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Freistetters Formelwelt: Wer kann Helios' Herde zählen?

In der Mathematik dauert die Lösungssuche manchmal etwas länger, 350 Jahre beispielsweise beim berühmten "Satz von Fermat". Oder zwei Jahrtausende, wie bei dieser simplen Aufgabe.
Wie viele Rinder hat Helios' Herde?

1773 entdeckte der deutsche Dichter Gotthold Ephraim Lessing in einem alten Manuskript einen Brief, den Archimedes an Eratosthenes von Kyrene geschrieben haben soll. Darin findet sich ein in 44 Strophen abgefasstes Gedicht, das ein mathematisches Problem beschreibt. Gesucht ist die Anzahl der Rinder in der Herde des Sonnengottes Helios, die auf der Insel Sizilien weidet. In dieser Herde gibt es Bullen und Kühe, und sie können weiß, schwarz, gelb oder gefleckt sein. Der Anteil der weißen Bullen entspricht beispielsweise der Hälfte plus einem Drittel der schwarzen Bullen plus der gesamten Menge aller gelben Tiere. Und so weiter – aus all den Angaben über die Rinder in dem Gedicht lässt sich folgendes System von Gleichungen aufstellen:

Die vier Großbuchstaben W, X, Y, Z, stehen für die Menge der verschiedenfarbigen Bullen, die vier Kleinbuchstaben w, x, y, z für die entsprechend gefärbten Kühe. Insgesamt finden sich neun Gleichungen, die mathematische Zusammenhänge zwischen den Mengen angeben. Es sollte also eigentlich nicht schwer sein, eine Lösung zu finden.

Der Weg zu einer Antwort wurde aber erst 1880 entdeckt, und das lag vor allem an den beiden Gleichungen am Schluss. Darin wird gefordert, dass die Summe der weißen und schwarzen Bullen eine quadratische Zahl sein soll und die Summe der gefleckten und gelben Bullen eine so genannte Dreieckszahl. Das ist eine Zahl, die der Summe aller Zahlen von 1 bis zu einer bestimmten Obergrenze entspricht. 15 ist zum Beispiel eine Dreieckszahl, da es die Summe von 1+2+3+4+5 ist. Aber auch 10 (=1+2+3+4) oder 21 (=1+2+3+4+5+6) sind Dreieckszahlen.

Die Problemstellung endet mit der Aufforderung: "Wenn du diese auch noch berechnet hast, oh Freund, und du die Gesamtzahl der Rinder gefunden hast, dann juble als ein Eroberer, weil du dir selbst bewiesen hast, dass du ein sehr begabter Rechner bist."

Der Weg zum Jubel der "Eroberer" war allerdings schwierig, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist das Problem nicht eindeutig formuliert: Es gibt mehr unbekannte Größen als Gleichungen, und deswegen gibt es auch keine eindeutige Lösung, sondern unendlich viele. Man bräuchte noch eine zusätzliche Bedingung, um die Anzahl der Lösungsmöglichkeiten einzuschränken. Zweitens hat man es bei der Suche nach einer Antwort mit enorm großen Zahlen zu tun.

Als der Mathematiker August Amthor 1880 einen Lösungsweg entdeckte, zeigte sich, dass selbst die kleinste der unendlich vielen Antworten auf Archimedes' Frage schon eine Zahl mit 206 545 Stellen ist. 7,76·10206544 Rinder müssen mindestens auf Sizilien grasen, um alle Bedingungen der Gleichungen erfüllen zu können. Diese Zahl ist so groß, dass sie erst 1965 mit der Hilfe von Computern komplett ausgeschrieben und dargestellt werden konnte.

Selbst für die Herde eines Sonnengottes ist das wohl ein wenig übertrieben, vor allem wenn man berücksichtigt, dass so eine große Menge an Rindern nicht nur die ganze Insel Sizilien, sondern das gesamte beobachtbare Universum ausfüllen würde.

Was genau der Zweck der archimedischen Aufgabe sein sollte, ist unklar. Mit den mathematischen Methoden der Antike ließ sich das Problem sicherlich nicht lösen – vielleicht war es ja einfach nur ein Scherz. Aber es demonstriert auf jeden Fall eines sehr eindrucksvoll: Ein Problem ohne Antwort lässt den Mathematikern keine Ruhe. Auch wenn es mehr als 2000 Jahre dauert und am Ende nur eine absurde Antwort über die Viehherde eines Sonnengottes liefert – solange die Lösung nicht gefunden ist, wird danach gesucht!

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