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Lexikon der Ernährung: Überernährung

Überernährung, Hyperalimentation, E overeating, overnutrition, hyperphagia, hyperalimentation, im weiteren Sinn jede Energie- oder Nährstoffaufnahme, die den Bedarf an Energie oder einzelnen Nährstoffen übersteigt. Im engeren Sinn eine Energieaufnahme, die höher ist, als es dem Energiebedarf entspricht.
Ursachen: Normalerweise sind die den Appetit kontrollierenden Systeme (Appetitregulation) in der Lage, die Energieaufnahme dem Energiebedarf anzupassen. Das gilt sowohl für die z. T. sehr unterschiedlichen Energiemengen, die mit den täglichen Haupt- und Zwischenmahlzeiten aufgenommen werden als auch für die Energiemengen, die über längere Zeiträume konsumiert werden und oft erheblich von Tag zu Tag variieren.
Bei Ü. über einen längeren Zeitraum, verbunden mit einer entsprechenden Vergrößerung der Fettdepots steigen sowohl der Leptin- als auch der Insulinspiegel im Blut an. Bei unzureichender Energieaufnahme und Verminderung der Fettdepots nehmen die Leptinkonzentration und der Insulinspiegel dagegen ab. Leptin und Insulin gelangen nach dem Passieren der Blut-Hirn-Schranke zum Hypothalamus, wo sie an spezifische Rezeptoren binden. Von dort gehen Signale aus, die die Aktivität von Neurotransmittern modulieren, die ihrerseits auf die Energieaufnahme (und -abgabe) Einfluss nehmen. Bei abnehmenden Insulin- und Leptinkonzentrationen wird in hypothalamischen Neuronen vermehrt Neuropeptid Y (NPY) gebildet und sezerniert. Dadurch werden physiologische Prozesse aktiviert, die die Energieaufnahme stimulieren, die Energieabgabe senken (z. B. durch verminderte körperliche Aktivität) und die Energiebilanz langfristig wieder ausgleichen. Umgekehrt werden bei steigenden Insulin- und Leptinkonzentrationen (bei einer den Bedarf überschreitenden Energieaufnahme) hypothalamische Melanocortin-Peptide aktiviert, die zur Reduzierung der Energieaufnahme und zur Erhöhung der Energieabgabe führen. Damit wird langfristig eine ausgeglichene Energiebilanz gewährleistet und das Körpergewicht des Erwachsenen über längere Lebensphasen konstant gehalten.
Nicht selten sind diese Regelmechanismen gestört; Umweltbedingungen und psychosoziale Faktoren üben einen starken Einfluss aus und die kognitiven Kontrollen der Energieaufnahme können so schwach sein, dass die Energieaufnahme unkontrolliert den tatsächlichen Energiebedarf übertrifft.
Wenn die Umsetzung der von den hypothalamischen Leptin- und Insulinrezeptoren ausgehenden Signale gestört ist, kommt es zur Unterbrechung des beschriebenen Regelkreises und zur Ü. Monogenetische, nur einzelne Komponenten des Regelkreises betreffende Ausfälle sind bekannt aber selten. Viel häufiger nimmt man kombinierte Funktionsstörungen auf verschiedenen Ebenen und von verschiedenen Komponenten der Appetitregulation an. Ursächlich können dafür polygenetische Ausfälle oder Störungen, die mehrere Komponenten des Regelkreises zugleich betreffen, in Frage kommen. Zum großen Teil dürften aber biopsychosoziale Faktoren die Ursache der Ü. sein.
Verbereitung: Aus der Prävalenz des Übergewichtes (BMI 25–29,9 kg / m2) und der Adipositas (BMI > 30 kg / m2) ergeben sich deutliche Hinweise auf die Verbreitung der Ü. Die Prävalenz der Adipositas beträgt in Europa 15–20 %, die des Übergewichts liegt bei 50 % der Erwachsenen. Die Ü. als unmittelbare Ursache von Übergewicht und Adipositas ist also ein weit verbreitetes Phänomen. Die Prävalenz der Ü. ist eng mit den modernen Umwelt- und Lebensbedingungen in den ökonomisch entwickelten Ländern und Regionen verbunden. Die Mechanisierung und Automatisierung in der beruflichen Tätigkeit und im täglichen Leben und die zunehmend sitzende Lebensweise haben in den letzten Jahrzehnten zu einer deutlichen Senkung des Energiebedarfs (geringere körperliche Aktivität) geführt. Dem steht ein reichliches Angebot an schmackhaften, preiswerten, oft aber auch sehr energiereichen Lebensmitteln gegenüber, das bei ausreichender finanzieller Ausstattung der Verbraucher einen hohen Anreiz für eine den Energiebedarf übersteigende Ernährung schafft (Nahrungsüberangebot, s. a. Welternährungslage). Hinzu kommen psychosoziale Faktoren, wie kulturell oder traditionell bedingte Essgewohnheiten, genussorientierte Verhaltensweisen und das mit psychischen Belastungen im täglichen Leben oft verbundene stress-bedingte, überreichliche Essen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die trotz aller Öffentlichkeitsarbeit noch vorhandene Unkenntnis über die Ursachen und Folgen der Ü. sowie die unzureichende Bereitschaft, erforderlichenfalls das Ernährungsverhalten im Interesse der Gesundheit zu verändern.
Überernährung und Fettkonsum: Besonders eng korreliert ist die Ü. mit dem Verzehr fettreicher Lebensmittel, mit denen die Nahrungsenergie in besonders konzentrierter Form aufgenommen wird. Da fettreiche Lebensmittel im Allgemeinen als sehr schmackhaft empfunden werden, werden sie oft bevorzugt und reichlich verzehrt. Im Vergleich zu protein- oder kohlenhydratreichen Lebensmitteln sättigen fettreiche Lebensmittel weniger. Das hängt damit zusammen, dass der Anstieg von Leptin und Insulin nach dem Fettverzehr geringer ist als nach dem Verzehr von Kohlenhydraten und Proteinen in energetisch äquivalenten Mengen. Entsprechend schwächer sind die von den hypothalamischen Leptin- und Insulinrezeptoren ausgehenden Sättigungssignale. Die Kompensation fettreicher Ess-Episoden durch eine geringere Energieaufnahme bei den folgenden Mahlzeiten bleibt aus oder erfolgt abgeschwächt. Es kann nahezu ungebremst weiter gegessen werden (unbewusste Form der Ü. oder passive Überernährung). Die passive Ü. ist die hauptsächliche Form der Ü. in den Ländern mit hohem Fettverzehr. Im Gegensatz hierzu steht die auf genussbetonten Verhaltensweisen beruhende bewusste (z.T. trotz besserer Kenntnis erfolgenden) Ü.
Eine kohlenhydratreiche, fettarme Ernährung führt dagegen wegen der geringeren Energiedichte und dem besseren Sättigungsvermögen der Kohlenhydrate weniger zur Ü. und ist mit Übergewicht und Adipositas negativ korreliert. Besonders günstig sind kohlenhydratreiche Lebensmittel mit niedigem glycämischem Index (führen zu einem langsamen und flachen Anstieg des Blutzuckers und des Insulins nach Nahrungsaufnahme) wie z. B. Vollkornprodukte, Gemüse, Leguminosen und Obst.
Folgen: Bei Ü. wird die überschüssig aufgenommene Energie in Form von Fett in den Adipocyten des Fettgewebes deponiert. Sie kann von dort in Zeiten einer energetischen Unterversorgung wieder mobilisiert und genutzt werden Bei länger anhaltender Ü. nimmt der Körperfettgehalt und damit auch das Körpergewicht zu, was schließlich zur Entwicklung von Übergewicht bzw. Adipositas führt. Beide, insbesondere aber die Adipositas, erhöhen das Risiko der Entwicklung ernährungsbedingter Erkrankungen. Besonders hoch ist das mit der Adipositas verbundene Risiko, an einem insulinabhängigen Diabetes Typ 2, zu erkranken. 80–90 % aller Diabetiker dieses Typs sind chronisch überernährt und adipös. Eng sind auch die Beziehungen zur Hypertonie, Hyperlipidämie sowie den degenerativen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu den belastungsbedingten Funktionsstörungen des Stützapparates, zur Schlafapnoe, zu Gallensteinleiden, und besonders bei Kindern zu psychischen, mit dem Erscheinungbild verbundenen Belastungen.
Prävention: Die Prävention der Ü. und ihrer Folgen ist daher eine wichtige gesundheitspolitische Aufgabe. Vorrangig ist die Förderung gesundheitsbewusster Verhaltensweisen, insbesondere die Beachtung der Ernährungsfaktoren, die in enger Beziehung zur Ü. stehen und dabei ganz besonders die Vermeidung eines hohen Fettverzehrs. Er beträgt zur Zeit in den westlichen Industrienationen etwa 40 % der gesamten Energieaufnahme und sollte bei Jugendlichen und Erwachsenen auf 30 % gesenkt werden, bei Kindern im Alter von 4–15 Jahren 35 % nicht überschreiten. Zum Ausgleich der durch die Mechanisierung und Automatisierung bedingten geringeren physischen Beanspruchung können sportliche und andere körperliche Aktivitäten in der Freizeit beitragen, wodurch die Energiebilanz von der Ausgabenseite her ausgeglichen werden kann. Nicht zuletzt sind die Veränderung psychosozialer Verhaltensweisen, die eine Ü. unterstützen, eine wichtige prophylaktische Maßnahme. Sowohl in der Ernährungsberatung als auch bei den anderen präventiven Einflussnahmen sind rigide, nur schwer erfüllbare Zielsetzungen zu vermeiden, da diese eher zu Rückschlägen führen. Zu bevorzugen sind flexibel auf die jeweiligen individuellen Bedingungen und Erfordernisse eingestellte prophylaktische Empfehlungen.

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