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Gedächtnis: Gibt es Schwangerschaftsdemenz?

Manche Mütter berichten während der Schwangerschaft oder in der Stillzeit von Gedächtniseinbußen. Ulrike Ehlert von der Universität Zürich erklärt, ob es die so genannte Schwangerschaftsdemenz wirklich gibt.
Schnuller

In Internetforen für werdende oder frischgebackene Eltern ist Vergesslichkeit während der Schwangerschaft oder in der Stillzeit ein großes Thema. Während manche Mutter über die eigenen Gedächtnislücken schmunzelt, bereiten sie anderen ernsthafte Sorgen. Tatsächlich tritt das Phänomen häufig auf: 81 Prozent der Schwangeren berichteten in einer bereits 1993 erschienenen Studie von Medizinern der University of Bristol von Gedächtniseinbußen. Und sie konnten in der Tat weniger zuvor gelernte Wörter wiedergeben als Frauen, die kein Kind erwarteten.

Die australischen Psychologen Peter Rendell und Julie Henry bestätigten das. Sie werteten 2007 alle englischsprachigen Studien aus, welche die Gedächtnisleis­tung von Schwangeren oder Stillenden mit der ­einer Kontrollgruppe verglichen hatten. Das Ergebnis: Vor und nach der Geburt zeigen Frauen Defizite – allerdings nicht in allen Bereichen. Während sich beim Wiedererkennen zuvor gelernter Wörter keine Einbußen ­offenbarten, nannten sie beim freien Abruf weniger ­Begriffe. Außerdem schnitten sie in solchen Tests des Arbeitsgedächtnisses schlechter ab, bei denen man Zahlen in umgekehrter Reihenfolge wiedergibt und es daher nicht reicht, sich die Information passiv zu merken.

Kurz vor der Niederkunft scheint auch das prospektive Gedächtnis beeinträchtigt zu sein. Dieses brauchen wir im Alltag, um uns an unsere Pläne zu er­innern, etwa an Verabredungen oder die Einnahme von Medikamenten. Rendell und Henry gaben Frauen im letzten Drittel der Schwangerschaft sowie einer Kontrollgruppe eine Woche lang ein tragbares Zeiterfassungsgerät, das sie zu festen Zeiten ­benutzen sollten. Schwangere vergaßen das deutlich öfter. In einem Labortest zum prospektiven Gedächtnis jedoch schnitten sie nicht schlechter ab.

Einige Wissenschaftler vermuten, dass die Ver­gess­lichkeit den jungen Müttern als Schutz vor Reiz­über­flutung dient: Sie könnte ihnen helfen, sich in der neuen und stressigen Situation auf das Kind zu konzentrieren und eine enge Bindung zu ihm aufzu­bauen. Manche Forscher führen die Defizite auf den häufig unterbrochenen und weniger erholsamen Schlaf der Mütter zurück. Für andere ist Cortisol der Übeltäter. Denn wenn der Körper über lange Zeit viel Cortisol produziert, sterben Neurone im präfrontalen Kortex und im Hippocampus ab, der Schaltstelle des Gedächtnisses.

Allerdings scheint gerade das Stillen die Ausschüttung des Stresshormons zu hemmen. Ich selbst verglich mit meinem Team 2002 den Hormonhaushalt von Stillenden, die ihr Kind zuvor entweder eine halbe Stunde auf dem Arm gehalten oder ihm eine viertel Stunde die Brust ­gegeben hatten. Hinterher mussten alle vor Publikum unvorbereitet eine Rede halten und Kopfrechenaufgaben lösen. Frauen, die ihr Kind gestillt hatten, hielten diesem "Stresstest" leichter stand und hatten weniger Stresshormone im Blut als jene, die ihr Kind nur gehalten hatten. Zusätzlich wiesen erstere höhere Werte an Oxytozin auf. Dieses Neuropeptid wird oft als Kuschel- oder Bindungshormon bezeichnet. Auch im Blut von Schwangeren finden sich hohe Oxytozinkonzentrationen. Ist es also für die Ge­dächt­nis­einbußen verantwortlich? Ältere Studien aus den 1980er und 1990er Jahren deuten zumindest darauf hin, dass Oxytozin die Merkfähigkeit schmälert.

Begriffe wie Schwangerschafts- oder Stilldemenz sind irreführend. Mit dem schweren und degenerativen Syndrom der Demenz haben die leichten Erinnerungslücken nichts zu tun

Um herauszufinden, ob sich eine hohe Dosis des Hormons auch auf das Gedächtnis von Männern niederschlägt, verabreichte meine Arbeitsgruppe männlichen Teilnehmern 2004 entweder die Substanz oder ein Placebo, bevor sie Begriffe lernten. Anschließend sollten sie Wortstämme zu den zuvor gelernten Wörtern vervollständigen (etwa "Din-" zu "Dinosaurier").

Wer Oxytozin erhalten hatte, dem gelang das deutlich schlechter. Sollten die Probanden den Wortstamm jedoch zu beliebigen Begriffen ergänzen, nannten beide Gruppen gleich oft jene aus dem gelernten Fundus. Sie hatten sich diese doch gemerkt. Das zeigt, dass Oxytozin zwar die Fähigkeit beeinflusst, Gelerntes abzurufen, nicht aber das implizite, also unbewusste Lernen selbst.

Trotzdem sind Begriffe wie Schwangerschafts- oder Stilldemenz irreführend. Mit dem schweren und degenerativen Syndrom der Demenz haben die leichten Erinnerungslücken nichts zu tun. Das Gehirn junger Mütter funktioniert sehr gut – nur eben etwas anders: Es ist vermutlich auf die Mutter-Kind-­Beziehung optimiert, damit sich die frischgebackene Mutter voll und ganz ihrem Neugeborenen widmen kann. Gelernte Wortlisten abzurufen, ist dann eben einfach zweitrangig.

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  • Quellen

Heinrichs, M. et al.: Selective Amnesic Effects of Oxytocin on Human Memory. In: Physiology & Behavior 83, S. 31–38, 2004

Heinrichs, M. et al.: Lactation and Stress: Protective Effects of Breast-Feeding in Humans. In: Stress: The International Journal on the Biology of Stress 5, S. 195–203, 2002

Rendell, P. G., Henry, J. D.: Prospective-Memory Functioning is Affected during Pregnancy and Postpartum. In: Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology 30, S. 913–919, 2008

Bruins, J. et al.: Effect of a Single Dose of Des-Glycinamide-[Arg 8] Vasopressin or Oxytocin on Cognitive Processes in Young Healthy Subjects. In: Peptides 13, S. 461–468, 1992

Ferrier, B. M. et al.: Influence of Oxytocin on Human Memory Processes. In: Life Sciences 27, S. 2311–2317, 1980

Heinrichs, M. et al.: Effects of Suckling on Hypothalamic-Pituitary-Adrenal Axis Responses to Psychosocial Stress in Postpartum Lactating Women. In: The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism 86, S. 4798–4804, 2001

Henry, J. D., Rendell, P. G.: A Review of the Impact of Pregnancy on Memory Function. In: Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology 29, S. 793–803, 2007

Sharp, K. et al.: Memory Loss During Pregnancy. In: British Journal of Obstetrics and Gynaecology 100, S. 209–215, 1993

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