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Kolumnen: Korbinian Brodmann oder: die Magie der Zahl und die Macht des Symbols

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Anatomen sind gemeinhin sprachverliebt. Statt eines Wortes machen sie gerne zwei, und je blumiger ein Name, desto besser. »Amygdala« – der Mandelblütenkern, »Pes major et minor hippocampi« – die großen und die kleinen Füße des Seepferdes, »Calcar avis« – der Hahnensporn – die Neuroanatomie wimmelt von Wunderworten, aber auch von manchem Widersinn (»Gyrus rectus« – die »gerade Windung«). Zahlen sind üblicherweise der Anatomen Sache nicht. Selbst da, wo es sich anbieten würde, einfach nur durchzunummerieren, bei den Rippen oder den Wirbeln zum Beispiel, wird viel kreative Sprachenergie darauf verwendet, doch noch einen schönen oder wenigstens abstrusen Namen für die Sache zu finden.

Die Rippenpaare Nummer 8–10 zum Beispiel werden als »Costae spuriae« bezeichnet. »Spurius« heißt: »uneheliches Kind« … Umso mehr fällt es auf, wenn einer aus der Zunft der Magie der Zahl erliegt. Die Rede ist von Korbinian Brodmann (1868–1918, siehe Bild), dem Kartografen des Cortex.

Die Brodmanns | Korbinian und Margarethe Brodmann
In jahrelanger, mühevoller Arbeit beschaute er sich im Mikroskop alle, wirklich alle Ecken und Enden der Großhirnrinde, suchte nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in der Anordnung und Form der Nervenzellen. Das, was Brodmann tat, nennt man »Zell-« oder »Zytoarchitektonik«. Endlich publizierte er eine komplette Karte (Bild unten) des Cortex, in der die Areale, die er voneinander unterscheiden konnte, auf das Muster der Windungen und Furchen des Cortex projiziert sind.

Brodmann-Karte | Die berühmten Karten Brodmanns: Oben ist das Großhirn in Seitenansicht dargestellt, links ist vorne. Unten blickt man auf die Innenseite der rechten Hälfte eines mittig gespaltenen Großhirns. Die große schwarze Struktur im Zentrum ist der Balken. Der kleine, rote Punkt, den ich in der oberen Abbildung hinzugefügt habe, markiert die »Seitenfurche« des Großhirns. Unter ihr verborgen liegt die »Insula«, deren Cortex und Umgebung in der kleinen Abbildung dargestellt ist.

Brodmann, Korbinian (1909): Vergleichende Lokalisationslehre der Grosshirnrinde in ihren Principien dargestellt auf Grund des Zellenbaues. Leipzig, Johann Ambrosius Barth-Verlag.
Alle Finger würde sich ein normaler Anatom lecken, wenn er so viel Neues entdeckt hätte. Sofort würde er anfangen, jedem Areal einen wunderhübschen Namen zu geben. Also etwa so: »Area gigantoganglionaris internocrassior« – »das Gebiet mit den Riesenzellhaufen, die in den tiefen Schichten noch fetter sind«(Fußnote 1). Brodmann war viel prosaischer: Er nannte die Gegend: »Area 4«. Das Zahlensystem, das er verwendete, war ganz einfach: Er nummerierte die Areale in der Reihenfolge durch, in der er sie entdeckt hatte. Sagt man. Trotzdem – ein Rest von Magie, ein paar Verwunderlichkeiten verstecken sich auch in dieser scheinbar knochentrockenen Arithmetik der natürlichen Zahlen. Schau’n wir mal.

»Triskaidekaphobie« ist der griechische Name für die Furcht vor der Unglückszahl 13, dem »Teufelsdutzend«. Und Sie können in Brodmanns Karten lange suchen: es gibt eine Area 12 (gleich oberhalb des widersinnigen »Gyrus rectus« übrigens), es gibt eine Area 17 (berühmt, die Sehrinde im Hinterhauptslappen), aber es gibt keine Area 13. Auch keine 14, 15, oder 16. Da hat der Mensch aber Glück gehabt, denn bei Meerkatzen, die er ebenfalls untersuchte, beschrieb Brodmann auch die Areae 13–16. Sie liegen, gut versteckt, im so genannten insulären Cortex, in der Tiefe der seitlichen Furche, die ich in der Abbildung 2 mit einem roten Punkt markiert habe. Aber wie gesagt: nur bei Affen, nicht beim Menschen. Dort beließ es Brodmann bei dem alten Namen: »Insula«. Sie ist in dem kleineren Bildchen zu sehen und mit »J. ant.« und »J. post.« beschriftet, zu Deutsch: vorderer und hinterer Teil der Insel.

Es gibt eine Area 52, auch sie liegt in der Nähe der »Insula«. Aber es gibt keine Area 51. »Area fiftyone« ist der Name der geheimen Luftwaffenbasis in Nevada, deren Existenz die amerikanische Regierung leugnet. Die Verschwörungstheoretiker meinen, dass dort geheime Experimente mit Außerirdischen durchgeführt werden (2). Wie kommt es, dass auch Brodmann dieses Areal verschweigt? War er einer von IHNEN?

Die Areae 48, 49 und 50 gibt es auch nicht. Wenn man jetzt die Werte aller von Brodmann ausgelassenen Zahlen addiert (13+14+15+16+48+49+50+51), ergibt sich: 256. Aber die Quersumme von 256 ist: die teuflische 13. Satanisch, satanisch.

Aber es geht weiter! Wenn man die Summe aller von Brodmann beim Menschen identifizierten Areale bildet, erhält man: 1129 (die Area 7 muss man zweimal addieren, denn sie besteht, wie Sie in der Abbildung sehen, aus zwei Abschnitten a und b). Und die Quersumme von 1129 ist – 13! Und wenn man die Quersummen aller ausgelassenen Areale summiert, erhalt man 58. Die Quersumme von 58 ist – 13!

Gerne, liebend gerne würde ich dem Herrn Brodmann jetzt noch die »666« unterjubeln, die Zahl des Tieres, des Antichristen, die diabolische Hausnummer schlechthin (3). Aber ich krieg' es nicht fertig: Ich hatte in Mathematik immer einen Beton-Vierer und weiß schon, warum ich mich einer sprachverliebten und wenig mathematischen Naturwissenschaft wie der Anatomie zugewandt habe.

Aber Ziffern sind ja eigentlich auch fade. Im Dezimalsystem gibt ihrer zehn, und genau ab der Zehn wiederholen sie sich beim Zählen in endloser, dröger Prozession. Das muss auch dem Herrn Brodmann langweilig geworden sein. Seh’n Sie sich seine Karten doch (in der Vergrößerung) noch mal genau an. All die winzigen Symbole und Schraffuren darin, die die Lage der 44 von ihm beschriebenen Areale markieren – sie wiederholen sich kein einziges Mal. Jedes Areal hat sein eigenes Symbol, darunter viele drollige Varianten: die Area 29 hängt voller Brüste, in der Area 39 gibt’s Propeller, in Area 36 kleine Raketen und aus der Area 40 guckt uns das Auge Gottes aus dem Dreieck an, wie man es von den amerikanischen Dollar-Scheinen kennt. All das vor den Zeiten von PowerPoint und Photoshop, mühsam mit Tinte und Feder von Hand gezeichnet.

In den allermeisten Fällen hatte Brodmann noch keine Ahnung, wozu die einzelnen Areale da sind. Erst die moderne Bildgebung hat – mit Glanz und Gloria – die Richtigkeit vieler seiner Grenzziehungen bestätigt: Meist entsprechen seine Areale mehr oder weniger genau bestimmten funktionell abgrenzbaren Hirngebieten. Er war ein (anatomischer) Prophet der Lokalisationslehre: Bestimmte Cortexregionen erledigen bestimmte Aufgaben.

Machen Sie sich mal den Spaß, suchen Sie Area 46 (in der Seitenansicht, Stirnlappen des Gehirns, oben im Bild). Da hat Brodmann durchkreuzte Kreise eingemalt, und wenn Sie im Physikunterricht besser aufgepasst haben als ich, dann wissen Sie, dass das in der Elektrotechnik das Symbol für eine Glühbirne ist (4). Brodmanns Area 46 deckt sich weit gehend mit dem, was man heute den »dorsolateralen präfrontalen Cortex« nennt. Und der ist wirklich besonders aktiv, wenn man intensiv nachdenkt und wenn einem dabei, wie man hofft, ein Licht aufgeht.

In der Area 24 (in der Ansicht des mittig gespaltenen Gehirns, oberhalb des schwarzen Balkens) hat Brodmann Kreuze aufgestellt, es sieht aus wie auf einem Soldatenfriedhof. Der Cortex in dieser Gegend hat etwas mit dem »Wollen« zu tun: Wird er geschädigt, tritt tatsächlich Friedhofsruhe ein. Die Neurologen nennen das »Abulie«, die vollständige Antriebs- und Willenlosigkeit. Und umgekehrt: Wenn einer zu viel will und dabei über Leichen geht, dann füllen sich die Soldatenfriedhöfe auch mit Kreuzen.

All das hat Brodmann nicht gewusst. Die Geschichten mit der 13 hab’ ich ihm untergeschoben, und die Symbolik der Glühbirnen und Kreuze ist der Assoziation und dem Zufall geschuldet. Brodmann aber sollten wir dennoch tüchtig bewundern. Als Kartografen eines Kontinents, einer »Terra incognita«, eines Landes, das er vermaß, ohne zu wissen, was er kartierte: die Landschaften der Seele.


Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.


Fußnoten:
(1) Das hab’ ich nicht frei erfunden. Die Bezeichnung gibt es: Heiko Braak, Architectonics of the human telencephalic cortex, Spinger-Verlag, Heidelberg, 1980, Seite 21.

(2) »Independence Day«, 1996, Regie: Roland Emmerich

(3) Offenbarung des Johannes, 13,18

(4) DIN EN 60617

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