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Psychologie mit Ernst: Den Letzten beißen die Hunde

Der Mensch sei kein rational kalkulierender Homo oeconomicus, sondern eher ein Homo irrationalis, meinen Ökonomen und Psychologen. Das macht ihn aber noch längst nicht zum sympathischeren Mitmenschen.
Wie hoch man auf einer Leiter steht, ist nicht immer entscheidend - hauptsache, es steht noch jemand tiefer

Vor Kurzem waren es die Panama Papers, jetzt sind es die Paradise Papers, die für massenhafte (aber vermutlich sehr flüchtige) Erregung sorgten. Es sind Dokumente grenzenloser Gier, die sich auf eine ausgeklügelte Infrastruktur stützt. Der Homo oeconomicus lebt! Diese Kopfgeburt des englischen Philosophen John Stuart Mill (1806-1873) ist ein zäher Typ. Zumindest hat eine beachtliche Anzahl dieser Spezies überlebt, deren wichtigster Wesenszug das Streben nach maximalem Gewinn ist.

Zwar versuchte eine stattliche Reihe von Nobelpreisträgern für Wirtschaftswissenschaften, uns eines Besseren zu belehren. Verhaltensökonomen und Psychologen wie beispielsweise Herbert Simon (1978), Daniel Kahneman (2002) und zuletzt Richard Thaler (2017) haben den Homo oeconomicus als gedankliche Fehlkonstruktion, als blutleeren Popanz entlarvt. Wir seien letztlich keineswegs kühl kalkulierende Nutzenmaximierer, permanent auf unserer persönlichen Vorteil bedacht. Ganz im Gegenteil: Viel öfter entscheiden wir in ökonomischen Fragen suboptimal, häufig geradezu selbstschädigend und dumm. Kurz: Menschliches Verhalten in Kosten-Nutzen-Fragen ist weitaus komplexer, als dass es von einem einheitlichen Typus wie dem Homo oeconomicus abgebildet werden könnte.

Die neue Lehre lautet: Unsere ökonomische Rationalität ist zum einen schon deshalb sehr begrenzt, weil in die meisten Entscheidungen auch emotionale und soziale Faktoren einfließen. Das macht uns im Grunde zu Homo irrationalis, der beispielsweise als Anleger einem Herdentrieb folgt, auf die plumpesten Profitverheißungen hereinfällt und sich zu riskanten Geschäften verleiten lässt.

Zum anderen sind wir in den Augen der Verhaltensökonomen auch zu Höherem als zum Gewinnmaximieren fähig. Wir seien sehr wohl altruistisch, sozial, nicht berechnend, und wir hätten eben nicht ständig nur unser eigenes Wohl, sondern auch das unserer Mitmenschen im Auge. Überlegungen wie Fairness und Gerechtigkeit spielten eine Rolle, auch Empathie und Mitgefühl. Und wir sind, so besagt das neue Menschenbild, evolutionär auf Teilen und Kooperieren angelegt. Das zeige sich zum Beispiel in dem Impuls, Egoisten und Raffkes bestrafen zu wollen, wenn wir ihr Treiben mitkriegen.

Wie ich dir, so du mir

So weit die reine Lehre. Sie basiert zu großen Teilen auf spieltheoretisch angelegten Laborversuchen, in denen unter anderem eine Art vorauseilender Altruismus erkennbar wurde. Die Spieler geben häufig einen Vertrauensvorschuss und sind zum Teilen ihres Spielgeldes bereit: "Wie ich dir, so du hoffentlich auch mir." Kurz: Der Mensch ist auch ein Homo socialis. Die Botschaft hören wir wohl, und sie ist durch Nobelpreise geadelt. Aber was heißt das für die Realität? Die paradiesischen Steuervermeider und -hinterzieher, über die wir uns gerade wieder empören, sind und bleiben ungerührt Homini oeconomici, knallhart kalkulierende, alle moralischen oder altruistischen Überlegungen beiseitewischende Egoisten.

Und was ist mit den anderen, den "Opfern" dieser Machenschaften? Auch hier greift das Modell zu kurz: Nicht nur verhalten sich halbe Bevölkerungen – wie etwa die Brexit-Briten oder die Trump-Wähler – in atemberaubender Weise irrational. Sie wählen Kandidaten und befürworten eine Politik gegen ihren ureigenen Interessen.

Es geht aber noch schlimmer. Die neueste Volte im verhaltensökonomischen Modellbauwettbewerb lautet: Sie sind überdies in großen Teilen sogar Homini antisociales, Menschen also, die nicht nur für sich selbst nichts Vernünftiges tun, sondern geradezu bösartig und destruktiv sind, wenn es um das Wohl anderer Menschen geht. Der Neurowissenschaftler und Philosoph Steven R. Quartz erkennt in dieser antisozialen Neigung sogar psychopathische Züge – eine Bereitschaft, anderen zu schaden, selbst wenn man daraus keinen Vorteil zieht oder sich sogar selbst dabei schadet.

Ein Fülle von Spielexperimenten zeigte, wie groß die Lust an der Boshaftigkeit und am mutwilligen Zerstören ist. Zum Beispiel so: Zwei Spieler erhalten jeweils zehn Euro. Eine Vorgabe lautet: Wenn du einen Euro investierst, kannst du damit fünf Euro deines Mitspielers "verbrennen". Diese Einladung zur Bosheit wird gern angenommen. Nicht wenige Spieler mindern ihr eigenes Vermögen, nur um einem anderen einen noch größeren Schaden zuzufügen – einem Menschen, der ihnen nichts getan hat. Möglicherweise gibt es neben dem altruistischen Vertrauensvorschuss auch eine "vorauseilende Bosheit": Man schädigt jemanden, den man für einen potenziellen Konkurrenten hält. Vermutlich steckt auch dahinter eine evolutionäre Logik; in Zeiten knapper Ressourcen macht es offenbar Sinn, den Wettbewerber zu schwächen oder sogar auszuschalten.

Dieses Verhalten zeigt sich jedoch nicht nur in ausgeklügelt fiesen Laborspielchen, sondern auch in der ökonomischen und politischen Realität. Das Buch der renommierten amerikanischen Soziologin Arlie Russell Hochschild "Fremd in ihrem Land. Eine Reise in das Herz der amerikanischen Rechten" ist eine Fallstudie des massenhaft auftretenden Homo irrationalis und antisocialis. Von Menschen, deren Einkommen unter dem Durchschnittseinkommen eines Landes liegt, könnte man nach dem Modell Homo oeconomicus erwarten, dass sie sehr an einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums interessiert sind. Dass sie beispielsweise für eine Politik stimmen, die durch Steuer- und Wohlfahrtspolitik dafür sorgt, dass die Reichen etwas mehr abgeben, um für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen. Aber nein: In den USA (und auch in anderen Staaten, zuletzt in der Slowakei) wählen sie Superreiche, die Steuern für ihresgleichen senken und den Wohlfahrtsprogramme rabiat abbauen.

Hauptsache, anderen geht es noch schlechter!

Eine schlüssige Erklärung für dieses "große Paradox" (Hochschild) steht noch aus. Aber von den bisher angebotenen scheint mir diese plausibel: Das paradoxe Verhalten liege womöglich an der verbreiteten "Aversion gegen den letzten Platz", meint die Psychologin Ilyana Kuzienko. Viele der Menschen, die Trump (oder andere rechte Kandidaten) wählen, fürchteten vor allem, dass "mehr Staat" und also auch mehr Umverteilung vor allem denen zugutekommt, die noch hinter oder unter einem selbst liegen (in Deutschland wären das z. B. die Flüchtlinge). Die Wohltaten einer gerechteren Sozial- und Gesundheitspolitik stellten möglicherweise die wirklich Abgehängten besser. Diese könnten dadurch aufholen oder gar überholen, und man rutscht dann selbst auf den letzten Platz ab. Also arrangiert man sich lieber mit den eigenen bescheidenen Verhältnissen und wählt rechts: Man verweigert jenen, die noch schlechter gestellt sind, staatliche Zuwendungen. Den Letzten beißen die Hunde.

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