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Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn es keine Religion gäbe?

Religion ist ein allgegenwärtiges Thema. Sie wird für vieles herangezogen, verantwortlich gemacht oder als Lösung vorgeschlagen. Vince Ebert wagt ein Gedankenspiel …
Der Kabarettist Vince Ebert

Unterhält man sich mit tiefreligiösen Menschen, so sind viele der Meinung, dass es vor allem der Glaube ist, der uns zu moralischen Wesen macht. Demnach würde durch den Wegfall jeglicher Religion unter den Menschen das reinste Chaos ausbrechen.

Die Wissenschaft ist da ganz anderer Ansicht. Vor einigen Jahren haben Verhaltensbiologen beobachtet, dass Vampirfledermäuse ihre Nahrung – das Blut von Rindern – mit ihren hungrigen Artgenossen teilen, indem sie es wieder hervorwürgen. Interessanterweise teilen sie aber nur mit denen, die ihnen vorher ebenfalls etwas abgegeben haben. Diejenigen Tiere, die fair teilen, verhungern nicht. Die unfairen dagegen bleiben blutleer auf der Strecke. Da man nicht davon ausgehen kann, dass die kleinen Blutsauger irgendeiner Art von Religion angehören, bleibt nur eine einzige Schlussfolgerung: Fairness und Moral sind eindeutig biologisch und ganz und gar nicht religiös angelegt.

Ist das nicht unglaublich? Ein kleines, unscheinbares Fledertier befolgt intuitiv genau dieselbe Regel, über die sich Immanuel Kant in der Epoche der Aufklärung 20 Jahre lang den Kopf zerbrochen hat, den kategorischen Imperativ: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Oder etwas verständlicher für unsere geflederten Freunde: "Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Genauso wenig wie die Fledermaus benötigte Kant irgendeine Art von Glaube, um faires, moralisches Verhalten zu erklären.

Beide bewiesen auf unterschiedliche Art und Weise, dass es ein großer Irrtum ist zu meinen, wir bräuchten ein religiöses Wertesystem, um gute Menschen zu sein. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Vampire und Aufklärer gleichermaßen von der Kirche verfolgt wurden.

Anscheinend gibt es in uns ein tief verwurzeltes Gefühl für Gerechtigkeit (Ausnahmen bestätigen die Regel). Ich muss weder das Grundgesetz noch die Bibel oder den Koran gelesen haben, muss nicht an Gott, an Buddha oder Mohammed glauben, um zu wissen, dass Mord und Diebstahl Verbrechen sind.

"Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Vampire und Aufklärer gleichermaßen von der Kirche verfolgt wurden"

Glaubt man Evolutionsbiologen, so entsteht moralisches Verhalten ganz automatisch immer dann, wenn Lebewesen in einem engen sozialen Gefüge leben, in dem sie voneinander abhängig sind. Fehlt dagegen dieses Gefüge, gibt es auch keinen Grund, besonders fair miteinander umzugehen. Wer einmal eine Veranstaltung von Immobilienmaklern besucht hat, weiß, was gemeint ist. Deswegen schubsen Pinguine auch ihre eigenen Kollegen ins Wasser, um zu testen, ob im Wasser Seelöwen lauern. Gottesanbeterinnen fressen die Männchen während der Paarung sogar auf. Eine Praktik, die selbst Alice Schwarzer nicht gutheißt.

Auch Neurowissenschaftler beschäftigen sich mit dem Thema Moral. Marc Hauser und Antonio Damasio von der University of Southern California in Los Angeles erforschen seit Jahren, ob die Moral einen festen Platz in unserem Denkorgan hat. Dazu haben sie Menschen mit Schäden in einer bestimmten Region des Gehirns, dem Stirnlappen, untersucht. Diese sollten sich zu einer ganzen Reihe von Dilemmas äußern. Erste Auswertungen legen nahe: In einigen Fällen haben hirnverletzte Patienten tatsächlich einen anderen Moralinstinkt. So zögern sie nicht, einen Mann vor einen Zug zu stoßen, um fünf Gleisarbeiter zu retten. Sie sehen nur den guten Zweck, nicht aber das schreckliche Mittel. Doch Vorsicht. Der Umkehrschluss gilt natürlich nicht. Nicht jeder rücksichtslose Mensch hat automatisch auch einen Dachschaden. Sonst wären die Psychiatrien voll mit Scheidungsanwälten, Hedgefonds-Managern und Spielerfrauen.

Die Untersuchungen der unterschiedlichsten Forschergruppen zeigen eindeutig: Überall auf der Welt, in allen Kulturen, teilen Menschen die gleichen Werte wie Fairness, Verantwortung oder Dankbarkeit. Das menschliche Gewissen braucht also keinen ethischen, geschweige denn religiösen Überbau. Würde die Religion die Menschen besser machen, so wie viele Gläubige meinen, dann müsste es logischerweise in tiefreligiösen Gesellschaften weniger Verbrechen geben. Häufig ist jedoch das Gegenteil der Fall: Immer da, wo Religionen stark vertreten sind, ist es mit Demokratie und Menschenrechten nicht zum Besten bestellt. Denn es sind oft gerade die tiefgläubigen Menschen, die etwas zu viel Moral haben. In dem Fall nennt man das dann "Doppelmoral".

Und wer weiß, vielleicht würde die komplette Abkehr von Religionen die Menschen ja sogar ein bisschen fairer, gerechter und kooperativer machen …

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