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Konferenzbericht: Ein Pippo breitet sich aus

Selbstverständlich treffen Mediziner ihre Entscheidungen aufgrund von wissenschaftlicher Evidenz. Oder doch nicht? Miriam Ruhenstroth ließ sich auf einem Kongress für evidenzbasierte Medizin in Berlin eines Besseren belehren.

Ein beunruhigendes Phänomen breitet sich aus. Bereits ein Fünftel aller Australier leidet an Motivational Deficiency Disorder, berichteten Neurowissenschaftler um Leth Argos von der australischen Universität Newcastle. Die Symptome reichen von exzessiver Faulheit bis zur stumpfen Apathie und können im schlimmsten Fall zum Tod führen. Denn die Störung, so warnten die Wissenschaftler, dämpfe sogar die Motivation zu Atmen.

Diese "Entdeckung", die nicht von ungefähr in der Aprilausgabe 2006 des British Medical Journal (BMJ) erschienen war, zitierte Norbert Donner-Banzhoff, als er in Berlin den Eröffnungsvortrag einer Konferenz für evidenzbasierte Medizin hielt, die vom 5. bis 7. März stattfand. Mit dem Aprilscherz hatten die BMJ-Redakteure damals parodiert, wie neue Krankheiten generiert werden – wissenschaftliche Evidenz ist dafür nicht unbedingt nötig. Genau auf diese Wunde wollte der Tagungspräsident und Professor für Allgemeinmedizin an der Universität Marburg den Finger legen, denn: Für viele Ärzte ist evidenzbasierte Medizin tatsächlich noch ein Fremdwort.


Der Begriff bedeutet laut einer gängigen Definition von David L. Sackett aus dem Jahr 1996 den "gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen Gebrauch der gegenwärtig besten externen wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten" – kurz gesagt: Mediziner sollen für ihre Entscheidungen die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zu Rate ziehen.

Man möchte meinen, für diese Idee braucht es keinen Fachkongress, das tun Ärzte sowieso. Oder doch nicht? Tatsächlich hat diese Denkweise in der Medizin keine lange Tradition. Das Ergebnis der ersten klinischen Studie nach heute gängigen Kriterien, also randomisiert, verblindet und placebokontrolliert, erschien erst 1948, ebenfalls im BMJ. Der Begriff der EbM ist sogar noch viel jünger, Gordon Guyatt von der kanadischen McMaster-Universität prägte ihn erst Anfang der neunziger Jahre. Auch wenn sich EbM seither stark verbreitet hat, ist sie doch noch immer keine Selbstverständlichkeit.

Gebrechen die keine sind

Wer neue Krankheiten in die Welt setzt oder alte dramatisiert, um seine Medikamente besser zu verkaufen, dem steht EbM ohnehin im Weg. "disease mongering" heißt das Phänomen im englischen Sprachraum: der Handel mit Krankheiten. Einige besonders offensichtliche Fälle gingen längst durch die Medien. Das Sisi-Syndrom etwa, eine neue Ausprägung der Depression, wurde 1998 von der Firma SmithKline Beecham (heute GlaxoSmithKline) ans Licht der Welt gebracht; Jenapharm und Dr. Kade/Besins Pharma erfanden das Aging-Male-Syndrom, die Menopause des Mannes.

Zum Marketing der Branche gehören aber auch viel subtilere Methoden. Propagiert von medizinischen Fachgesellschaften wurde in den vergangenen Jahren der Blutzuckerwert abgesenkt, ab dem Diabetes Typ 2 diagnostiziert wird. Zu Recht? "Es ist überhaupt nicht belegt, dass eine Behandlung bei diesen niedrigen Werten mehr Nutzen als Schaden bringt", sagte Donner-Banzhoff. "Vieles deutet auf das Gegenteil hin." Die Zahl der behandelten Patienten stieg allerdings dramatisch an.

Solche Kampagnen zielen vor allem auf die praktizierenden Ärzte, die in anzeigenfinanzierten Fachzeitschriften, gesponserten Vorträgen, Symposien und Fortbildungen mit Informationen über neue Gefahren geradezu bombardiert werden und in ihrem beschäftigungsreichen Alltag wenig Zeit haben, nach Hintergrundinformationen zu recherchieren. So werden sie teilweise selbst Opfer einer neuen Epidemie. Donner-Banzhoff verpasste ihr ganz nach Pharmamanier auch gleich ein medizinisches Etikett: das PIPPO-Syndrom.

Ein PIPPO in freier Wildbahn

Wer einen Fall von PIPPO erleben will will, dem riet der Marburger Mediziner, eine beliebige Seite der Ärztezeitung (nicht zu verwechseln mit dem Ärzteblatt) aufzuschlagen. Denn in jeder Ausgabe finde man mindestens ein halbes Dutzend Artikel dieses Schemas:

The Random medical news

Das Auftreten von X nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an. Glücklicherweise steht in Form von Y eine wirksame und sichere Behandlung zur Verfügung, wie Professor Z (siehe Foto) auf einem Satellitensymposium der Firma Q anlässlich der Jahrestagung der Fachgesellschaft für R mitteilte.

Darin, so Donner-Banzhoff, steckt alles, was ein PIPPO braucht:

P wie Panik vor einer neuen oder alten Krankheit, die auf jeden Fall immer schlimmer wird
I wie Industrienähe, denn wo dieses Syndrom auftritt, befindet sich auch ein neues Medikament in Reichweite
P wie Pathophysiologie, insbesondere bunte Bilder, die den Zusammenhang zwischen Krankheit und Medikament anschaulich darstellen
P wie Pseudolösungen, also Technologien, die Probleme (scheinbar) bekämpfen, nicht aber deren Ursachen
O wie Ohne Grenzen

Das "O" stehe für den grenzenlosen "Drang des PIPPO-Charakters", also des Syndromverursachers, "die Menschheit mit seinen Technologien zu beglücken", sagte Donner-Banzhoff. Anlässe gibt es genug: "Von rüpelhaften Kindern und Schwierigkeiten beim Sex über Aufstoßen und Sodbrennen bis zu Konzentrationsschwierigkeiten und Unglück im Allgemeinen – das alles kann man mit medizinischen Etiketten versehen. Und das tun wir, seit es ein kommerzielles Verwertungsinteresse gibt."

Als 1991 und 1992 die Ergebnisse der klinischen CAST-Studien (Cardiac Arrhythmia Suppression Trial) im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden, erlebte die Fachwelt eine Überraschung. Bis zu diesem Zeitpunkt war man davon ausgegangen, dass mit Medikamenten, die gegen Herzrhythmusstörungen helfen (Klasse-I-Antiarrhythmika), auch der plötzliche Herztod nach einem Herzinfarkt verhindert werden kann. Entsprechend wurden sie auch von praktizierenden Ärzten eingesetzt, zumal ja bekannt war, dass Herzrhythmusstörungen oft für den plötzlichen Herztod verantwortlich sind. Tatsächlich aber war die Wirksamkeit der Medikamente zuvor nur bei Herzrhythmusstörungen nachgewiesen worden. Die CAST-Studien sollten nun auch ihre Wirkung auf den Herztod belegen. Doch in der Patientengruppe, die mit einem solchen Präparat behandelt wurde, starben Menschen signifikant häufiger am Herztod als in der mit Placebos behandelten Kontrollgruppe. Die Studien wurden darum vorzeitig abgebrochen.

Offenbar hatten viele Mediziner einfach angenommen, dass ein Medikament, welches für Symptom X getestet war, auch Symptom Y verhindert, weil X bekanntermaßen Y auslöst. Dies hat laut Donner-Banzhoff eine ganz grundsätzliche Ursache: "Die Pathophysiologie erklärt die physiologischen Vorgänge bei einer Krankheit meist in Form bunter Schaubilder, auf denen Molekül x mit Molekül y interagiert." Diese Bilder suggerieren ein mechanistisches Verständnis der Krankheitsvorgänge, das leicht zu falschen Rückschlüssen verführt. Zum Beispiel zu diesem: Behandle Herzrhythmusstörungen und Du verhinderst damit den plötzlichen Herztod – den Zusammenhang der beiden Symptome kennen wir ja. Und schon seien die Adressaten in die "Plausibilitätsfalle der Pathophysiologie" getappt.

Denn was tatsächlich alles in einem Organismus passiert, ist in den meisten Fällen unbekannt. "Deshalb sollte man sich statt der Pathophysiologie lieber eine schwarze Kiste vorstellen", sagte der Allgemeinmediziner, "und nur schauen, was vorne reingeht und hinten rauskommt." Anders gesagt: Wenn ein Medikament bei Patienten in der richtigen Weise wirkt, ist dies die Hauptsache – die tatsächlichen biochemischen Vorgänge, die oft nur unvollständig verstanden sind, dürfen bei seiner Beurteilung nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Mit genau dieser Black Box arbeitet die evidenzbasierte Medizin. Leider wirft sie nur Zahlen aus – und die hinterlassen viel weniger Eindruck als bunte Bilder. Doch gerade für Mediziner sind Bilder wichtig: "Denn den Stoff eines Medizinstudiums bewältigt nur derjenige, der Zusammenhänge in Physiologie und Anatomie durch krude Bilder und Geschichten notfalls erzwingt", sagt der Marburger Professor. Darauf verlassen sich auch Pharmafirmen, nicht umsonst sei "die Pathophysiologie zentrale Argumentationsgrundlage eines jeden PIPPO".

Angst und Hoffnung

Darüber hinaus seien typische PIPPO-Kampagnen vor allem deshalb so erfolgreich, weil sie Emotionen ansprechen. Die wichtigste davon ist die Angst. "Sie kennen das epidemiologische Ritual zu Beginn entsprechender Fachvorträge", sagte Donner-Banzhoff zu seinem Publikum. Zunächst bläst man Häufigkeit und Zahl der Neuerkrankungen tüchtig auf. Desweiteren reiche oft "schon der Hinweis auf die alternde Bevölkerung aus, um höhere Ressourcen zu reklamieren." Doch das Demografieargument leite möglicherweise in die Irre. Vieles deutet darauf hin, dass sich die Lebensphasen mit starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen – trotz steigender Lebenserwartung – im allgemeinen sogar verkürzen. "Dass ein Gesundheitsproblem in Folge der älter werdenden Gesellschaft bedeutsamer wird, muss also in jedem Fall konkret nachgewiesen werden."

Ist die Angst erst geschürt, lassen die PIPPO-Initiatoren hoffnungsfrohe Nachrichten über eine neue Gesundheitstechnologie folgen. "Meist sind das jedoch Lösungen, die am eigentlichen Problem vorbeigehen", kritisiert Donner-Banzhoff: Pillen gegen Fett, Zucker und hohen Blutdruck ändern nichts an Problemen, deren Ursachen im Lebensstil liegen. Doch an dessen Änderung haben die Pharmafirmen naturgemäß keinerlei Interesse.

Gegenhalten ist allerdings schwierig, denn PIPPOs bauen auch moralischen Druck auf. Wenn die Krankheit doch so schwer ist und immer weiter zunimmt – wer will da noch lange nach Studien fragen? Drum stehe, wer meckert, bald "als eiskalter, seelenloser Technokrat da", so Donner-Banzhoff. Dennoch: Das probateste Mittel gegen diese Epidemie ist immer noch, unbequeme Fragen zu stellen. Gab es Studien und wie war ihr Design? Steht der Nutzen einem möglichen Schaden gegenüber? Erlaubt der Wert, den eine neue Vorsorgeuntersuchung misst, wirklich einen Rückschluss auf die spätere Krankheit? Und, mit Hinblick auf das Symptom "I wie Industrienähe": Wer hat wen bezahlt?

Apropos bezahlen. Wer nach dem letzten Hausarztbesuch brav zur Apotheke ging, um einen Schleimlöser zu kaufen, hätte sich vielleicht die entsprechende Wirksamkeitsstudie vorlegen lassen sollen. Ein weiterer Redner auf dem Kongress ließ keinen Zweifel daran: Der hustengeplagte Patient wäre enttäuscht worden.

Miriam Ruhenstroth

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