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Placeboeffekt: Kann Daith Piercing Migräne lindern?

Eine Masche aus den USA wird zum Hype: Daith Piercings gegen Migräne. Hilft es? Migräneforscher Markus Dahlem erklärt, dass die Antwort nicht so einfach ist, wie man es Betroffenen weismachen will.
Frau erhält Piercing ins Ohr

In einem Wissenschaftsblog über Migräneforschung gibt es zu Daith Piercings auf den ersten Blick nicht viel zu sagen. Vermuten kann man zwar viel, doch letztlich wissen wir nicht, ob Daith Piercing gegen Migräne hilft. Es gibt keine Forschung dazu. Genauso wenig wissen wir, ob es gegen Migräne hilft, wenn man sich den großen Zeh bricht. Könnte schon sein. Jeder reagiert individuell. Man müsste also jeweils eine Studie durchführen.

Eins weiß man vorher: Bei jeder klinischen Studie gibt es den Placeboeffekt, und der ist komplex. Beispielsweise beeinflusst die Darreichungsform einer Therapie die Wirkung. Eine große Tablette wirkt besser als eine kleine, eine Kapsel wirkt besser als die große Tablette, eine Spritze besser als die Kapsel, ein chirurgischer Eingriff besser als die Spritze. Je höher die Symbolkraft, desto besser. Daith Piercings oder Zehenbrechen stehen damit relativ hoch im Kurs.

Plausibilität für therapeutische Anwendung?

Um eine neue therapeutische Methode auszuprobieren, müsste deren Wirkung (über den Placeboeffekt hinaus) zunächst auch plausibel erscheinen. Das heißt, es müssten sich ausreichend Anhaltspunkte für eine eigenständige Wirkung finden lassen. Das gilt für Daith Piercing ebenso wie für das Brechen eines Zehs als angebliches Mittel gegen Migräne. Schließlich gibt es noch hunderte andere Möglichkeiten, sich etwas anzutun, und die Verzweiflung der Betroffenen ist hoch genug, um vieles davon auszuprobieren. Was spricht also für welchen Versuch?

Markus Dahlem

Das Daith Piercing wird nahe einer Stelle in der Ohrmuschel gestochen, die auch zur Akupunktur gegen Migräne verwendet wird. Im Gegensatz zum Daith Piercing ist Akupunktur eine Methode, von der wir auf Grund vieler Studien einiges wissen. Nämlich, dass Akupunktur gegen Migräne nur mit geringer Evidenz wirkt und dass außerdem beliebige andere Stellen mit gleichem Erfolg gestochen werden können. Somit beruht wahrscheinlich alles auf dem Placeboeffekt.

Trotzdem – oder gerade weil der Ort unwichtig scheint, das Daith Piercing sitzt nämlich auch nicht exakt an den Akupunkturpunkten – mag ein Vergleich angebracht erscheinen. Nadeln und Ohren kommen immerhin beide Male vor. Das Durchstechen beim Piercing könnte demnach eine Art Dauerakupunktur sein, auch wenn Akupunkteure jetzt sicher gern Einwände erheben würden. Ob in der Migränetherapie Akupunktur überhaupt angewandt werden soll oder diese Methode wegen ihrer geringen Evidenz besser nicht in Betracht gezogen wird, ist noch mal eine andere Frage. Doch schauen wir zunächst, ob sich solche Vergleiche (er)finden lassen, so dass man sich mit ähnlicher Plausibilität auch einen großen Zeh brechen lassen kann.

Der große Zeh befindet sich laut Reflexzonentherapie an einer Stelle, von der aus man auf das Gehirn einwirken kann. Für eine Reflexzonentherapie bei Migräne fehlt allerdings noch ein Wirksamkeitsnachweis. Das wird uns (wie viele andere) jedoch jetzt nicht abhalten. Schmücken wir es zu einer richtigen Geschichte aus. Man muss ja nicht immer auf Trends aus den USA warten. Vielleicht nutzen wir die Gate-Control-Theorie, um zu erklären, dass Schmerz von anderen Sinneseindrücken unterdrückt werden kann. Zudem verweisen wir darauf, dass der gebrochene Zeh eine Art Dauerfußreflexzonenmassage darstellt. Wir veranstalten bundesweite Zehbrechpartys™ und erklären das Ganze lässig per Handyvideo, gefilmt nachts auf der Autobahn während der Rückfahrt von diesen Partys.

Mit genügend Aufmerksamkeit dieser Art ließen sich sicher höchst erstaunliche Placeboergebnisse erzielen. Ein Hype, der die Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft dann idealerweise zu einer Stellungnahme zwingt, die wir postwendend als pharmalobbyistisch verunglimpfen. Jedem Kritiker bieten wir zudem an, zehn seiner Patienten den großen Zeh zu brechen, mit nur einer Bitte: dass diese Patienten frei darüber berichten dürfen. Niemand der Fachleute geht darauf ein? Alle Pharmalobby!!!!!! – man gewinnt immer.

Den Placeboeffekt nutzen

Warum auch nicht? Sollte man nicht wirklich den Placeboeffekt vollumfänglich ausnutzen? Immerhin gilt Akupunktur gegen Migräne in der leitlinienbasierten Medizin auch als Behandlungsoption! Und das allein, weil die Wirkung in der Placebogruppe in der Regel größer ist als bei unbehandelten Patienten in einer so genannten Wartelistengruppe. Für mich klingt es ja auch durchaus plausibel, dass es eben nicht reicht, sich nur in ein übervolles Akupunktur- oder Piercingstudio zu setzen und auf die Behandlung zu warten oder eben darauf, dass man sich versehentlich den großen Zeh bricht. Man muss es schon auch tun.

Kann man vielleicht irgendwie abschätzen, ob es sich für einen persönlich lohnt? Ein Schmerzspezialist in den USA schlägt in seinem Blog vor, es wie beim Autokauf zu halten. Er rät vor einem Daith Piercing quasi zu einer Probefahrt:

… just like a brand new car, you can try it before you can buy it. What I mean by that is you can visit an acupuncturist and see if needles in certain parts of your cartilage provide some relief. If you find that it works, maybe it’s worth considering a permanent piercing.

Mit dem Rat, "wenn du merkst, dass Akupunktur hilft, ist es vielleicht wert, über ein permanentes Piercing nachzudenken", selektiert der Schmerzspezialist (gewollt oder ungewollt) die Menschen, die besonders anfällig für den Placeboeffekt bei Akupunktur sind.

Die gleiche Diskussion hatten wir schon im Beitrag "Botox-Test vor operativem Eingriff selektiert Placebogruppe". Das Nervengift Botox, das seit fünf Jahren für die Behandlung chronischer Migräne zugelassen ist – ohne dass man genau weiß, wie es wirkt –, wird als Probefahrt für eine viel weitreichendere, chirurgische Behandlungsform vorgeschlagen (die so genannte migraine trigger site deactivation surgery, kurz MTSDS).

Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang daran, dass die Darreichungsform die Wirkung beeinflusst. Von der Tablette zur Kapsel zur Spritze zum chirurgischen Eingriff wird der Placeboeffekt immer größer. Wenn nun Menschen, die schon bei der "Probefahrt" gut auf eine einfachere Form ansprechen, selektiert werden für eine nächste Darreichungsform mit höherer Symbolkraft, eskaliert das leicht. Placeboansprechraten mit weit über 60 Prozent sind dann möglich. Das Problem: Die Wirkung verpufft bei den allermeisten sehr schnell auch wieder.

Akupunktur am Ohr | Das Daith Piercing wird nahe einem vermeintlichen Akupunkturpunkt durchgeführt – aber gibt es einen Zusammenhang?

Die Frage ist deswegen immer, was am Ende solch einer Kaskade steht. Eine Behandlungsform, die bestimmte Gesichtsmuskeln chirurgisch entfernt, die also ein massiver und vor allem irreversibler Eingriff ist, erscheint kaum gerechtfertigt. Auch Piercing kann gerade im Bereich des Ohrknorpels zu bösen Entzündungen durch bakterielle Infektion führen. Diskutiert werden Maßnahmen dieser Art in Fachkreisen höchstens, um einen Teufelskreis bei chronischer Migräne zu durchbrechen. Die schnell verpuffende Wirkung der Placebobehandlung muss dann zwingend durch nachhaltig greifende Maßnahmen ergänzt werden.

Ohne Arzt geht es nicht

Mit einem seriösen und lizenzierten Piercer, der die Hygiene- und Sicherheitsstandards einhält und der viel Erfahrung hat, kann man das Risiko sicher abwägen – zumal viele Menschen überall in der Welt Piercings allein als Köperschmuck schön finden und deswegen tragen. Denn genau hier liegt ein Problem: Die rechtliche Situation muss beachtet werden. Ein Piercer darf als Künstler piercen und den Körper verschönern. Wer kein Arzt ist, bedarf hingegen einer gesonderten Erlaubnis für jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Linderung von Krankheiten. Das gilt auch, wenn die Tätigkeit beispielsweise im Auftrag einer Studie ausgeübt wird. Deswegen kann auch kein Arzt das oben beschriebene Angebot eines Piercers annehmen. Man würde sich strafbar machen. Mal abgesehen davon, dass man eine Placebokontrolle braucht und zehn Patienten eine viel zu kleine Stichprobe wären. Sinnvoller erscheint mir eine so genannte retrospektive Studie.

Die Frage, ob Daith Piercing Migräne lindern kann, wird also leider nicht auf einer der bundesweiten Piercingpartys® beantwortet werden – Gleiches gilt natürlich für Zehbrechpartys™ –, sondern nur durch eine Studie, die alle Fallstricke einbezieht. Dabei muss man abschätzen, ob die Methode überhaupt plausibel erscheint. Daith Piercing hat mittlerweile mehr als genug Aufmerksamkeit bekommen, so dass man das allein deswegen bejahen muss. Wer schon immer mit einem Ohrpiercing geliebäugelt hat, dem muss man auch heute nicht anraten, seine Hoffnungen auf eine therapeutische Wirkung völlig fahren zu lassen. Allen, die Ohrpiercing als Schmuck nicht erwägen würden, ist mit einer (leitlinientreuen) Akupunktur gegen Migräne besser geholfen. Was man auch in Betracht zieht, sich zuvor ärztlichen Rat einzuholen, ist immer richtig.

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