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Der Mathematische Monatskalender: Liu Hui (220–280): Der Unbekannte

Über Liu Hui weiß man lediglich, dass er einen Kommentar zu einem der wichtigsten Bücher der chinesischen Mathematik verfasste.
Chinesische Mauer

Über den chinesischen Mathematiker Liu Hui ist nur bekannt, dass er im Jahr 263 einen Kommentar zu einem der wichtigsten Bücher der chinesischen Mathematik verfasste, den »Neun Kapitel mathematischer Kunst«(Jiuzhang suanshu – The Nine Chapters on the Mathematical Art). Das Buch war eine systematisch geordnete Aufgabensammlung, die – zusammengetragen seit dem 2. Jahrhundert vor Christus – insgesamt 246 Aufgaben mit Lösungsanweisungen umfasste. 400 Jahre später wurde es zum verbindlichen Lehrwerk für die Ausbildung aller staatlichen Beamten und Ingenieure, weil man der Meinung war, dass die behandelten Aufgabenstellungen in deren Verwaltungstätigkeit auftreten könnten.

Die einzelnen Kapitel beschäftigen sich mit den folgenden Themen: 1. Ausmessen von Feldern (Berechnen der Flächeninhalte von Rechtecken, Dreiecken, Trapezen, Kreisen, Kreissegmenten und Kreisringen), 2. Regeln zum Tausch von Feldfrüchten, 3. Proportionale Aufteilungen, 4. Kleinere und größere Breiten, 5. Bewertung von Arbeitsleistungen, 6. Gerechte Aufteilungen, 7. Überschuss und Fehlbetrag, 8. Rechnen in Tabellen, 9. Das rechtwinklige Dreieck.

Liu Hui ergänzte die Aufgabensammlung durch ausführliche Hinweise zum Lösungsweg. Im Unterschied zum Vorgehen der griechischen Mathematiker wurden jedoch die zur Lösung verwendeten (als Rechenanweisung formulierten) Regeln ohne Beweis angegeben. Offensichtlich war es für Liu Hui vor allem wichtig, die Methoden durch eine geeignete Auswahl von Beispielen zu begründen. Da für die Lösungen der Aufgaben zunehmend anspruchsvollere Rechentechniken benötigt werden, führen die »Neun Kapitel«auch systematisch in verschiedene arithmetische Methoden ein. Liu Hui ergänzte die bestehende Aufgabensammlung noch um neun Vermessungsprobleme und deren Lösungen (»Mathematische Inselsammlung«).

Im ersten Kapitel werden die Berechnungen von Flächeninhalten behandelt. Den damaligen chinesischen Mathematikern ist die exakte Formel für den Flächeninhalt eines Kreises \(A=\frac{1}{4} \cdot u \cdot d\)bekannt (halber Durchmesser mal halber Umfang). In der Aufgabensammlung wird jedoch auch die Näherungsformel \(A=\frac{3}{4} \cdot d^2\) also\(\pi = 3\) angegeben. Der Mathematiker, Astronom und Philosoph Zhang Heng (78–139) vermutete, dass der Faktor gleich \(\sqrt{10}\approx 3,162...\)ist. Liu Hui bestimmte den Flächeninhalt eines regelmäßigen 3072-Ecks und korrigierte in seinem Kommentar den Faktor auf 3,14159 (das Verfahren ist auf der Briefmarke von Mikronesien dargestellt).

Das zweite Kapitel enthält eine Tabelle, die den Tauschwert von 50 Einheiten Hirse angibt. Mithilfe des Dreisatzes wird dann berechnet, welche Mengen einer Sorte Getreide, Bohnen, Samen usw. in welche Mengen einer weiteren Sorte von Feldfrüchten getauscht werden können.

Im dritten Kapitel werden Aufgaben bearbeitet, bei denen es beispielsweise darum geht, Arbeitsaufteilungen und Abgaben an den Staat gerecht vorzunehmen: Der Nordbezirk hat 8758 Suan (Steuereinheit), der Westbezirk 7236 Suan, der Südbezirk 8356 Suan. Die drei Bezirke sollen zusammen 378 Mann für eine Schanzarbeit abstellen und zwar entsprechend der Anzahl der Steuereinheiten.

Das vierte Kapitel enthält das Berechnen von Längen bei Quadraten, Würfeln und Kugeln, von denen Flächeninhalt bzw. Volumen vorgegeben ist; dies führt zu Quadrat- und Kubikwurzeln. Diese Wurzeln werden durch ein Rechenschema bestimmt, das sich aus den Binomischen Formeln ergibt. Die Berechnung erfolgt auf einem Rechenbrett, Zahlen werden hierbei durch Stäbchen dargestellt: Sucht man beispielsweise die Quadratwurzel aus 321489, dann muss man ein Tripel \((x;y;z)\) bestimmen mit: \((100x+10y+z)^2\) \(= 10000x^2+100y^2+z^2\) \(+2000xy+200xz+20yz \) \(=1000x^2+\lbrack 200x+10y\rbrack \cdot10y +\lbrack200x+20y+z\rbrack \cdot z\) \( = 321489\) Für \(x\) kommt offensichtlich nur der Wert 5 infrage, so dass der zweite und dritte Summand gleich dem Rest, also gleich 71489 sein muss. Gesucht ist jetzt eine Zahl\(y\), so dass \( [1000+10_y] \cdot 10 y < 71489\); diese Bedingung erfüllt die Zahl 6. Für den dritten Summand bleibt ein Rest von 7889; dieser muss gleich \([1000+120+z] \cdot z\) sein; das heißt \( z = 7\). Die gesuchte Quadratwurzel ist demnach 567.

Es sind auch Aufgaben von folgendem Typ zu lösen: »Angenommen ein rechteckiges Feld hat eine Breite von 1 + 1/2 + 1/3 + ... + 1/n (n = 3, 4, .., 12). Welche Länge muss es haben, damit sich der Flächeninhalt 1 ergibt?«

Liu Hui erkennt übrigens, dass die von seinen Vorgängern benutzte angegebene Formel zur Berechnung des Kugelvolumens falsch ist, findet jedoch selbst auch nicht den richtigen Term – seine Anmerkung: »Das Problem möge von jemand gelöst werden, der die Wahrheit kennt.«ist von bemerkenswerter Offenheit.

Im fünften Kapitel geht es um den Bau von Kanälen und Deichen, also um die Volumina von Prismen, Pyramiden, Kegel, Zylinder sowie Pyramiden- und Kegelstümpfen. Liu Hui zerlegt bei der Herleitung der Formel für den Pyramidenstumpf den betrachteten Körper in immer kleinere Teilkörper und nimmt somit einen Grenzprozess vor; bei der Herleitung der Volumenformel für den Zylinder wendet er bereits die gleiche Idee an wie 1400 Jahre später Bonaventura Cavalieri (1598-1647).

Das sechste Kapitel enthält Problemstellungen, wie sie auch heute noch in Mathematik-Schulbüchern zu finden sind: »Ein schneller Läufer läuft 100 Schritte in derselben Zeit, in der ein langsamer Läufer 60 Schritte macht. Der langsame Läufer erhält 100 Schritte Vorsprung. Nach wie vielen Schritten holt der schnelle Läufer den langsamen ein?«

Oder: »Eine Zisterne wird durch 5 Zuflüsse gefüllt. Öffnet man nur den ersten Zufluss, dann ist die Zisterne in 1/3 Tag gefüllt; mit dem zweiten Zufluss benötigt man 1 Tag, mit dem dritten 2,5 Tage, mit dem vierten 3 Tage, mit dem fünften 5 Tage. Wie lange dauert es, wenn man alle Zuflüsse öffnet?«

Im siebten Kapitel wird die Methode so des genannten doppelt falschen Ansatzes eingeführt: »An einer 9 Fuß hohen Wand wächst ein Melonentrieb nach oben, täglich um 7 Zoll; ein Kürbistrieb wächst an der Wand nach unten, täglich um 1 Fuß (=10 Zoll). Nach wie vielen Tagen treffen sie zusammen? Wie lang sind die Triebe?« Setzt man die Zahlen 6 beziehungsweise 5 ein, dann liegt im Vergleich zur Wandhöhe von 90 Zoll ein »Überschuss«von 12 Zoll beziehungsweise ein »Fehlbetrag«von 5 Zoll beim Wachstum vor. Am Rechenbrett lässt sich die Lösung \((6\cdot 5 +5 \cdot 12)/(5+12)\)\(= 90/17=5\frac{5}{17}\) Tage ablesen.

Das achte Kapitel beschäftigt sich mit Problemen, die durch ein lineares Gleichungssystem darstellbar sind. Die Lösung von Liu Hui erfolgt nach einem Algorithmus, der – 1600 Jahre später – in der westlichen Mathematik als Gausssches Eliminationsverfahren bezeichnet wird (nach Carl Friedrich Gauss).

Im neunten Kapitel werden Aufgaben gestellt, die mithilfe des Satzes gelöst werden können, der bei uns unter der Bezeichnung Satz des Pythagoras bekannt ist: »Bei einer Stadt mit quadratischem Grundriss steht in einer Entfernung von 20 bu vom Nordtor ein Baum. Geht man vom südlichen Stadttor 14 bu nach Süden und dann um 1775 bu nach Westen, dann sieht man den Baum hinter der nordwestlichen Ecke der Stadtmauer.« Das Problem führt auf eine quadratische Gleichung, deren Lösung die Länge der Stadtmauer angibt.

Schließlich erläutert Liu Hui verschiedene Methoden, wie unzugängliche Objekte vermessen werden können, zum Beispiel die Höhe eines Berges, die Breite eines Flusses usw. Dabei benutzte man oft zwei senkrecht stehende Messlatten, die in einem festen Abstand aufgestellt wurden.

August 2006

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