Direkt zum Inhalt

Vince Ebert extrapoliert: Was wäre, wenn wir keine Mitläufer wären?

Aus der gefeierten Schwarmintelligenz wird schnell Schwarmdummheit. Kabarettist Vince Ebert erklärt, warum die Intelligenz des Einzelnen in der Menge signifikant sinken kann.
Der Kabarettist Vince Ebert

Wieso kaufen wir I-Phones, trinken Coca-Cola, trennen Müll oder bleiben als Fußgänger fünf quälende Minuten lang an einer roten Ampel stehen, wenn es die anderen um uns herum auch tun? Und warum laufen wir plötzlich mit los, sobald einer oder zwei der Fußgänger einfach die Straße überqueren? Viele von uns sind davon überzeugt, sie treffen derlei Entscheidungen eigenständig und aus freien Stücken. Doch das stimmt nicht ganz. In Wahrheit ist es mit unserem individuellen, selbstständigen Handeln gar nicht so weit her.

Zu diesem Phänomen führte der Sozialpsychologe Solomon Asch in den 1950er Jahren ein legendäres Experiment durch: Er legte einer Gruppe von Freiwilligen Karten mit unterschiedlich langen Linien vor und bat sie, diejenigen auszuwählen, auf denen die Linien gleich lang waren. Der Gag an der Sache: Die meisten Probanden waren in das Experiment eingeweiht und gaben absichtlich allesamt die gleiche und eindeutig falsche Antwort. Asch wollte wissen, ob sich die echten Versuchsteilnehmer davon beeinflussen ließen. Das Ergebnis war verstörend: Nach leichtem Zögern schlossen sich rund 80 Prozent der untersuchten Personen der Mehrheitsmeinung an und stimmten der falschen Antwort zu. Je größer die Gruppengröße der Leute mit den falschen Antworten war, umso deutlicher war das Ergebnis. Oft jedoch reichte schon ein einziger "Komplize", der widersprach, und die Testperson bestand auf ihrer richtigen Meinung.

Im Jahr 2005 entwickelte der Neurowissenschaftler Gregory Berns von der Emory University in Atlanta das Asch-Experiment noch weiter. Mit Hilfe der Magnetresonanztomografie überwachte er die Gehirnaktivität seiner Probanden und stellte etwas noch Absurderes fest: Immer, wenn sich die Teilnehmer entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung der Mehrheit anschlossen, war die höchste Aktivität im intraparietalen Sulcus zu verzeichnen – einem Bereich, der für das räumliche Vorstellungsvermögen zuständig ist. Die Teilnehmer hatten sich folglich nicht nur bewusst für eine falsche Antwort entschieden, sie nahmen nach dieser Entscheidung die Länge der Linien auch tatsächlich anders wahr! Ein Phänomen, das vielen Frauen bekannt vorkommt, wenn Männer untereinander von "20 Zentimetern" sprechen.

Offenbar ist der Drang nach Konformität bei uns Menschen so stark ausgeprägt, dass normale, intelligente und aufgeschlossene Menschen unter bestimmten Bedingungen glauben, dass eine blaue Wand grün ist oder dass zwei plus zwei fünf ergibt. Deswegen kommen wahrscheinlich in Firmenmeetings oder politischen Ausschüssen oftmals so absurde Entscheidungen zu Stande.

Heutzutage wird dieses unkritische Mitläufertum als menschliche Schwäche abgetan. Tatsächlich aber ist diese Eigenschaft tief in unserem evolutionären Erbe verwurzelt. Die menschliche Spezies hat bis heute überlebt, weil unsere Urahnen darauf konditioniert waren, anhand einfacher Regeln Entscheidungen zu treffen. Und eine zentrale Entscheidung war: "Tue das, was die anderen auch tun, dann liegst du nicht ganz falsch." Irgendwie logisch. Denn in der Steinzeit war der Einzelgänger ein gefundenes Fressen für den Säbelzahntiger.

Für unsere Urahnen war es schlicht und einfach profitabler und oftmals sogar überlebensnotwendig, ohne groß nachzudenken gemeinsam in die falsche Richtung zu marschieren, als allein in die richtige. Kein Wunder, dass wir auch heute noch Gruppenharmonie über fast alles stellen. Weil die Vorteile der Gruppenzugehörigkeit die Nachteile des Alleinseins lange Zeit ausstachen, schließen wir uns auch heute noch im Zweifelsfall der Mehrheitsmeinung an.

Wir spenden Blut, weil es unsere Nachbarn auch tun, hören die gleiche Musik wie unsere Freunde oder gehen denselben Verführern und Dampfplauderern auf den Leim. Gruppendenken und kollektive Gefühle funktionieren in die positive genauso wie in die negative Richtung.

Die Gründe davon mögen im Einzelfall individuell, vielfältig und komplex sein. Doch das aschsche Konformitätsexperiment hat auf plakative Weise gezeigt, wie viel Steinzeitmensch auch nach Tausenden von Jahren Zivilisation in uns steckt. Die Angst vor dem Säbelzahntiger steckt uns immer noch in den Knochen. Und das, obwohl das Tier schon vor einer halben Ewigkeit ausgestorben ist.

Wenn Sie mehr über den Wissenschaftskabarettisten und Bestsellerautor wissen möchten, besuchen Sie ihn auf seiner Homepage oder auf Facebook.

Schreiben Sie uns!

1 Beitrag anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.