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Freistetters Formelwelt: Die Grenze zwischen Zufall und Entdeckung

Die Standardabweichung gehört zu den wichtigsten Instrumenten der Teilchenphysiker. Ihr Wert entscheidet, ob exotische Teilchen real sind oder eher ein Messfehler.
Ein Atommodell symbolisiert die Teilchenphysik

Als Astronom hat man es meist recht einfach, wenn es um die Entdeckung neuer Dinge geht. Ein Stern ist entweder da oder nicht, ein Asteroid lässt sich auf einer Fotografie als Lichtpunkt erkennen oder nicht. In der Praxis kann es zwar ein wenig kompliziert werden, aber dass man etwas entdeckt hat, ist meistens unstrittig.

Die moderne Physik hat es dagegen schwerer. Wenn man mit großen Beschleunigern auf die Suche nach neuen Teilchen geht, dann muss man nicht nur enorme technische Probleme lösen und komplizierte mathematische Theorien aufstellen, sondern kann sich am Ende nicht einmal sicher sein, ob man das gefunden haben, was man sucht.

Das liegt in der Natur der Sache: So gut wie alle der neuen und exotischen Teilchen, die in den Beschleunigern erzeugt werden, sind nicht stabil. Sie zerfallen nach wenigen Bruchteilen einer Sekunde in die normalen Bestandteile der Materie. In den Detektoren findet man also nicht das, was man eigentlich sucht, sondern nur das, was davon übrig bleibt. Sofern es überhaupt irgendwann einmal vorhanden war – denn in den Beschleunigern werden natürlich auch jede Menge schon bekannte Teilchen erzeugt.

Das Problem liegt darin, dass man nicht exakt vorhersagen kann, welche Teilchen in den Beschleunigern entstehen werden und auf welche Weise sie zerfallen. Man kann nur Wahrscheinlichkeiten dafür angeben. Die Zerfallsprodukte können von einem noch unbekannten Teilchen stammen – oder aber von einem längst bekannten, welches nur zufällig so aussieht wie das, was man bei einer neuen Entdeckung erwarten würde. Genau hier vertrauen die Wissenschaftler auf die berühmte Standardabweichung:

Standardabweichung

Die Standardabweichung σ einer Zufallsvariablen X berechnet sich aus der Quadratwurzel der so genannten Varianz von X, die von der zufälligen Abweichung eines Messwerts der Variable von ihrem eigentlich erwarteten Wert abhängt.

Bei einem Experiment kann man vorab berechnen, wie viele bekannte Teilchen bei den Kollisionen entstehen werden und auf welche Art und Weise sie zerfallen. Das vergleicht man mit den tatsächlich gemessenen Zerfallsprodukten. Sollte das Experiment keinerlei neue Teilchen erzeugen, dann müssten die erwarteten Werte mit den Messwerten im Wesentlichen übereinstimmen; alle Abweichungen wären nur zufällige statistische Schwankungen. Wenn aber ein neues Teilchen im Spiel ist, müssen die Abweichungen irgendwann so groß werden, dass sie durch reinen Zufall nicht mehr erklärt werden können. Diese Grenze zwischen Zufall und Entdeckung zieht die Standardabweichung.

Dabei ist man durchaus sehr streng. 1994 war man beispielsweise auf der Suche nach dem Top-Quark. Bei den Experimenten im Beschleuniger konnte man zwölf Zerfallsereignisse beobachten, deren Ursprung das Top-Quark hätte sein können – oder aber sie stammten von bekannten Teilchen. Auch das war möglich, aber dann hätte man mit nur knapp sechs solcher Ereignisse gerechnet. War der Unterschied nun also Zufall oder ein Hinweis auf die Existenz des Top-Quarks?

Dann kam der Auftritt der Standardabweichung: Sie beschreibt, wie stark Messwerte auf Grund statistischer Schwankungen um den erwarteten Wert gestreut sind. 68,3 Prozent aller Datenpunkte liegen genau eine Standardabweichung links oder rechts vom Mittelwert. 95,4 Prozent streuen zwei Standardabweichung um den Mittelwert, und 99,7 Prozent findet man höchstens drei Standardabweichung vom Mittelwert entfernt. Bei der Suche nach dem Top-Quark hatte man in etwa diesen Wert erreicht; die Wahrscheinlichkeit, per Zufall zwölf anstatt der erwarteten sechs Ereignisse gemessen zu haben, lag also bei nur knapp 0,3 Prozent. Mit 99,7 Prozent Sicherheit hatte man also wirklich ein neues Teilchen entdeckt! Klingt gut, aber noch nicht gut genug. Gefordert ist in der Physik meistens eine Sicherheit von 99,99994 Prozent (was fünf Standardabweichungen entspricht). Um das für das Top-Quark zu erreichen, musste man noch ein weiteres Jahr lang Daten sammeln.

So einfach wie früher ist es in der heutigen Naturwissenschaft also leider schon lange nicht mehr. Moderne Entdecker müssen sich zwar nicht mehr durch unwirtliche Dschungel oder Wüsten quälen – dafür sollten sie aber ausreichend Ahnung von Mathematik haben.

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