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Freistetters Formelwelt: Warum jeder fast jeden kennt

Die Welt ist kleiner, als wir denken. Zumindest wenn es um spezielle Verbindungen zwischen den Menschen geht. Jede Person ist mit jeder beliebigen anderen Person über eine überraschend kurze Kette an Bekanntschaften verbunden.
Jeder kennt fast jeden irgendwie - zumindest in sozialen Netzwerken

Im Jahr 2000 veröffentlichte ich gemeinsam mit dem griechischen Mathematiker George Contopoulos eine wissenschaftliche Facharbeit über bestimmte Eigenschaften chaotischer Systeme. Contopoulos hatte Jahrzehnte zuvor mit dem Astrophysiker Subrahmanyan Chandrasekhar einen Artikel über die allgemeine Relativitätstheorie publiziert, und dieser wiederum war bei einer anderen Arbeit Koautor des polnisch-amerikanischen Mathematikers Mark Kac. Kac selbst publizierte schließlich im Jahr 1940 einen Artikel über das gaußsche Fehlerfortpflanzungsgesetz mit dem berühmten Mathematiker Paul Erdős.

Das ist prinzipiell alles nicht weiter bemerkenswert, bedeutet aber auch, dass ich eine "Erdős-Zahl" von 4 besitze. Das Konzept dieser Zahl geht auf das Jahr 1969 zurück. Damals veröffentlichte der Mathematiker Casper Goffman einen Text über die Koautoren von Paul Erdős. Der 1913 geborene Ungar war einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts und unter anderem für seine enorm große Zahl an Forschern bekannt, die mit ihm publizierten. Er veröffentlichte Fachartikel mit mehr als 500 verschiedenen Kollegen, und das inspirierte Goffman, seine Bekanntschaften als Netzwerk im Sinne der Graphentheorie zu betrachten. Jeder Person in diesem Netzwerk wird eine Zahl zugeordnet: Paul Erdős selbst bekommt die Zahl 0, und jeder, der mit ihm gemeinsam publiziert hat, die Zahl 1. Wer mit einem seiner Koautoren aktiv war, erhält die Zahl 2 und so weiter. In meinem Fall trennen mich 3 Koautoren von Erdős selbst, weswegen meine Erdős-Zahl den Wert 4 annimmt.

Die Erdős-Zahl ist eine nette Spielerei unter Wissenschaftlern; das ihr zu Grunde liegende Konzept ist aber durchaus interessant. Es beschreibt so genannte "Kleine-Welt-Netzwerke", in deren Zentrum diese Formel steht:

Kleine-Welt-Netzwerke

Ci ist der so genannte "lokale Clusterkoeffizient" und beschreibt das Verhältnis von tatsächlichen Verbindungen (= n) zwischen einem Knotenpunkt und seinen Nachbarn und den maximal möglichen Verbindungen.

Ein Beispiel dafür ist ein soziales Netzwerk mit (virtuellen) Freundschaften: Jede Person ist ein Knotenpunkt und besitzt eine gewisse Anzahl an Freunden (in der Formel gegeben durch ki). Angenommen, ich selbst habe drei Freunde A, B und C, von denen B und C ebenfalls befreundet sind. Wären alle meine Freunde miteinander befreundet, dann gäbe es zwischen ihnen 3 Verbindungen: die Freundschaft zwischen A und B, zwischen B und C und zwischen C und A. Tatsächlich existiert in diesem Netzwerk aber nur die Verbindung zwischen B und C. Der lokale Clusterkoeffizient berechnet sich dann zu 1/3. Die Formel gilt nur für den Fall, dass die Richtung der Verbindung keine Rolle spielt – eine Freundschaft zwischen A und B ist also immer auch eine zwischen B und A.

In einem "Kleine-Welt-Netzwerk" ist die Chance groß, dass zwei meiner Freunde auch miteinander befreundet sind. Außerdem kann ich jede andere Person im Netzwerk über vergleichsweise wenig Zwischenstationen erreichen. Im Netzwerk der Erdős-Autoren haben die meisten Autoren eine Erdős-Zahl von 4 oder 5 (vorausgesetzt es existiert eine Verbindung zwischen ihnen und Erdős). Erdős-Zahlen größer als 10 sind enorm selten. Eine Analyse von Verbindungen bei Facebook aus dem Jahr 2011 kam auf eine ähnliche Zahl: Zwei beliebige Personen sind im Durchschnitt durch 3,7 Verbindungen vernetzt.

Dieses Verhalten beschreibt der Clusterkoeffizient. Berechnet man den Wert für alle Knotenpunkte eines Netzwerks und nimmt das Mittel, dann ist das in einem "Kleine-Welt-Netzwerk" größer als in einem vergleichbaren Zufallsnetzwerk. Ein Verständnis solcher Netzwerke ist zum Beispiel interessant, wenn möglichst ausfallsichere Stromnetze oder Routerverbindungen aufgebaut werden sollen. Es spielt aber auch eine Rolle bei der Ausbreitung von Krankheiten. Und es zeigt uns, dass die große Welt nicht ganz so groß ist, wie wir manchmal denken.

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