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Warkus' Welt: Hat Gott eine Ursache?

Keine Wirkung ohne Ursache - dieses Prinzip gilt nicht nur für die verärgerte Chefin oder das weinende Kind, sondern auch für Zitronen. Bei Gott und der Zahl "1" wird es allerdings schwierig, erklärt unser Kolumnist Matthias Warkus.
Dominosteine

Im Alltag, aber auch in Wissenschaft und Politik geht es ständig um Ursachen und Wirkungen. Die Chefin ist böse, das Kind ist fröhlich, die Katze nervös – woran liegt das? Ein Löffel Salz löst sich in Wasser auf, bestimmte Planetenbahnen zeigen Störungen – warum? Die Wirtschaft brummt oder schwächelt, in der einen oder anderen Ecke des Landes gehen frustrierte Menschen massenhaft auf die Straße – was ist die Ursache? Man möchte das vielleicht aus Neugier wissen, vor allem aber, um bestimmte Phänomene in Zukunft erklären, vorhersagen oder beherrschen zu können. Damit die Chefin zum Beispiel möglichst selten böse, das Kind meistens fröhlich und die Katze niemals nervös ist.

Dabei unterscheiden wir im Alltag zuweilen verschiedene Arten von Ursachen – "richtige" Ursachen und bloße Anlässe. Wenn ich meine Chefin anrufe, um ihr zu sagen, dass ich leider eine Viertelstunde zu spät ins Meeting kommen werde, und sie mich übergangslos aufs Schlimmste zusammenfaltet, mag mein Anruf nur der Anlass gewesen sein. Eine Ursache war vielleicht, dass ich bei den letzten Meetings schon ausnahmslos zu spät war; eine andere, dass vorher bereits andere Kollegen ebenfalls ihre Verspätung angekündigt haben. Es kann also mehrere Ursachen für dieselbe Wirkung geben; aber mindestens eine braucht es schon. Wir können verallgemeinern: Von zum Beispiel "Keine Katze springt grundlos auf und jagt fauchend quer durchs Zimmer" zu: "keine Wirkung ohne Ursache".

Wobei: Ist das nicht etwas witzlos? Im Wort "Wirkung" steckt ja schon drin, dass da etwas bewirkt wurde, und bewirken heißt, dass es auch etwas geben muss, das wirkt. "Keine Wirkung ohne Ursache" ist ein Satz, der nichts Neues sagt. "Nichts ohne Ursache" ist schon eher interessant. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn nichts ohne Ursache ist, hat alles mindestens eine Ursache. Das trifft dann natürlich nicht nur auf die fauchende Katze und den Wutausbruch der Chefin zu, sondern auf buchstäblich alles. Doch was ist "alles"? Hat eine Zitrone eine Ursache? Und wie sieht es mit Australien aus, oder mit der Zahl "1"? Hat Gott (so es ihn gibt) eine Ursache?

Das Vier-Ursachen-Schema

Auf Aristoteles geht ein Schema zurück, das nicht bloß Ursache (beziehungsweise Anlass) und Wirkung kennt, sondern gleich vier Arten von Ursachen. Wenn wir uns beispielhaft vorstellen, dass jemand Teig in kleine Tannenbaumnudeln umwandelt, indem er ihn in einer Nudelmaschine durch eine tannenbaumförmige Matrize hindurchkurbelt, können wir daran die vier Ursachen aufzeigen:

Die materielle Ursache (causa materialis) ist ein Material, ein Substrat, das verändert oder bewegt wird; in diesem Fall ist das der Nudelteig. Die formale Ursache (causa formalis) ist die Gestalt, die der Veränderung zu Grunde liegt; also die Tannenbaumform, wie sie in der Matrize vorliegt. Die Wirkursache (causa efficiens) ist etwas anderes, was mit dem veränderten oder bewegten Gegenstand interagiert, um die Veränderung oder Bewegung auszulösen; also die Person, die die Kurbel dreht. Die Zweckursache (causa finalis) ist der Zweck der ganzen Veranstaltung – beispielsweise der Wunsch, Tannenbaumnudeln zu kochen oder sie aufzubewahren (zum Beispiel zum Verschenken, immerhin ist bald Weihnachten).

Damit kann man nun tatsächlich die Ursachen einer Zitrone beschreiben. Die materielle Ursache wäre dann das Gewebe aus Pflanzenzellen, die formale Ursache der Bauplan einer Zitrusfrucht. Als Wirkursache könnte man die Person betrachten, die den Zitronenbaum pflanzt und pflegt, und als Zweckursache käme zum Beispiel in Frage, dass die betreffende Person irgendwann gerne einen Whisky Sour mit sehr frischen Zutaten zubereiten möchte.

Bei der Zahl 1 oder Gott wird es schon schwieriger, und wer aufmerksam gelesen hat, wird bemerkt haben, dass das Vier-Ursachen-Schema unterstellt, dass das, was da verursacht wird, immer die Veränderung oder Bewegung von etwas Materiellem ist. Ich weiß nicht, ob Gott unter diese Beschreibung passt, aber zumindest die Zahl 1 fällt ganz klar heraus. Sie ist durch nichts verursacht.

Ist es also so, dass jede Wirkung – also alles, was Ursachen hat –, immer eine Veränderung oder Bewegung eines materiellen Gegenstands ist? Was meinen Sie?

Viele heute tätige Philosophinnen und Philosophen würden diese Frage bejahen, aber längst nicht alle; das Thema ist alles andere als ausdiskutiert. Es handelt sich hier um eine genuin philosophische Frage: Sie ist so allgemein gefasst, dass sie sich nicht weiter verallgemeinern lässt, und sie lässt sich nicht durch Experimente oder durch Rechnen beantworten. Um Fragen dieser Art wird es in dieser philosophischen Kolumne immer wieder gehen, und ich freue mich darauf, Sie, liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle in Zukunft öfter begrüßen zu dürfen.

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