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Teilchenphysik vor dem Umbruch

Theoretische Untersuchungen und experimentelle Hinweise lassen erwarten, dass das Standardmodell der Elementarteilchen jenseits der Leistungsfähigkeit bisheriger Beschleuniger in Schwierigkeiten kommt. Was immer also der nun in Betrieb genommene Large Hadron Collider findet – es wird die Physik in Neuland führen.

Diesen Artikel finden Sie - bebildert mit zahlreichen Grafiken - auch in der Novemberausgabe von Spektrum der Wissenschaft, die ab dem 27. Oktober 2008 im Fachbuchhandel oder in Bahnhofsbuchhandlungen ausliegt.
Sollen Physiker mit einem Wort begründen, warum der Large Hadron Collider gebaut wurde, sagen sie höchstwahrscheinlich: Higgs. Das Higgs-Teilchen ist der letzte unentdeckte Bestandteil unserer gegenwärtigen Theorie der Materie, die Attraktion auf dem Jahrmarkt der Teilchenphysik. Doch der neue Beschleuniger, der den größten Sprung aller Zeiten im Leistungsvermögen eines solchen Instruments verkörpert, verspricht noch weitaus mehr. Was genau er uns bescheren wird, wissen wir zwar nicht. Aber mit Sicherheit sind Entdeckungen und neue Rätsel dabei, welche die Teilchenphysik umkrempeln und auch in den Nachbardisziplinen erhebliche Wellen schlagen werden.

In der neuen Welt, die wir damit betreten, werden wir vermutlich erfahren, was die Trennung zwischen zwei der vier fundamentalen Naturkräfte – elektromagnetische und schwache Wechselwirkung – verursacht. Daraus ergeben sich auch neue Antworten auf einfache, grundlegende Fragen wie: Warum gibt es Atome? Warum Chemie? Wieso existiert überhaupt stabile Materie?

Der Nachweis des Higgs-Teilchens ist dabei ein entscheidender Schritt – aber nur der erste. Jenseits davon liegen Phänomene, die uns vielleicht eine Erklärung dafür liefern, warum die Gravitation so viel schwächer ist als die anderen Naturkräfte und woraus die geheimnisvolle Dunkle Materie besteht, die das Universum erfüllt. Noch tiefer geht die Hoffnung, Einsichten in das Wesen der unterschiedlichen Arten von Materie, in das verbindende Element zwischen äußerlich grundverschiedenen Teilchenkategorien und in die Natur der Raumzeit zu erlangen. All die sich stellenden Fragen scheinen sowohl untereinander, als auch mit der Theorie, die einst zur Vorhersage des Higgs-Teilchens führte, verknüpft zu sein. Der LHC wird uns helfen, diese Fragen zu verfeinern, und den Weg zu den Antworten aufzeigen.

Was die Physiker als "Standardmodell" der Teilchenphysik bezeichnen – um seinen vorläufigen Charakter anzudeuten –, liefert eine beeindruckende Deutung vieler Aspekte unserer Welt. Seine Hauptelemente kristallisierten sich in der aufregenden Zeit der 1970er und 1980er Jahre heraus, als eine Flut bahnbrechender experimenteller Befunde zu produktiven Diskussionen anregte, aus denen faszinierende neue Ideen erwuchsen. Vielen Teilchenphysikern erscheinen die vergangenen 15 Jahre nach dem kreativen Gären in den Jahrzehnten davor als Ära der Konsolidierung. Dabei gab es reichlich experimentelle Bestätigungen für das Standardmodell. Doch zugleich mehrten sich die Hinweise auf Phänomene jenseits seines Geltungsbereichs, und neue Theorien vermittelten eine Vorstellung davon, wie ein umfassenderes, vollständigeres Weltbild aussehen könnte.

Zusammengenommen lassen die Entwicklungen im experimentellen wie theoretischen Bereich erwarten, dass uns wieder ein ausgesprochen lebhaftes Jahrzehnt bevorsteht. Vielleicht werden wir erst im Rückblick erkennen, wie lange sich die Revolution schon angebahnt hat.

Diktat der Symmetrie

Nach heutiger Vorstellung besteht Materie hauptsächlich aus zwei Arten von Teilchen: Quarks und Leptonen. Sie werden von drei der vier fundamentalen Naturkräfte zusammengehalten, nämlich dem Elektromagnetismus sowie der starken und der schwachen Wechselwirkung. Die Gravitation bleibt zunächst außen vor. Die Quarks, aus denen Protonen und Neutronen bestehen, erzeugen und spüren alle drei genannten Kräfte. Leptonen mit dem Elektron als bekanntestem Vertreter sind dagegen immun gegen die starke Wechselwirkung. Im Unterschied zu den Quarks fehlt ihnen nämlich eine Eigenschaft analog zur elektrischen Ladung, die von den Physikern Farbe genannt wird. Das ist natürlich nur im bildhaft übertragenen Sinn gemeint; die Eigenschaft hat nichts mit gewöhnlicher Farbe zu tun.

Das Standardmodell verfolgt das Grundprinzip, dass seine Gleichungen symmetrisch sind. Wie bei einer Kugel, die von allen Seiten identisch aussieht, bleiben sie gleich, wenn man den Blickwinkel ändert, unter dem sie definiert werden. Das gilt selbst dann, wenn die Perspektive an unterschiedlichen Punkten der Raumzeit jeweils eine andere ist.

Die Forderung nach Symmetrie setzt der Form eines geometrischen Objekts enge Grenzen. Eine Kugel mit einer Beule sieht nicht mehr aus allen Richtungen gleich aus. Ganz ähnlich bringt auch die Forderung nach symmetrischen Gleichungen starke Einschränkungen und weit reichende Folgerungen mit sich. So erzwingt sie die Existenz von Kräften, die durch spezielle Teilchen – so genannte Bosonen – übertragen werden (Spektrum der Wissenschaft 8/1980, S. 92, und 6/1985, S. 11).

Das Standardmodell stellt also den bekannten architektonischen Lehrsatz, wonach "die Form der Funktion folgt", auf den Kopf. Hier verhält es sich genau umgekehrt: Die Form der Theorie, ausgedrückt in der Symmetrie ihrer Gleichungen, diktiert die von ihr beschriebene Funktion, also die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen. Die starke Kernkraft ergibt sich beispielsweise aus der Forderung, dass die Formeln zur Beschreibung von Quarks unabhängig von der Festlegung der Farbe dieser Teilchen sein müssen – selbst, wenn man an jedem Punkt der Raumzeit eine andere Farbzuordnung trifft. Als Überträger dieser Wechselwirkung werden acht Teilchen benötigt: die so genannten Gluonen.

Der Elektromagnetismus und die schwache Wechselwirkung – auch kollektiv "elektroschwache" Kräfte genannt – basieren in ähnlicher Weise auf einer Symmetrie, die allerdings etwas anders geartet ist. Die Übertragung übernimmt hier ein Quartett von Teilchen: das Photon, das Z-minus-, das W-plus- und das W-minus-Boson.

Bruch des Spiegels

Formuliert haben die Theorie der elektroschwachen Kräfte Sheldon Glashow, Steven Weinberg und Abdus Salam, die dafür 1979 den Physik-Nobelpreis erhielten. Die schwache Wechselwirkung spielt eine Rolle beim radioaktiven Betazerfall. Interessanterweise ist sie jedoch nicht für alle Quarks und Leptonen spürbar. Von diesen Teilchen existieren jeweils spiegelbildliche Varianten, die als links- und rechtshändig bezeichnet werden. Die schwache Wechselwirkung wirkt nur auf die linkshändigen Formen – eine bemerkenswerte Tatsache, für die es auch 50 Jahre nach ihrer Entdeckung immer noch keine Erklärung gibt. Die Familiensymmetrie unter den linkshändigen Teilchen hilft dabei, die elektroschwache Theorie zu definieren.

Diese hatte anfangs wesentliche Mängel. So sagte sie vier masselose Wechselwirkungsteilchen großer Reichweite voraus – so genannte Eichbosonen –, aber in der Natur gibt es nur eins, nämlich das Photon. Die anderen drei dürfen folglich, um sich nicht bemerkbar zu machen, nur eine sehr kurze Reichweite besitzen; sie kann höchstens ein Prozent des Protonenradius (10-17 Meter) betragen. Aus der heisenbergschen Unschärferelation folgt für ein Teilchen mit derart geringer Reichweite jedoch eine sehr hohe Masse von mehr als 100 Milliarden Elektronenvolt – im Widerspruch zur Vorhersage. Desgleichen haben Quarks und Leptonen eine Masse, die ihnen auf Grund der Familiensymmetrie eigentlich nicht zukommt.

Einen Ausweg aus diesen Ungereimtheiten bot die Erkenntnis, dass sich die Symmetrie der Naturgesetze nicht unbedingt in deren Auswirkungen widerspiegeln muss. Die Physiker sprechen von "Symmetriebrechung". Den dafür benötigten theoretischen Apparat hatten schon Mitte der 1960er Jahre die Physiker Peter Higgs, Robert Brout, François Englert und andere entwickelt. Die Anregung dazu kam von einem gänzlich anderen Phänomen: der Supraleitung. Bestimmte Materialien verlieren bei sehr niedrigen Temperaturen ihren elektrischen Widerstand. Obwohl die Gesetze des Elektromagnetismus symmetrisch sind, gilt das innerhalb eines Supraleiters für ihn selbst nicht mehr. Dort erhält das Photon nämlich eine Masse, wodurch das Eindringen von Magnetfeldern behindert wird.

Dieses Phänomen erwies sich als perfekte Vorlage für die elektroschwache Theorie. Wenn der Raum mit einer Art Supraleiter angefüllt wäre, der zwar die schwache, aber nicht die elektromagnetische Wechselwirkung beeinflusst, dann würden die W- und Z-Bosonen eine Masse erhalten, und die Reichweite der schwachen Wechselwirkung wäre beschränkt. Dieser "Supraleiter" besteht aus den Higgs-Bosonen. Durch die Wechselwirkung mit ihnen erhalten auch die Quarks und die Leptonen ihre Masse (Spektrum der Wissenschaft, 1/1987, S. 52). So erfüllen sie die Symmetrieforderungen der schwachen Wechselwirkung.

Die elektroschwache Theorie steht in sehr guter Übereinstimmung mit den Ergebnissen einer Vielzahl von Experimenten. Die Idee, dass Quarks und Leptonen über Eichbosonen wechselwirken, beinhaltet ein völlig neues Konzept der Materie. Außerdem weist sie einen Weg zur Vereinheitlichung von drei der vier Grundkräfte: Die starke, schwache und elektromagnetische Wechselwirkung sollte demnach bei sehr hohen Teilchenenergien zu einer einzigen Kraft verschmelzen.

Doch trotz ihrer faszinierenden Erfolge hat die elektroschwache Theorie einen fundamentalen Mangel: Sie ist unvollständig. So sagt sie zwar voraus, wie Quarks und Leptonen zu ihren Massen kommen, aber nicht, wie groß diese sind. Und auch für die Masse des alles entscheidenden Higgs-Bosons macht die Theorie keine Vorhersage. Viele der bedeutendsten Probleme in Teilchenphysik und Kosmologie kreisen um die Frage, wie es eigentlich zur Brechung der elektroschwachen Symmetrie kommt.

Wo das Standardmodell Farbe bekennen muss

Schon in den 1970er Jahren begannen Theoretiker die Grenzen des Standardmodells zu testen. Ende 1976 entwickelte Benjamin W. Lee am Fermi National Accelerator Laboratory bei Chicago (er starb nur ein halbes Jahr später bei einem Autounfall) zusammen mit Harry B. Thacker, heute an der University of Virginia in Charlotteville, sowie mit mir ein Gedankenexperiment zum Verhalten der elektroschwachen Kräfte bei sehr hohen Energien. Wir stellten uns Kollisionen zwischen Paaren von W-, Z- und Higgs-Bosonen vor. Das mag etwas verrückt klingen, war damals doch nicht eines dieser Teilchen experimentell nachgewiesen. In der Physik gilt jedoch der Grundsatz, jede neue Theorie auf ihre Folgerungen zu überprüfen – als würden ihre Elemente tatsächlich existieren.

Wir bemerkten ein subtiles Wechselspiel zwischen den von den drei Teilchen erzeugten Kräften. Bei sehr hohen Energien ergaben unsere Berechnungen nur dann Sinn, wenn die Masse des Higgs-Bosons nicht zu groß ist, das heißt weniger als eine Billion Elektronenvolt (Teraelektronenvolt oder kurz TeV) beträgt. In diesem Fall bleibt die schwache Wechselwirkung in allen Energiebereichen schwach und die Theorie damit zuverlässig. Ist das Higgs jedoch schwerer als 1 TeV, gewinnt die schwache Wechselwirkung nahe dieser Energieschwelle an Stärke, und es kommt zu allen möglichen Arten von exotischen Teilchenprozessen.

Angesichts der Tatsache, dass die elektroschwache Theorie keinerlei direkte Aussage über die Higgs-Masse macht, ist es aufregend, eine Bedingung wie diese aufzuspüren. So bedeutet sie unter anderem, dass auf jeden Fall etwas Neues zum Vorschein kommt, wenn der LHC, der 14 TeV erreichen soll, unser Gedankenexperiment in die Realität umsetzt: entweder das Higgs-Boson oder bisher unbekannte Phänomene.

Vielleicht haben Physiker bei ihren Experimenten ja schon versteckte Einflüsse von Higgs beobachtet. Das hängt wieder mit der heisenbergschen Unschärferelation zusammen: Ein solches Teilchen kann demnach für eine Zeitspanne existieren, die zwar zu kurz für eine direkte Beobachtung ist, aber lang genug, um subtile Spuren bei Kollisionsereignissen zu hinterlassen. Der große Elektron-Positron-Beschleuniger, der früher im nun vom LHC beanspruchten Tunnel des CERN untergebracht war, hat solche Hinweise auf das Wirken einer unsichtbaren Hand geliefert. Der Vergleich von genauen Messwerten mit der Theorie liefert sehr starke Indizien dafür, dass die Masse des Higgs-Bosons unter 192 Gigaelektronenvolt (GeV) liegt.

Das führt auf ein interessantes Rätsel. In der Quantentheorie sind Größen wie die Masse nicht von vornherein festgelegt, sondern werden durch Quanteneffekte modifiziert. So wie das Higgs verdeckt andere Teilchen beeinflussen kann, gilt auch das Umgekehrte. Es gibt jedoch Partikel unterschiedlichster Massen, und ihr Nettoeffekt auf das Higgs-Boson hängt davon ab, bei welcher Energie das Standardmodell einer tiefer gehenden Theorie weichen muss. Wenn es bis 1012 TeV gilt, wo sich starke und schwache Kraft zu vereinigen scheinen, dann wirken Teilchen mit wahrhaft gigantischen Massen auf das Higgs ein und sollten ihm eine relativ hohe Masse verleihen – deutlich über 1 TeV.

Dieser Widerspruch bei der Vorhersage der Higgs-Masse firmiert unter der Bezeichnung Hierarchie-Problem. Eine mögliche Lösung wäre eine prekäre Balance von Additionen und Subtraktionen großer Zahlen, die für die widerstreitenden Beiträge der unterschiedlichen Teilchen stehen. Doch die Physiker haben gelernt, misstrauisch gegenüber Theorien zu sein, bei denen sich in dieser Weise hohe Werte exakt aufheben, wenn keine tieferen Prinzipien dahinter stecken. Deshalb denke ich genau wie viele meiner Kollegen, dass wir mit dem LHC sowohl das Higgs-Boson als auch neue Phänomene finden werden.

Supertechnifragilisticexpialigetisch

Die Theoretiker haben viele Ansätze untersucht, mit denen es gelingen könnte, das Hierarchie-Problem zu lösen. Ein führender Kandidat ist die Supersymmetrie, die für jedes bekannte Teilchen einen bislang unbeobachteten Superpartner vorschlägt, der sich in seinem Spin von ihm unterscheidet (Spektrum der Wissenschaft 8/1986, S. 68). Wenn die Natur perfekt supersymmetrisch wäre, hätten die Teilchen und ihre Superpartner exakt gleiche Massen, und ihre Einflüsse auf das Higgs-Boson würden sich gegenseitig genau aufheben. In diesem Fall hätten die Physiker die Superpartner aber bereits finden müssen. Da dem nicht so ist, muss die Supersymmetrie, wenn es sie denn gibt, gebrochen sein, wobei die Superpartner der Teilchen massereicher wären als diese selbst. Der Nettoeinfluss von beiden auf das Higgs-Boson könnte trotzdem in einem akzeptablen Rahmen bleiben, sofern die Superpartner Massen unter 1 TeV hätten. Damit aber lägen sie in Reichweite des LHC.

Nach einem anderen Lösungsansatz ist das Higgs-Boson kein wirklich fundamentales Teilchen, sondern besteht aus bislang unbekannten Bausteinen, die durch eine neuartige Naturkraft zusammengehalten werden. Die Bezeichnung "Technicolor" für diesen Ansatz spielt auf eine Verallgemeinerung der Farbladungen an, die hinter der starken Wechselwirkung stecken. Wenn das Higgs-Boson kein fundamentales Teilchen ist, würden Zusammenstöße bei Energien um 1 TeV die Möglichkeit bieten, in es hineinzuschauen und seinen Aufbau zu erkennen. Denn diese Energie entspräche gerade der Stärke der Kraft, die das Higgs zusammenhält. Ebenso wie die Supersymmetrie impliziert also auch Technicolor, dass der LHC eine Fülle exotischer Teilchen produziert.

Eine dritte, kühne Idee ist, dass das Hierarchie-Problem bei näherer Betrachtung verschwindet, weil der Raum mehr als die drei gewohnten Dimensionen besitzt. Die zusätzlichen Dimensionen könnten Einfluss darauf nehmen, wie die Kräfte in ihrer Stärke mit der Energie variieren und wo sie miteinander verschmelzen. In diesem Fall würden sie sich nicht erst bei 1012 TeV vereinigen, sondern schon viel früher. Die Energie, bei der das geschähe – und damit eine neue Physik zum Vorschein käme –, hinge von der Größe der Extra-Dimensionen ab und läge vielleicht schon bei wenigen TeV. Dann würde uns der LHC Einblicke in diese zusätzlichen Dimensionen erlauben (Spektrum der Wissenschaft 10/2000, S. 44).

Es gibt noch einen weiteren Hinweis darauf, dass Phänomene einer neuen Physik schon auf der TeV-Skala auftreten. Die Dunkle Materie, die den Löwenanteil der gesamten Materie im Universum ausmacht, scheint aus einer neuen Art von Elementarteilchen zu bestehen (Spektrum der Wissenschaft 10/2003, S. 44). Wenn dieses Teilchen die Stärke der schwachen Kraft beeinflusst, dann wäre es beim Urknall genau in der Menge produziert worden, die für die festgestellte Häufigkeit der Dunklen Materie im Universum nötig ist, sofern seine Masse zwischen etwa 100 GeV und 1 TeV liegt. Was auch immer also die Lösung für das Hierarchie-Problems ist – sie wird uns vermutlich auch einen Kandidaten für das Teilchen der Dunklen Materie bescheren.

Umwälzungen am Horizont

Die Erschließung des TeV-Bereichs für die Forschung bedeutet den Eintritt in eine neue Welt der Experimentalphysik. Diese Welt, in der ein Mechanismus für die Brechung der elektroschwachen Symmetrie, eine Lösung für das Hierarchie-Problem und die Teilchen der Dunklen Materie der Entdeckung harren, gilt es nun mit dem LHC zu erforschen. Die Ziele sind wohldurchdacht, und der Beschleuniger ist optimal darauf zugeschnitten. Dabei löst der LHC das bisherige "Arbeitspferd" der Teilchenphysiker ab: den Tevatron Collider am Fermilab. Die neuen Erkenntnisse werden nicht nur die Physiker elektrisieren, sondern auch unser Verständnis der Alltagswelt vertiefen.

Aber diese Erwartungen, so hoch sie auch gesteckt sein mögen, sind noch nicht alles. Der LHC könnte darüber hinaus auch Möglichkeiten aufzeigen, wie die große Vereinheitlichung aller Kräfte einschließlich der Gravitation zu erreichen wäre, oder Anzeichen dafür liefern, dass die Massen der Elementarteilchen einem bestimmten Muster folgen (siehe Spektrum-Spezial: Forschung im 21. Jahrhundert, S. 12). Jede vorgeschlagene Interpretation neuer Teilchen wird Konsequenzen für seltene Zerfallsreaktionen bereits bekannter Partikel haben. Sehr wahrscheinlich verleiht das Lüften des Schleiers über der elektroschwachen Wechselwirkung all diesen Problemen schärfere Konturen, verändert unseren Blickwinkel darauf und regt neue Experimente zu ihrer Lösung an.

Im Jahr 1950 erhielt Cecil Powell den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung der Pionen, deren Existenz Hideki Yukawa 1935 zur Erklärung der Kernkräfte vorhergesagt hatte. Powell war 1947 auf einen hohen Berg gestiegen, um hochempfindliche Fotoplatten der kosmischen Strahlung auszusetzen. "Als wir die Platten nach Bristol zurückgeholt und entwickelt hatten, war uns sofort klar, dass sie eine völlig neue Welt enthüllten", erinnerte er sich später. "Wir fühlten uns, als wären wir plötzlich in einen ummauerten Obstgarten gelangt, in dem geschützte Bäume geblüht hatten und alle möglichen Arten exotischer Früchte in Hülle und Fülle gereift waren." Genauso stelle ich mir unseren ersten Blick in den TeV-Bereich vor.

Chris Quigg

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