aussagen Wahrheit beansprucht – das heißt, ihren Aussagen soll im Prinzip jeder zustimmen können. Aber das ist eine Fremdbeschreibung, und dieser Wahrheitsbegriff ist relativ abstrakt.
Auf der internen Ebene der Selbstbeschreibung tritt "Wahrheit" vielfach zurück – so wie Künstler heute nicht mehr sagen, dass ihre Bilder "schön" sind. Wir beobachten in vielen gesellschaftlichen Bereichen diese Distanz gegenüber letzten Idealen.

Spektrum: Ringt der Wissenschaftler intern ironisch-zynisch mit seiner Unsicherheit, vermittelt aber nach außen mehr Sicherheit, als er intern selbst vertreten würde?

Ehlers: Natürlich stellen Wissenschaftler nach außen eher die Dinge heraus, von denen sie meinen, die seien verstanden – denn wenn sie das Andere herausstellten, dann würde ihnen die Öffentlichkeit nicht die nötigen Mittel gewähren; das ist ein praktischer Gesichtspunkt.
Dennoch kommen in der Wissenschaft Produkte zu Stande – Heisenberg hat das "abgeschlossene Theorien" genannt –, die in einem gewissen Bereich zuverlässig sind und die man nicht mehr zu ändern braucht. Überraschungen sind nie ausgeschlossen, aber der relative Grad an Sicherheit ist in den Naturwissenschaften größer als anderswo.

Spektrum: Herr Stichweh, also eine relative Sicherheit, die vor Überraschungen nie gefeit ist?

Stichweh: Die Überraschungen kommen aus der Wissenschaft selbst: Wir wissen nicht, mit welchen Einsichten uns Wissenschaft morgen konfrontieren wird und welche lange für wahr gehaltenen Einsichten uns danach nicht mehr überzeugen werden.
Niklas Luhmann hat gesagt, Wahrheiten seien Erschöpfungszustände der Wissenschaft. So gesehen sind abgeschlossene Theorien oder fertige Wahrheiten gar nicht das, was die Wissenschaft interessiert. Wissenschaft ist auch Kritik: Jeder, der sie betreibt, muss immer damit rechnen, dass jedes noch so wasserdicht gemachte Argument auf Einwände und Kritik stoßen wird – und gerade darin erweist es sich als wissenschaftlich. Wenn wir über das reden, woran zur Zeit niemand zweifelt, reden wir eigentlich über Dinge, für die sich die Wissenschaft nicht interessiert, weil sie sie nicht in Frage stellen kann.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2001, Seite 70
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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