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Ökonomie: Muss Wachstum sein?

Ziel unserer Weltwirtschaft sollte es sein, Stabilität, Krisenfestigkeit und Wohlergehen zu stärken – nicht ein wachsendes Bruttosozialprodukt, findet Peter Victor.
Kohlekraftwerk
"Wirtschaftswachstum" als primäres politisches Ziel in Frage zu stellen, gilt weithin als Ketzerei. Nichtsdestoweniger gelangen immer mehr Wissenschaftler, Politiker und Bürger zu der Erkenntnis, dass unser Planet ein ständig fortschreitendes weltweites Wirtschaftswachstum gar nicht auf Dauer unterhalten kann. Sogar der Ökonom Robert Solow – Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1987 für seine Arbeiten über das Wirtschaftswachstum – meinte 2008, die USA und Europa würden womöglich bald herausfinden, dass "sich fortschreitendes Wachstum entweder als zu zerstörerisch für die Umwelt auswirken würde und die Abhängigkeit von begrenzten natürlichen Rohstoffen erdrückend – oder aber, dass die steigende Produktivität zunehmend in Mußestunden angelegt werden wird". Die Vorstellung einer statischen oder gar schrumpfenden Wirtschaft gewinnt in den Industrieländern demzufolge an Akzeptanz.

Gründe für die nachlassende Überzeugungskraft des Wirtschaftswachstum als einem primären politischen Ziel sind unschwer zu finden. Die Handlungsweise der Menschheit hat die von unserer Erde gesetzten sicheren Rahmenbedingungen schon gesprengt; davon zeugen der Klimawandel, die Überdüngung, das Artensterben und gleich sechs weitere weltweit spürbare Umweltparameter, die außer Kontrolle zu geraten drohen. Die exzessive Belastung der Erde lässt sich auf den massiv ansteigenden Verbrauch von Materialien, fossilen Brennstoffen und Biomasse durch die Industrieländer zurückführen. Der "Durchsatz" der Menschheit – die schiere Menge der Stoffe, inklusive aller Kraftstoffe, welche die Weltwirtschaft am Laufen hält – ist im 20. Jahrhundert um 800 Prozent gestiegen und hat der Umwelt entsprechend höhere Abfallmengen zugeführt. Im selben Zeitraum ist die Weltbevölkerung von 1,6 auf mehr als 6 Milliarden gewachsen, wodurch die Menschheit immer mehr Gebieten des Globus ihren Stempel aufdrückt. All das wurde und wird durch ein nie da gewesenes Wirtschaftswachstum gefördert – ein Wachstum, dessen Nutzen und Kosten sich weltweit ausgesprochen ungleich verteilen.

Die Kernfrage ist nun, ob – und wie – die Wirtschaft sich innerhalb der natürlichen Beschränkungen unserer Erde verändern soll, um dabei gleichzeitig 9 Milliarden Menschen zu ernähren, die Mitte dieses Jahrhunderts erwartungsgemäß mit uns leben werden.

Die Grenzen des grünen Wachstums

Eine Option wäre, dass die Industrienationen zwar weiter wirtschaftliches Wachstum anstreben, den Impakt auf die Umwelt aber zu begrenzen versuchen. Das Szenario baut darauf, Wirtschaftswachstum schnell und erfolgreich vom Material- und Energieverbrauch entkoppeln zu können. Dieser Ansatz eines "grünen Wachstums" wird derzeit von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) favorisiert. Er könnte jedoch vom "Rebound-Effekt" konterkariert werden: Effizienzsteigernde Maßnahmen führen oft zu Veränderungen, die dann ihrerseits die umwelt- und ressourcenschonenden Vorteile beschränken oder gar überkompensieren. Erstmals hat das der Ökonom W. S. Jevons erkannt: Jede Verbesserung der Dampfmaschinentechnologie wird von einem Anstieg der insgesamt verfeuerten Kohlemenge begleitet werden, konstatierte er im Jahr 1865.

Bis 1910 waren die besten Dampfmaschinen in Großbritannien rund 36-mal effizienter als jene des Jahres 1760, gleichzeitig aber stieg der Kohleverbrauch dramatisch durch die fast 2000-fach verstärkte Nutzung der Dampfkraft. In vielen Technologiefeldern ist ein Rebound-Effekt von 50 Prozent nicht ungewöhnlich.

Wie viel kostet das Glück?

Eine Alternative wäre es, gezielt das Wachstum in weniger Ressourcen verschlingenden Bereichen der Wirtschaft zu fördern, etwa dem Dienstleistungssektor. Mit dieser Strategie könnte man sich etwas Zeit verschaffen – aber nur dann, wenn ressourcenintensive Produktionsprozesse mitsamt ihrer Umweltbelastung nicht einfach in andere Länder verlagert werden, was in den letzten Jahren zur Regel wurde.

Die dritte Option wäre eine Beschränkung des Wachstums. Der Kampf gegen den Klimawandel macht den Reiz der Strategie deutlich: Um Treibhausgasemissionen (THGE) in 50 Jahren um 80 Prozent zu reduzieren, muss eine Volkswirtschaft, die ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) jährlich um 3 Prozent steigert, ihre Emissionensintensität (in Tonnen TGHE pro BIP-relevantem Gut) um erstaunliche 6 Prozent pro Jahr zurückfahren. Sogar eine nicht wachsende Wirtschaft müsste sich jedes Jahr um sehr ambitionierte 3,2 Prozent beschränken.

Dass wir den globalen Impakt durch Wachstumsbeschränkungen in den reichen Nationen bekämpfen sollten, wird durch Reihe weiterer Überlegungen untermauert. So häufen sich zum einen Belege dafür, dass zwischen "Wachstum" und "Glück" kein Zusammenhang besteht. In den letzten Jahrzehnten hat die wachsende Ungleichheit zudem eine ganze Bandbreite von Problemen verursacht – von einer schlechten Gesundheitsversorgung der Bevölkerung bis hin zu sozialen Unruhen. Auch die Aussichten auf echte Verbesserungen in den Entwicklungsländern dürften sich wahrscheinlich verschlechtern, wenn die reichen Nationen immer größere Bereiche unseres Ökosystems in Beschlag nehmen.

Es widerspricht der Überzeugung vieler Regierungen und internationaler Konzerne, Wirtschaftswachstum als politisches Primärziel zu beerdigen. Viele Nationen haben auf die weltweite Finanzkrise mit verzweifelten Bemühungen reagiert, ihr Wirtschaftswachstum beizubehalten. Der Sturz der Wachstumsidee von ihrem Sockel wird aber vorstellbar, wenn man sich vor Augen führt, wie kurzlebig ihre Herrschaft über die politischen Zirkel noch ist. Überhaupt erst seit den 1940er Jahren wird das BIP regelmäßig von Regierungen erhoben. Dabei war die Messung ursprünglich nur eingesetzt worden, um ganz spezifische Ziele zu erreichen, etwa die Beschäftigungsquote zu erhöhen. Erst in den 1950er Jahren wurde Wirtschaftswachstum an sich dann zur politischen Priorität.

Wachsen oder Wohlstand?

Ökonomen und andere Sozialwissenschaftler sind jetzt aufgerufen, funktionierende Wirtschaftssysteme zu skizzieren, in denen das Wachstum eine Nebenrolle spielt und stattdessen vor allem Stabilität, Krisenfestigkeit und allgemeines Wohlergehen angepeilt werden – all das überdies im Rahmen der begrenzten Ressourcen und Umweltbelastbarkeit. Der Umweltökonom Herman Daly, der schon seit einigen Jahrzehnten statische Wirtschaftsmodelle untersucht und propagiert, hat sinnvolle Kernpunkte zur Begrenzung des Materialverbrauchs formuliert. Erneuerbare Rohstoffe sollten zum Beispiel nie schneller geerntet werden, als sie sich regenerieren; nicht erneuerbare Güter sollten dagegen nie in größerem Umfang abgebaut und eingesetzt werden, als erneuerbarer Ersatz für sie entsteht. Schließlich dürfe die Menge der freigesetzten Abfälle die Aufnahmekapazität der Umwelt nicht übersteigen. Dem wäre noch ein weiterer Punkt hinzuzufügen: Der Schutz von Land und Wasser, um die wir Menschen mit anderen Lebewesen wettstreiten. Schutzgebiete und Grünstreifen tragen neben anderen Konzepten heute schon erfolgreich dazu bei, diesen schädlichen Wettbewerb erfolgreich einzuschränken.

Echter Fortschritt? | Das Bruttoinlandsprodukt (Gross domestic product, GDP) der USA ist über die letzten Jahrzehnte angestiegen. Der GPI (Genuine Progress Indicator), in den auch die Kosten von Umweltraubbau, Ressourcenverbrauch und soziale Faktoren einfließen, sank dagegen.
Daly hat zusammen mit dem Theologen John Cobb eine alternative Methode vorgeschlagen, um den makroökonomische Erfolg zu berechnen: einen Index für nachhaltigen wirtschaftlichen Wohlstand (Index for Sustainable Economic Welfare, ISEW). In ihn fließen auch die Kosten von Umweltraubbau, Ressourcenverbrauch und weitere Faktoren ein. Berechnungen zeigen, dass er sich bei vielen Staaten stark vom Pro-Kopf-BIP unterscheidet. Eine Studie der Umweltgruppe Friends of the Earth belegt eine besonders deutliche Kluft zwischen dem BIP der USA und einem weiteren, ISEW-ähnlichen Wirtschaftsindikator, dem GPI (Genuine Progress Indicator): Während der BIP pro Person seit 1970 anstieg, sank der GPI sogar.

Kürzere Jahresarbeitszeit

Diese Erkenntnisse werden durch eine Beobachtung des russisch-amerikanischen Ökonomen Simon Kuznets gestützt, dem Koarchitekten der "volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung", aus der heraus das BIP-System entstand. Schon 1934 konstatierte er: "Der Wohlstand eines Staates kann kaum durch eine Berechnung des nationalen Einkommens ermittelt werden." Im Jahr 2009 erhielt die Entwicklung eines Systems, das auf breiterer Indikatorenbasis den BIP ergänzen oder ersetzen könnte, dann deutlichen Auftrieb – viele Politiker wurden aufmerksam, als die Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen sich dem Thema widmeten.

Der reale Ausgang des Verzichts von Industrieländern auf wirtschaftliches Wachstum und die daraus resultierenden Konsequenzen werden von mehreren verschiedenen Modellen simuliert. Ich selbst habe ein recht konventionelles Modell der kanadischen Wirtschaft entwickelt und ermittelt, unter welchen Umständen auch ohne Wirtschaftswachstum die Beschäftigungsrate erhöht, Armut und Treibhausgasemissionen reduziert und die Staatsverschuldung gesenkt werden könnte. Entscheidend wäre dafür eine kürzere Jahresarbeitszeit pro Kopf, wodurch die Beschäftigung auf größere Teile der arbeitenden Bevölkerung verteilt werden könnte. Der Nutzen steigender Produktivität flösse dabei in ein Plus an Freizeit aller Beschäftigten, anstatt das BIP zu erhöhen. Durchgerechnet am Beispiel Kanada – unter der Annahme einer moderat ansteigenden Produktivität – könnte eine Vollbeschäftigung durch die Reduktion der Jahresarbeitszeit um 15 Prozent, also auf 1500 Stunden im Jahr, erreicht werden. Die kanadische Jahresarbeitszeit wäre dann übrigens immer noch länger als in manchen europäischen Ländern: Im Jahr 2008 arbeitete der durchschnittliche Arbeitnehmer etwa in Deutschland 1430 Stunden.

Andere Bestandteile eines attraktiven Niedrig- oder Nullwachstumsszenarios wären gezieltere und besser ausgestattete Programme zur Armutsbekämpfung, eine weder wachsende noch schrumpfende Bevölkerung (was bereits in vielen Industrieländern zutrifft und von anderen erreicht werden könnte) sowie ein strenger reglementiertes Umwelt- und Ressourcenmanagement, wie es die Daly-Prinzipien fordern. Meine eigene Studie hat weitere, ähnliche Untersuchungen ermutigt, die derzeit in Neuseeland, Finnland, Österreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten vorgeschlagen sind oder durchgeführt werden – Ergebnisse sind wohl im Lauf des nächsten Jahres zu erwarten.

Allerdings: Wirtschaftliches Nullwachstum ist womöglich nicht einmal genug. Manche Wissenschaftler beschäftigen sich ernsthaft mit "Negativwachstum": dem Schrumpfen von hoch entwickelten Ökonomien mit dem Ziel, sie auf der Grundlage der Daly-Prinzipien mit den nachlassenden Ressourcen und ökologischen Beschränkungen auszubalancieren und gleichzeitig die Lebensqualität zu erhöhen. Das Ausmaß der notwendigen Eingriffe in alle Aspekte des Wirtschaftsgeschehens wäre weit dramatischer, die Rückwirkungen auf die Gesellschaft weit reichender. Nichtsdestoweniger: Ein Rückgang des Verbrauchs von Rohstoffen, fossilen Energieträgern, Wasser und Landflächen ist eindeutig notwendig – und somit ist ein Schrumpfen der Ökonomie womöglich unausweichlich.

Konsequenzen des Verzichts

Ob das System des Kapitalismus überhaupt mit einem Null- oder Negativwachstum vereinbar ist, wird allerdings kontrovers diskutiert. Eine schrumpfende Wirtschaft birgt die ernst zu nehmende Gefahr, profitorientierte Unternehmen und ihre Shareholder abzuschrecken, wodurch die Kreditwürdigkeit sinkt, das Finanzsystem unter Druck gerät und die Handelsumsätze schließlich einbrechen: Das gesamte kapitalistisch ausgerichtete System könnte nun in eine Abwärtsspirale geraten und zusammenbrechen. Ob das tatsächlich eintritt, ist umstritten. Solow etwa sieht keinen Grund dafür, dass der Kapitalismus ein langsames oder gar nicht mehr ansteigendes Wachstum nicht überdauern kann.

Andere sind skeptischer, besonders im Bezug auf ein Überleben des Kapitalismus in Zeiten des Negativwachstums. Man könnte an dieser Stelle einwerfen, dass auch in schrumpfenden Ökonomien manche Branchen aufblühen – etwa die Produzenten von erneuerbaren Energien. Solange Wirtschaftswachstum aber derart prominent auf der Agenda der weltweiten Politik bleibt, sind die Handlungsmöglichkeiten der Gesellschaft beschränkt. Die Umsetzung von dringend notwendigen Maßnahmen in der Umweltgesetzgebung wird zum Beispiel politisch unnötig erschwert, wenn zunächst ihr positiver Einfluss auf das Wachstum belegt werden muss. Das muss sich ändern. An der Basis der Industriegesellschaft investieren viele Menschen in ihrem Alltag bereits enorme Energien in Projekte, die im weitesten Sinne "Wohlergehen" vor Ort direkt fördern: etwa indem sie lokal produzierte Nahrungsmittel, Kleidung oder andere Güter bevorzugen. An diesen Trend könnten an Wachstum gewöhnte Organsisationen aller Art gezwungen sein sich anzupassen – ob im Finanz- und Politikbereich, der Gesetzgebung, dem Bildungswesen oder der Religion und dem Sozialbereich. Darin dürfte die größte Herausforderung liegen – in welcher Weise diese Anpassung erfolgen könnte, ist völlig offen.

Angesichts der bedrohlichen ökologische Zukunft, die der Menschheit bevorsteht, müssen die Industrienationen dringend an einem Weg arbeiten, auf dem ein faires Miteinander auf unserem Planeten angestrebt wird – und auf dem niemand mehr als seinen gerechten Anteil vom globalen Verteilungsspielraum vereinnahmt. Auch Entwicklungsländer werden sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten anpassen müssen. Wenn mit Umsicht gehandelt wird, kann vielleicht das Ziel eines erfüllten und befriedigenderen Lebens für alle erreicht werden.

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