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Freistetters Formelwelt: Alles oder nichts

Wenn Mathematiker nach Beweisen für ihre Aussagen suchen, dann riskieren sie viel. Beim "Widerspruchsbeweis" setzt man sein ganzes Gedankengebäude aufs Spiel und hofft am Ende nicht als Verlierer dazustehen.
Mathematiker gehen bisweilen aufs Ganze

In der Mathematik spielt die Kreativität eine fundamentale Rolle. Nicht nur, wenn es darum geht, Beziehungen zwischen Zahlen und Funktionen zu entdecken, sondern vor allem dann, wenn man die Gültigkeit dieser Beziehungen beweisen will. Ohne einen allgemein gültigen Beweis ist selbst die faszinierendste und schönste Aussage nicht zu gebrauchen. Es hilft nichts, wenn eine mathematische Behauptung plausibel erscheint oder wenn man sie für zahlreiche Fälle explizit überprüft hat. Sie muss – innerhalb der gegebenen Voraussetzungen – immer gelten.

Diesen Beweis zu führen, kann die Kreativität der Mathematiker über Jahre, Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte beschäftigen. Wenn man Glück hat, kann man aber mit einem der wenigen Standardverfahren Erfolg haben – zum Beispiel mit dem "Widerspruchsbeweis", der auch "Reductio ad absurdum" genannt wird. Der berühmte englische Mathematiker Godfrey H. Hardy hat ihn die "feinste Waffe eines Mathematikers" genannt und erklärt: "Er ist eine viel subtilere Attacke als jeder Angriff beim Schach: Ein Schachspieler mag einen Bauern oder sogar einen Offizier als Opfer anbieten, der Mathematiker aber bietet gleich das ganze Spiel an."

Hardy hat mit seiner Charakterisierung nicht Unrecht. Beim Widerspruchsbeweis lehnt sich der Mathematiker weit aus dem Fenster. Um zu beweisen, was er für richtig hält, beginnt er mit der Behauptung, die zu bestätigende Aussage sei falsch – und versucht daraus einen Widerspruch abzuleiten. In der Formelsprache der mathematischen Logik sieht das Konzept so aus:

Widerspruchsbeweis

Übersetzt bedeutet das: Folgt aus einer Menge an Aussagen (Γ) und der Aussage A die Aussage B und gleichzeitig die Aussage "Nicht-B", dann folgt aus der Menge an Aussagen Γ die Aussage "Nicht-A". Oder noch einmal anders gesagt: Kann man aus einer Behauptung durch logisch einwandfreie Schritte am Ende eine sich selbst widersprechende Aussage ableiten, dann kann das nur bedeuten, dass die ursprüngliche Aussage falsch ist.

Ein Beispiel macht das Prinzip klarer: Stellen wir uns vor, wir wollen einwandfrei beweisen, dass die Wurzel aus der Zahl Zwei eine irrationale Zahl ist, weshalb sie nicht als Bruchzahl dargestellt werden kann. Beim Widerspruchsbeweis behaupten wir zuerst das Gegenteil von dem, was wir beweisen wollen. Wir gehen also davon aus, dass es tatsächlich zwei ganze Zahlen a und b gibt, so dass die Wurzel aus 2 gleich a/b ist. Daraus folgt direkt, dass eine dieser beiden Zahlen ungerade sein muss, denn wären beide gerade, könnte man beide noch einmal durch zwei teilen und den Bruch weiter vereinfachen. Mit unserer Annahme gilt aber auch, dass a2/b2 = 2 ist und dass a2 = 2b2 ist. Die Zahl a2 muss also gerade sein, da jede Zahl gerade ist, die mit 2 multipliziert wird. Ist a2 gerade, muss es auch a selbst sein, denn eine ungerade Zahl kann mit sich selbst multipliziert niemals eine gerade Zahl ergeben. Also muss b die ungerade Zahl in unserem Bruch sein. Andererseits gilt aber auch, dass a2 ein Vielfaches von 4 sein muss, wenn a eine gerade Zahl ist. Da aber immer noch a2 = 2b2 gilt, muss auch 2b2 ein Vielfaches von 4 sein. Daraus folgt, dass b2 ein Vielfaches von 2 und damit eine gerade Zahl ist. Folglich muss auch b selbst eine gerade Zahl sein.

Wir haben also logisch schlüssig abgeleitet, dass die Zahl b sowohl gerade als auch ungerade sein muss. Das ist ein einwandfreier Widerspruch, und der einzige Weg, ihn aufzulösen, ist, zurück zum Anfang zu gehen. Dort steht die Behauptung, dass die Wurzel aus 2 als Bruch zweier Zahlen dargestellt werden kann. Diese Behauptung muss also falsch und ihr Gegenteil richtig sein: Die Wurzel aus 2 ist eine irrationale Zahl.

Viele wichtige mathematische Aussagen wurden auf diese Weise bewiesen – die Tatsache, dass es unendliche viele Primzahlen gibt zum Beispiel. Auch das berühmte und elegante "Diagonalelement" von Georg Cantor, mit dem er zeigen konnte, dass es mehr reelle Zahlen gibt als natürliche Zahlen, ist ein Widerspruchsbeweis.

Mir gefällt dieses paradoxe Verhalten der Mathematik. Sie basiert darauf, dass jeder logische Widerspruch vermieden werden muss. Und produziert andererseits absichtlich genau solche Widersprüche, um das zu erreichen.

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