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Kompaktlexikon der Biologie: Biologische Wurzeln im Sexualverhalten des Menschen

ESSAY

Professor Manfred Dzieyk, PH Karlsruhe

Biologische Wurzeln im Sexualverhalten des Menschen

Bei allem Variationsreichtum des sozialen und speziell des sexuellen Verhaltens hat der Mensch keine absolute Sonderstellung gegenüber dem Tierreich. Es finden sich vielfältige Erscheinungen, die typisch primatenhaft, z.T. sogar typisch für Säugetiere sind. Erkenntnisse vor allem der Primatologie und der Humanethologie, aber auch der Vergleich mit anderen Völkern und der Blick in die Kultur- und Sittengeschichte (auch ins Alte und Neue Testament) zeigen so viele Übereinstimmungen auch zwischen den Menschen, dass eine sinnvolle Erklärung nur die Gemeinsamkeit durch die Evolution ist, denn eine Parallelentwicklung in so vielen Details ist höchst unwahrscheinlich. Für Biologen ist außerdem unzweifelhaft, dass auch das Verhalten einer Art einschließlich dem, was gelernt werden kann, eine genetische Grundlage hat. Ebenso sicher ist, dass auch unsere Verwandten, die Tier-Primaten (vor allem die Großen Menschenaffen), nicht mehr starr instinktgebunden, sondern recht flexibel in ihrem Verhalten sind.

Nur Weniges ist dem Menschen eigen

Das Sexualverhalten als ein wichtiger Teil des Sozialverhaltens ist bei jedem Menschen individuell. Es gibt also nicht das Sexualverhalten. Nur der Mensch kann bewusst in der Bandbreite zwischen völliger sexueller Enthaltsamkeit und permanenter Ausschweifung wählen. Der Mensch kann als einzige Art bei seinen sexuellen Handlungen, wenigstens seit jüngster Zeit, die Fortpflanzung völlig ausschließen und allein aus Liebe und/oder Lustgewinn genießen oder es lassen. Zweifellos hat der Mensch in der Emotionalität und der Rationalität gegenüber den Menschenaffen eine ungleich größere Tiefe, zumindest die Möglichkeit dazu, im Positiven wie im Negativen, wobei viele Handlungen, vor allem in der Jugend und Adoleszenz, doch eher triebhaft und emotional motiviert sind, aber auch später oft erst nachträglich rational begründet werden.

Nur der Mensch entwickelt ein Schamgefühl und eine Intimsphäre, spätestens ab der Pubertät, wenn sie nicht vorher schon anerzogen wurden. Das gilt für alle Völker. Ein Blick in die abendländische Kulturgeschichte, auf andere Religionen und insbesondere auf nackt gehende Völker (z.B. Buschleute, Nubier, Pygmäen, Amazonas-Indianer, Papuas), deren Kultur noch nicht von der westlichen Zivilisation überformt ist, zeigt aber deutlich, dass der Inhalt des Schamgefühls außerordentlich verschieden sein kann und dass er jeweils gelernt wird. Auch dann ist er noch wandelbar, also nicht „natürlich“ im Sinne von angeboren. Dabei ist allen Völkern gemeinsam, dass das Präsentieren der Vulva in der Öffentlichkeit tabuiert ist, denn es hat Aufforderungscharakter. Das ist aber nicht identisch mit dem Nacktgehen bei Völkern oder dem ungezwungenen Umgang mit Nacktheit in der Familie und in der Freikörperkultur: Die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane sind beim Menschen im Stehen und Sitzen nicht sichtbar, weil sie mit der Evolution des Aufrechtgehens durch die Kippung des Beckens nach vorn weiter bauchwärts zwischen die Beine gerückt sind. Dagegen ist die weibliche After-Genitalregion bei den beiden Schimpansenarten unbehaart und immer sichtbar, im Östrus sogar auffällig gerötet und geschwollen und dient als sexuelles Signal. Desmond Morris war wohl der erste, der die Hypothese aufgestellt hat, dass sich beim Menschen dafür im Gesicht das Lippenrot und die weiblichen Brüste entwickelt haben, die nur beim Menschen ab der Pubertä, insbesondere durch das zusätzlich eingelagerte Fettgewebe, immer vorgewölbt bleiben (bei den Affen nur während der Laktation). Das Gesäß behält aber doch seine erotische Wirkung.

Männliche Genitalpräsentation ist beim Menschen ebenfalls tabuiert, findet sich aber bei Statuen analog zu dem Vorkommen bei Affen als Demonstration der Stärke und als Drohgebärde.

Noch eine Besonderheit des Menschen ist die Familiarisierung des Mannes. So kommt zur Mutter-Kind-Beziehung die Fürsorge des Vaters, vor allem in der Nahrungsbeschaffung und auch in der Erziehung für seine leiblichen Kinder hinzu, die es so bei den Affen (außer beim Springtamarin) nicht gibt. Sie dürfte daher mit der Bildung der Kernfamilie erst in der Stammesentwicklung des Menschen entstanden sein und ist aber daher, weil noch relativ jung, anscheinend genetisch noch nicht so fest verankert.

Gemeinsamkeiten mit den Tier-Primaten

Die allermeisten Grundmuster im Verhalten aber haben wir mit den Tier-Primaten gemeinsam, insbesondere mit den Großen Menschenaffen. Primaten sind ausgesprochene Augentiere, wenngleich bei ihnen der Geruch, auch der spezifische der Geschlechter, noch eine große Rolle spielt. Daher sind die sexuellen ìSchlüsselreize in Form der sekundären Geschlechtsmerkmale, der Mimik und Gestik vorwiegend optischer Natur. Dass auch wir dafür angeborene ìAuslösemechanismen haben können wir täglich, auch in der Werbung, erleben.

Die sexuelle Aktivität geht bei den Tier-Primaten von beiden Geschlechtern aus, und viele Kulturen zeigen, wie bei uns in jüngster Zeit, dass das auch für den Menschen gilt, wenn es nicht beim weiblichen Geschlecht durch Erziehung schon früh unterdrückt wird.

Die Werbung ist bei den Schimpansen wenig aufwendig und beim Gorilla wegen seiner Sozialform nicht notwendig. Das typische Imponiergehabe von Gorilla- und Schimpansenmännchen gegenüber männlichen Konkurrenten und den Weibchen findet bei nicht wenigen Männern abhängig vom Alter und sozialen Status seine Entsprechungen und kann ähnlich „primitiv“ sein (Kraftmeierei, Lärm durch Aufheulenlassen des Motors u. Ä.). Der Mensch hat aber die Möglichkeit sehr kultivierter Werbung: durch Hervorheben der Attraktivität durch Kleidung (einschließlich Täuschung), durch Symbole des sozialen Status, Sprache, Kunst und Musik.

Dass dann die Auswahl in Wirklichkeit vom weiblichen Geschlecht getroffen wird hat einen tiefen biologischen Sinn: das Tierweibchen wie die Frau haben eine wesentlich höhere physische und emotionale Investition zu leisten, wenn es zum Nachwuchs kommt, und das heißt für sie, sehr darauf zu achten, wer sich als Vater der Kinder mit seinen Genen und/oder sozialen Stellung gut oder besser eignet. Dem dient das Locken wie das „Sprödigkeitsverhalten“. Die Wahlmöglichkeit der Frau zwischen „guten Genen“ und guter Versorgung kann durchaus zu Konflikten führen. Vor allem die Großen Menschenaffen handeln wie der Mensch auch nicht rein instinktiv, sondern zeigen auch in ihrem sexuellen Verhalten individuelle Bevorzugungen, Abneigungen und Ablehnungen gegenüber bestimmten Artgenossen.

Die Primaten sind die Tiergruppe mit dem umfangreichsten und am längsten andauernden Lernverhalten, die Kindheit der Großen Menschenaffen dauert um die acht Jahre und die soziale Reife erlangen sie erst wenige Jahre nach Abschluss der Pubertät. Pubertierende Weibchen und Männchen und die Erwachsenen unterscheiden sich in ihrem Verhalten und entsprechen in erstaunlicher Weise bis in Details dem menschlichen Rollenklischee, das wir mit „typisch männlich“ und „typisch weiblich“ bezeichnen. Selbst das Paarungsverhalten und die erfolgreiche Aufzucht des Kindes müssen gelernt werden.

Vieles in dem differenzierten und komplexen sozialen und sexuellen Verhalten der Tier-Primaten kann man nur mit menschlichen Begriffen beschreiben. Sie haben dementsprechende Fähigkeiten zur gegenseitigen Verständigung, Zuneigung, Missachtung, Rivalität, Eifersucht und Aggressivität, sie können schmollen usw. Es gibt so genanntes moralanaloges Verhalten wie auch Übertretungen des Gruppen-Codex nach dem Motto „sich nur nicht erwischen lassen“, so z.B. heimliche, weil nicht erlaubte Paarungen, Strafen, wenn ein Gruppenmitglied gegen Regeln verstoßen hat und taktisches Verhalten mit Austricksen, scheinbarem Nicht-Hinschauen, Verstellen.

Die Paarung selbst dauert bei den ausgesprochen promisken Schimpansenarten nur immer relativ kurz, meist ohne Vor- und Nachspiel. Das bietet bei promisken Arten wegen der Rivalitäten einen Vorteil im Fortpflanzungserfolg, denn absichtliche Störungen, auch durch Weibchen und Kinder, sind häufig. Das verbreitete Phänomen, dass beim Menschen vor allem jüngere Männer meist schnell zum Koitus kommen wollen und dann oft sehr schnell den Orgasmus erleben (können), ist daher wohl ein Erbe aus der Evolution, kann aber durch Lernen verändert werden.

Menschenaffen paaren sich nicht nur wie die Tieraffen durch Aufreiten des Männchens, sondern auch in Gesicht-zu-Gesicht-Stellungen. Für die Bonobos ist dies sogar die Regel neben anderen spielerischen Stellungen, wobei sie sich auch anschauen, mit den Händen anfassen und Laute von sich geben können.

Während für viele Säugetiere die Fortpflanzungszeiten durch asexuelle Zeiten unterbrochen werden, meist saisonabhängig, gilt das für Affen in Gefangenschaft zumindest nicht. Diese sexuelle Daueraktivität haben sie mit dem Menschen gemeinsam. Außerdem haben sie in der Gefangenschaft auch mehr Zeit und Muße, weil Nahrungssuche und anstrengende Wanderungen wegfallen. Aber auch wir Menschen haben wenigstens bei uns heute ein wesentlich leichteres Leben als unsere Vorfahren und daher mehr Zeit auch für erotisch-sexuelles Handeln im weitesten Sinne.

Vor allem die Menschenaffen zeigen Sexualverhalten vom Handreichen über Küssen (mit vorgestreckten Lippen, bei Bonobos gibt es auch Zungenküsse), Umarmungen bis zur Paarung eingebettet in soziale Funktionen. Bei den Schimpansen und noch stärker bei den Bonobos dient Sexualverhalten auch der Begrüßung und dem Aggressionsabbau, somit dem Einander-Wohlgewogen-Sein und zur Befriedung in der ständig lebhaften, oft streitenden Gruppe. Oral-genitale, auch gleichgeschlechtliche Betätigungen, sowohl bei Männchen wie häufiger noch bei Weibchen durch Anfassen und Aneinanderreiben der Genitalregion, sind vor allem bei Bonobos häufig. Schimpansenweibchen bieten Kopulationen im Tauschgeschäft an um Vorteile zu erlangen (Schutz, Fleisch für sich und ihr Kind), Bonobomännchen kommen manchmal zu einem Weibchen mit einem Geschenk als Lohn für eine Kopulation. Weibchen der Schimpansenarten untersuchen bisweilen ihre Scheide, frustrierte Männchen hat man bei der Selbstbefriedigung und beim Spiel mit dem Penis beim Urinieren beobachtet.

Schlussfolgerung

Kaum eine menschliche Verhaltensstruktur scheint also unseren Verwandten fremd. Auch Aggression gegenüber Artgenossen, Vergewaltigung, Frauenraub, Kindstötung, ja Krieg und Mord im Sinne vorsätzlicher Tötung gibt es bei Tier- wie Menschenaffen. Selbst Paarungen mit artfremden Weibchen sind vereinzelt sogar bei einigen Säugetierarten außerhalb der Primaten, auch in freier Wildbahn, beobachtet worden. So ist unzweifelhaft, dass auch wir Menschen genetische Grundmuster für alle diese Verhaltensweisen haben und sie deshalb so verbreitet sind. So muss sich der Mensch in seiner jeweiligen Kultur Regeln und Normen geben, damit er sich möglichst human gegenüber seinen Mitmenschen verhält, und Erziehung und Strafandrohung sollen gewährleisten, dass diese Regeln eingehalten werden. Dabei ist der Erfolg in jeder menschlichen Gesellschaft immer begrenzt gewesen und wird es bleiben, weil die biologischen Wurzeln immer wieder durchschlagen. Aus dem Dargelegten ist es zumindest fragwürdig, wenn nicht falsch, wenn in der jeweiligen Gesellschaft nicht tolerierte Verhaltensweisen oder solches Verhalten einschließlich der Sozial- und Eheform bei anderen Völkern einfach als „unnatürlich“ oder „widernatürlich“ bezeichnet werden.

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  • Die Autoren

Redaktion:
Dipl.-Biol. Elke Brechner (Projektleitung)
Dr. Barbara Dinkelaker
Dr. Daniel Dreesmann

Wissenschaftliche Fachberater:
Professor Dr. Helmut König, Institut für Mikrobiologie und Weinforschung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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