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Lexikon der Ernährung: Ess-Sucht

Ess-Sucht, 1) E binge eating disorder, (E binge eating = Essanfall), psychogene Essstörung, die durch wiederkehrende Essanfälle charakterisiert ist. Sie unterscheidet sich von der – oft gleichermaßen als Bulimie bezeichneten – Bulimia nervosa dadurch, dass die unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen (meist Erbrechen) bei der E. fehlen (vgl. Esstörungen, Essay). Die E. ist erstmals 1994 im DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) als eigenes Krankheitsbild mit den in der Tab. genannten Diagnosekriterien aufgenommen worden.
Aufgrund der fehlenden Kompensationsmechanismen sind Patienten mit E. häufig übergewichtig. Sie werden durchschnittlich früher übergewichtig und erreichen ein höheres Gewicht als Übergewichtige ohne Essstörungen. In der Allgemeinbevölkerung liegt die Häufigkeit bei bei 2–5 %, unter den Adipösen können jedoch 10–30 % betroffen sein. Auslösende Faktoren für einen Essanfall sind meist Verstimmung, Ärger, Frustration, Angst oder Langeweile.
Die Folgen der E. entsprechen denen der Adipositas, bestehen also im Wesentlichen in Herz-Kreislauferkrankungen, Skeletterkrankungen und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen und Gicht. Außerdem treten psychische Störungen und soziale Probleme bei Personen mit E. häufig auf. Vielfach liegt zudem eine Komorbidität mit anderen psychischen Störungen, z. B. depressiven Störungen (bis zu 50 % der Patienten) und Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeiten (v. a. Alkohol und Medikamente) vor.
Die Krankheitsentstehung ist noch nicht geklärt. In Bezug auf die depressiven Störungen ist noch unklar, ob diese eine Ursache oder Auswirkung der E. sind. Eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung stellt wahrscheinlich einen entscheidenden Faktor bei der Krankheitsentstehung dar. Patientinnen wurden oft überbehütet oder wuchsen in einer Atmosphäre emotionaler Armut auf. Wenn in der Kindheit viele Bedürfnisse mit Essen beantwortet werden, besteht die Gefahr, das Essen als Maßnahme zur Problemlösung und Konfliktbewältigung beibehalten wird, adäquate Methoden jedoch nicht erworben werden. Auch familiäre Interaktionsstrukturen (z. B. mangelnde Konfliktfähigkeit, Verleugnung von Problemen) können die Krankheitsentstehung unterstützen. Inwieweit gezügeltes Essverhalten (z. B. Diäten) als Auslöser für Essanfälle verantwortlich ist, ist noch nicht endgültig geklärt. Es kann die Essstörung jedoch verstärken.
In der Therapie sollte die Behandlung der Essstörung Vorrang vor der Gewichtsreduktion haben. Häufig wird die kognitive Verhaltenstherapie angewendet, die die Beobachtung und Änderung des (Ess)verhaltens zum Ziel hat. Auslösende Faktoren für die Essanfälle werden untersucht und gemieden bzw. der angemessene Umgang mit diesen Situationen gelernt. Außerdem werden adäquate Konfliktbewältigungsstrategien erarbeitet (s.a. verhaltensmodifizierende Beratung). Weiterhin wird die interpersonale Psychotherapie angewendet, mit dem Ziel, dass die Patientin dysfunktionale Interaktionsstile erkennt und aufgibt und sich alternative Interaktionsmuster für ein befriedigendes Zusammenleben mit anderen Menschen aneignet. Eine medikamentöse Therapie in Form von Antidepressiva kann die Behandlung bei Patienten mit depressiver Komorbidität unterstützen.
Die Ernährungsberatung sollte eine Gewichtskonstanz bzw. eine moderate Gewichtsreduktion durch eine Veränderung des Ernährung in Richtung der allgemeinen Empfehlungen für eine gesunde Ernährung als Behandlungsziel verfolgen. Gewichtsreduktionsprogramme sollten erst nach der Behandlung der Essstörung durchgeführt werden. Von strengen Diäten ist generell abzuraten, da sie die Essstörungsproblematik verstärken können.
2) E food addiction, bulimia, allgemein ein Essverhalten, bei dem Essen die missbräuchliche Funktion besitzt, unlösbar erscheinende Probleme zu bewältigen oder seelische Spannungen abzubauen bzw. zu mildern. Der Begriff der E. wird nicht einheitlich verwendet. Vielfach wird er noch als Synonym für Bulimia nervosa oder für Essstörung als solche verwendet (s. a. latente Essucht).

Ess-Sucht: (binge eating disorder). Tab. Diagnosekriterien.

Diagnosekriterien für die „Binge-Eating”-Störung nach DSM-IV
A. Wiederholte Episoden von „Fressanfällen” Eine Episode von „Fressanfällen” ist durch die beiden folgenden
     Kriterien charakterisiert:

       1.  Essen einer Nahrungsmenge in einem abgrenzbaren Zeitraum (z.B. in einem zweistündigen Zeitraum), die
            definitiv größer ist als die meisten Menschen in einem ähnlichen Zeitraum unter ähnlichen Umständen essen             würden.
       2. Ein Gefühl des Kontrollverlustes über das Essen während der Episode (z.B. ein Gefühl, dass man mit dem
            Essen nicht aufhören kann bzw. nicht kontrollieren kann, was und wieviel man isst).

B. Die Episoden von „Fressanfällen” treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf:

       1. wesentlich schneller essen als normal,
       2. essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl,
       3. essen großer Nahrungsmengen, wenn man sich körperlich nicht hungrig fühlt,
       4. alleine essen aus Verlegenheit über die Menge, die man isst,
       5. Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem übermäßigen Essen.

C. Es besteht ein deutliches Leiden wegen der „Fressanfälle”.
D. Die „Fressanfälle” treten im Durchschnitt an mindestens 2 Tagen in der Woche für 6 Monate auf.

    Beachte: Die Methode zur Bestimmung der Häufigkeit unterscheidet sich von der, die bei Bulimia nervosa
    benutzt wird; die zukünftige Forschung sollte thematisieren, ob die zu bevorzugende Methode für die Festlegung
    einer Häufigkeitsgrenze das Zählen der Tage darstellt, an denen die „Fressanfälle” auftreten oder das Zählen der
    Anzahl der Episoden von „Fressanfällen”.

E. Die „Fressanfälle” gehen nicht mit dem regelmäßigen Einsatz von unangemessenen kompensatorischen
    Verhaltens weisen einher (gegenregulatorische Maßnahmen), und sie treten nicht ausschließlich im Verlauf einer
    Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa auf.

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