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ESA: Europas mutlose Raumfahrt

Wagemut und visionäre Projekte sucht man in der europäischen Raumfahrt einmal mehr vergebens, stattdessen dominieren kurzsichtige, nationale Interessen. Das geht vor allem auf Kosten der Wissenschaft, kritisiert Alexander Stirn.
ExoMars 2016

Wenn in der Politik um Milliardensummen geschachert wird, gibt es gemeinhin Gewinner und Verlierer. Man musste Alvaro Giménez Cañete, dem Wissenschaftschef der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, vergangenen Freitag (2. Dezember) nur ins Gesicht schauen, um zu sehen, auf welcher Seite er stand. Er war ein Verlierer.

Kurz zuvor hatten die Raumfahrtminister der 22 ESA-Mitgliedsstaaten in Luzern über die Zukunft der Organisation entschieden. Sie hatten taktiert und intrigiert, sie hatten 10,3 Milliarden Euro verteilt, und sie hatten dabei zwei Dinge mehr als deutlich gemacht: dass das Wissenschaftsprogramm für sie keine Priorität genießt und dass sie auch kein Interesse an einer klaren Strategie für die Zukunft haben. Statt mutig nach vorne zu schauen, wurde – wieder einmal – der Status quo zementiert. Statt Ambitionen und Innovationen zu fördern, haben nationale Interessen und Egoismen gesiegt.

Alexander Stirn

Das zeigte sich besonders beim größten Knackpunkt der diesjährigen Ministerkonferenz: der "Exomars"-Mission. Eigentlich ist Exomars ein ambitioniertes Wissenschaftsprojekt, bei dem ein Roboterfahrzeug im Jahr 2021 den Mars anbohren und nach Lebensspuren suchen soll. Doch die Mission ist dem Wissenschaftsprogramm der ESA finanziell längst entwachsen. Für diesen Topf muss jedes Mitgliedsland entsprechend seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einen Pflichtbeitrag entrichten; das soll Kontinuität garantieren. Da die Kosten für Exomars allerdings von ursprünglich 600 Millionen auf inzwischen etwa 1,5 Milliarden Euro geklettert sind, muss das Geld anders zusammenkommen: auf freiwilliger Basis.

Die einzelnen Mitgliedsländer verpflichten sich dabei, unterschiedlich hohe Beträge zu zahlen – in der Erwartung, dass das investierte Geld in Form von Industrieaufträgen wieder zurück ins Land kommt. Exomars, ursprünglich ein wissenschaftliches Glanzstück, ist auf diese Weise zum Spielball der wirtschaftlichen Interessen geworden. Deutschland zum Beispiel machte in Luzern lediglich 20 Millionen Euro locker. Die Summe dürfte gerade reichen, damit die Bremer Raumfahrtfirma OHB ihre Arbeiten an Exomars abschließend kann. Mehr Geld aus Deutschland gibt es nicht.

Die anderen Staaten agierten ähnlich, so dass in der Summe nur 339 Millionen Euro zusammenkamen. Zu wenig für die Rettung von Exomars. Weitere 97 Millionen Euro muss die ESA deshalb von den bestehenden Pflichtbeiträgen abknapsen, die vor allem ins jährlich 508 Millionen Euro starke Wissenschaftsprogramm fließen. Damit nicht genug: Die Abgaben für die Wissenschaft sollen, so wollen es die Minister, pro Jahr gerade einmal um ein Prozent steigen – bei einer prognostizierten Inflationsrate von 1,8 Prozent für die kommenden Jahre. Unterm Strich bleibt für das reine Wissenschaftsprogramm somit deutlich weniger Geld übrig. Zwar sollen bereits begonnene Missionen nicht darunter leiden, künftige Projekte müssten allerdings verschoben werden, sagt ein zerknirschter Giménez Cañete. Und jede Verschiebung kostet wieder zusätzliches Geld. Um eine einzige, industriepolitisch wichtige Mission zu retten, müssen somit viele andere leiden.

Manche werden nicht einmal gestartet: Mit AIM, der Asteroid Impact Mission, wollte die ESA gemeinsam mit der US-Raumfahrtbehörde NASA am Beispiel des Asteroiden Didymos untersuchen, wie Himmelskörper abgelenkt werden können, sollten sie eines Tages auf die Erde zurasen. "AIM war ein Beispiel für eine ESA in absoluter Bestform", so Generaldirektor Johann-Dietrich Wörner in seinem Blog: "wagemutig, innovativ, ambitioniert." Offenbar keine Adjektive, die bei den Mitgliedsländern hoch im Kurs stehen. Das nötige Geld für AIM, etwa 250 Millionen Euro, kam in Luzern nicht zusammen, die Politiker sahen keinen direkten finanziellen Nutzen. Es ging ja auch nur um die langfristige Rettung der Erde.

Auch sonst erwiesen sich die ESA-Mitgliedsstaaten als äußerst kurzsichtig. Die Beteiligung an der Internationalen Raumstation ISS wurde zwar bis zu deren geplantem Ende im Jahr 2024 bewilligt, Ideen für die Zeit danach waren allerdings kein Thema. Und das, obwohl das nächste wegweisende ESA-Ministertreffen erst Ende 2019 stattfinden soll. In Anbetracht der Vorlaufzeit von Raumfahrtmissionen – die ISS hat rund 15 Jahre von der Anfangsidee bis zum ersten Start benötigt – dürfte es dann zu spät sein für ein internationales Großprojekt direkt im Anschluss an die Raumstation.

Nicht einmal die Idee von Generaldirektor Wörner, in Zukunft ein Monddorf aufzubauen, an dem sich verschiedene Raumfahrtorganisationen mit eigenen, wegweisenden Projekten beteiligen können, wurde öffentlich unterstützt. Stattdessen reduziert sich Europas Mondbegeisterung auf ein paar Millionen Euro für die russische Mission "Luna 27" und einen Nebensatz in einer allgemeinen Erklärung. Dabei hätten die Europäer gerade jetzt, wo die Zukunft des US-Raumfahrtprogramms unter Donald Trump mehr als unsicher erscheint, die Gelegenheit gehabt, sich klar zu positionieren und die Initiative bei künftigen Großprojekten zu übernehmen. Chance vertan.

"Für eine vereinte Raumfahrt in Europa" ist die zentrale Resolution von Luzern überschrieben. Schöne Worte, die zunächst einmal nichts kosten. Die Realität sieht anders aus. Teilnehmer berichten, dass die Konferenz wie selten zuvor von taktischen Spielchen geprägt gewesen sei, vom Feilschen um finanzielle Zusagen und um industrielle Aufträge. Auch Wörner erzählt von aufreibenden Verhandlungen, die Tag und Nacht geführt wurden und es fast unmöglich machten, einen klaren Weg nach vorne zu finden.

Am Ende gewannen die nationalen Interessen, nicht nur in Großbritannien: Vor vier Jahren rettete das Land mit einer überraschend großzügigen Beteiligung das europäische ISS-Programm. Das Königreich wurde belohnt. Mit Tim Peake bekam es einen eigenen Astronauten, der auf Europas Kosten zur Raumstation fliegen und sein Heimatland glücklich machen durfte. Mission erfüllt. Jetzt, in Luzern, keine sechs Monate nach Peakes Rückkehr, reduzierte Großbritannien seinen ISS-Anteil offenbar deutlich. Peakes Flug ist nur ein Beispiel. Aber er ist typisch für das kurzsichtige und nationale Denken einer – nur vorgeblich vereinten – Raumfahrt in Europa.

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