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Kompaktlexikon der Biologie: Rotatoria

Rotatoria, Rotifera, Rädertiere, früher zu den Nemathelminthes und heute zu den Syndermata gestelltes Taxon mit etwa 2000 mikroskopisch kleinen (bis maximal 3 mm langen), meist farblos durchsichtig erscheinenden Arten von großem Formenreichtum, die in jeglicher Art von Feuchtbiotopen (vorwiegend im Süßwasser) anzutreffen sind. Namen gebendes Kennzeichen aller Rädertiere ist das Räderorgan (Corona) an ihrem Vorderende, ein Kranz langer Wimpern rund um das Mundfeld, der durch seinen metachronen Cilienschlag beim Betrachter den Eindruck eines sich drehenden Speichenrädchens hervorruft. Es dient vor allem dem Herbeistrudeln der Nahrung (Algen und Kleinplankton), bei frei schwimmenden Formen auch der Fortbewegung. Ursprünglich aus einem den Mund umgebenden Cilienfeld entstanden, hat dieses Organ innerhalb der Rädertiere eine sehr vielgestaltige Differenzierung erfahren. Es kann, besonders bei sessilen Formen, wie bei Floscularia und Stephanoceros (Abb. Mikroskopie), zu blütenblattähnlichen Lappen oder einer Krone aus steifen Flimmertentakeln ausgezogen sein, oder eine Filterreuse aus starren unbeweglichen Cilien bilden, wie bei Collotheca. Bei der in sauberen stehenden Gewässern auf Wasserpflanzen häufigen räuberischen Art Cupelopagis ist es zu einer komplizierten Klappfalle umgewandelt, mit der Wimpertiere und kleinere Rädertiere erbeutet werden.

Der meist sackförmige oder dorsoventral abgeplattete, bei manchen Arten auch wurmförmige und immer überaus formveränderliche Körper gliedert sich in den rückziehbaren Kopffortsatz mit dem Räderorgan, den bei manchen Arten derb gepanzerten und mit Dornen und Stacheln besetzten Rumpf und einen teleskopartig einziehbaren Fuß, der in zwei Zehen mit Klebdrüsen endet. Die einschichtige Epidermis ist in der Kopfregion zellulär gegliedert, in Rumpf und Fuß hingegen ist sie syncytial. Der Rumpfpanzer (Lorica) mancher Arten entspricht nicht einer verdickten Cuticula, sondern ist ein intraepitheliales Endoskelett, das aus einzelnen Platten zu dichten Lamellen gepackter Faserstrukturen im Plasma des epidermalen Syncytiums besteht. Die Rumpfmuskulatur ist nicht als Muskelschlauch ausgebildet, sondern durchzieht den Körper in einzelnen syncytialen Ring- und Längssträngen, zwischen denen der Darmtrakt als gerades Rohr verläuft. Der fast endständige ventrale Mund führt über ein kurzes Schlundrohr in den muskulösen Pharynx, der, ausgestattet mit einem Kauapparat aus Chitinspangen und -zahnleisten, zu dem für die Rädertiere charakteristischen Kaumagen (Mastax) differenziert ist. An diesen schließt sich der geräumige bewimperte Mitteldarm an, in dessen Vorderende ein oder mehrere Paare von Verdauungsdrüsen einmünden. Der ebenfalls cilienbesetzte Enddarm führt über eine dorsal gelegene und rückenseitig am Fußansatz sich öffnende Kloake nach außen; in die Kloake münden auch die Ausführgänge der Gonaden und die Harnblase. Exkretionsorgane sind paarige Protonephridien. Das einfache Nervensystem besteht aus einem dorsalen Cerebralganglion und zwei von diesem ausgehenden ventrolateralen Marksträngen; zusätzlich sind je ein unpaares Mastax- und Fußganglion ausgebildet. Vom Cerebralganglion bzw. von den Marksträngen aus werden die Sinnesorgane innerviert, am Vorderende ein Paar einfacher Pigmentbecherocellen, zahlreiche Sinnescilien im Bereich des Räderorgans, unpaare fingerförmige Tastpapillen an Vorderende und Fuß und zuweilen ein Paar öhrchenförmiger dorsolateraler Sinnespapillen hinter dem Räderorgan. Entsprechend der geringen Größe fehlt ein Blutgefäßsystem. ( vgl. Abb. )

Die drei Taxa der R. unterscheiden sich hinsichtlich Fortpflanzung und Lebensraum. Die rein marin mit nur zwei Arten epizoisch auf Krebsen (Nebalia) lebenden Seisonida sind rein getrenntgeschlechtlich, haben paarige Gonaden und übertragen Spermatophoren. Bei den u.a. in feuchter Erde und Moosen vorkommenden Bdelloida sind bis jetzt keine Männchen bekannt; sie pflanzen sich wahrscheinlich ausschließlich parthenogenetisch fort. Ihre paarigen sackförmigen Ovarien sind wie das nur unpaare Ovar der Monogononta in einen zellulären Keim- und einen syncytialen Nähr(Dotter-)bezirk unterteilt. Die in Süßgewässern verbreiteten Monogononta zeichnen sich durch einen Wechsel von parthenogenetischer und bisexueller Fortpflanzung (Heterogonie) aus sowie durch einen auffälligen Geschlechtsdimorphismus. Ihre i.d.R.darmlosen und kurzlebigen Zwergmännchen sind um ein Vielfaches kleiner als die Weibchen; man trifft unter ihnen die mit nur 0,02 mm Größe kleinsten Metazoen überhaupt an. Sie entstehen nach einer Reihe parthenogenetischer (amiktischer) Generationen zur raschen Besiedlung günstiger Lebensstätten bei Verschlechterung der Lebensbedingungen, wenn, durch bislang unbekannte Stimuli ausgelöst, miktische Weibchen auftreten und nach vollständiger Meiose haploide Eier erzeugen. Aus unbefruchteten Eiern entwickeln sich Männchen, welche ihre Spermien durch die Epidermis miktischer Weibchen injizieren, wo sie dann zum Ovar wandern und die Eier befruchten. Diese werden zu Dauereiern, die ungünstige Lebensbedingungen überdauern können und aus denen unter günstigen Bedingungen wieder amiktische Weibchen schlüpfen, welche wiederum eine parthenogenetische Generation begründen. – Die Entwicklung erfolgt direkt ohne Larvenstadium und verläuft außerordentlich rasch. Bereits nach etwa fünf Stunden, am Ende der Furchungsperiode, wird mit ca. 1000 Zellen die endgültige Zellzahl der späteren Individuen erreicht (Zellkonstanz). Es folgt eine etwa 20stündige Differenzierungsphase, in der die Zellgrenzen verlorengehen und die syncytialen Organe und Gewebe angelegt werden. Viele Arten betreiben Brutpflege: sie tragen entweder die Embryonen in der Eihülle bis zum Schlüpfen mit sich oder sie sind vivipar.



Rotatoria: Organisationsschema eines Rädertieres, a Ventral-, b Seitenansicht. Da Darm, Ei Eizelle, Ep Epidermiswulst, Fd Fußdrüse, Fg Fußganglion, Ft Fußtaster, Fu Fuß, Ge Gehirn, Ha Harnblase, Kd Klebdrüse, Kl Kloake, lH linker Hauptnerv, Ma Magen, Md Magendrüse, Mg Mastaxganglion, Mu Mund, Mx Mastax mit Kauer, Nb Nährbezirk, Nk Nährkanal, Oe Ösophagus, Ov Ovar mit Keimlager, Pr Protonephridialsystem, Rä Räderorgan, Rü Rückentaster, St Seitentaster, Su Subcerebraldrüse, Ze Zehe

  • Die Autoren

Redaktion:
Dipl.-Biol. Elke Brechner (Projektleitung)
Dr. Barbara Dinkelaker
Dr. Daniel Dreesmann

Wissenschaftliche Fachberater:
Professor Dr. Helmut König, Institut für Mikrobiologie und Weinforschung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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