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Warkus' Welt: Mit Sprache zur Wahrheit

Unser Kolumnist Matthias Warkus erklärt, wie Philosophen von einfachen Sprachregeln zur Wahrheit kommen.
Eine Gruppe von Porträt-Silhouetten in freundlichen, bunten Farben mit großen, völlig leeren Sprechblasen darüber. Das perfekte Sinnbild für Twitter.

Was ist ein Satz? Haben Sie das als Kind im Deutschunterricht auch diskutiert? Dann haben Sie vermutlich gelernt, dass Punkt, Ausrufezeichen oder Fragezeichen einen Satz beenden. Später brachte man Ihnen bei, dass jeder Satz ein Verb enthalten muss. Sie stutzten, blätterten in Ihren Büchern und fanden schnell so etwas wie "Wirklich?", "Ja." oder "Huch!" – Sätze, die eigentlich gar keine Sätze sein durften. Also, was denn nun? (Noch so ein Satz ohne Verb.)

Viele von Ihnen werden eine Lösung für dieses Problem kennen: Sätze ohne Verb kann man zu Verkürzungen, zu Ellipsen erklären. Als Antwort auf die Frage "Ist dir schlecht?" steht "Ja" dann lediglich verkürzend für den ganzen Satz: "Ja, mir ist schlecht."

Da ich keine sprachwissenschaftliche Kolumne schreibe, möchte ich nicht groß vertiefen, wie Lehrbücher das Problem lösen (zum Beispiel über Satzäquivalente oder satzwertige Ausdrücke), sondern lediglich verdeutlichen, was bei der Lösung mit den Ellipsen passiert: Man behauptet, dass in Sätzen ohne Verb eigentlich doch irgendwo eines ist. Es steht nur nicht da. In Wirklichkeit haben alle Sätze ein Verb, ein Prädikat; oder zumindest kann man sie alle so umbauen, dass sie eins haben.

Wenn irgendwo gesagt wird, etwas sei "eigentlich" oder "in Wirklichkeit" anders, als wir es im Alltag praktizieren, schnuppern feine Nasen philosophische Überlegungen. In der Tat: Die Vorstellung, dass alle Sätze ein Prädikat haben – und die vermutlich genauso alt ist wie das geordnete Nachdenken über Sprache überhaupt –, hat auch die Philosophie beeinflusst, und zwar in einer verschärften Form. Es haben nicht nur alle Sätze ein Prädikat, sondern außerdem auch noch eine einheitliche Form, zum Beispiel Subjekt-Prädikat-Objekt: "Waltraud feiert Weihnachten."

Jeder Satz eine Behauptung

Man kann nun noch weiter standardisieren, wenn man den vielen Verben unterstellt, dass sie alle letztlich etwas ausdrücken, was man bei entsprechender Umformulierung auch mit Hilfe von "ist" oder "ist nicht" sagen kann: "Peter ist groß." "Waltraud ist Weihnachten feiernd." "Die Katze ist im Wohnzimmer schlafend." Alle Sätze haben – wenn wir nur über Subjekte im Singular sprechen – die Form "S ist P" oder "S ist nicht P". Fachsprachlich gesagt: Alle Sätze sind auf Behauptungen zurückzuführen.

Damit haben wir uns Sprache so zurechtgelegt, dass stets etwas (S) etwas anderes (P) zugesprochen ("S ist P") oder abgesprochen wird ("S ist nicht P"). Teilt man nun die gängige Vorstellung, dass die Welt aus Gegenständen besteht, die Eigenschaften haben können oder eben nicht, dann hat damit die Sprache dieselbe Struktur wie die Welt!

Unter anderem ist damit ungeheuer elegant definierbar, was Wahrheit ist: Wahr ist eine Behauptung der "S-ist-P"-Form genau dann, wenn erstens S einen Gegenstand G bedeutet, zweitens P eine Eigenschaft E bedeutet und drittens G E aufweist. Bei der "S-ist-nicht-P"-Form funktioniert es genauso, nur dass der Gegenstand die Eigenschaft eben nicht haben darf. Wahrheit ist die Übereinstimmung, die Korrespondenz von Sprache und Welt, weswegen man hier auch von einer "Korrespondenztheorie der Wahrheit" spricht.

Die verbleibenden Probleme gehören zu jener Sorte, die Führungskräfte gerne als "bloße Fragen der Umsetzung" verharmlosen. Welche Gegenstände und Eigenschaften gibt es überhaupt, und welche Wörter bezeichnen sie? Wie stellt man fest, welche Eigenschaften welcher Gegenstand hat? Eigentlich müsste sich das doch alles lösen lassen! (In der Tat meinen das viele Philosophinnen und Philosophen bis heute, auch wenn die Idee nicht mehr so populär ist wie vor 90 Jahren.)

Wenn Sie dieser Frage in einer Bar nachgehen, Durst bekommen und "Ein Bier, bitte!" rufen, könnten Sie auf die Idee kommen, zu überlegen, welchem Gegenstand dadurch welche Eigenschaft zugesprochen wird – und sich auf einmal wieder fühlen wie damals im Deutschunterricht. Wenn Sie nun in Gedanken geraten, nicht merken, dass das Bier kommt, und das Glas erst annehmen, wenn der Kellner schimpft, dann sagen Sie vielleicht "Entschuldigung!" – das macht es erst recht schwierig.

Dennoch bleibt festzuhalten: Es lohnt sich zu erwägen, ob die alte Menschheitsfrage "Was ist Wahrheit?" nicht dadurch in den Griff zu bekommen ist, dass wir sehr genau darüber nachdenken, wie wir sprechen und was wir damit meinen.

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