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Lexikon der Neurowissenschaft: Amnesie

Amnesie w [von griech. amnestia = das Vergessen], amnestische Störung, Gedächtnisverlust, E amnesia, teilweise bis totale, zeitlich begrenzte oder permanente Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens ("Erinnerungslücke"), d.h. des Langzeitgedächtnisses (des expliziten Gedächtnisses und insbesondere des episodischen Gedächtnisses), die nicht selten durch Konfabulation ausgefüllt wird. Die anterograde (vorwärtsgerichtete) Amnesie betrifft das Gedächtnis für Sachverhalte und Ereignisse nach dem Beginn der Störung, die retrograde (rückwärtsgerichtete) Amnesie solche vor der Störung. Die anterograde Amnesie tritt in der Regel zusammen mit der retrograden auf, das Umgekehrte ist nicht notwendig der Fall (fokale retrograde Amnesie). Aufgrund der unterschiedlichen Ursachen können Art und Ausmaß einer Amnesie stark variieren. – Klassifikation und Auslöser: Amnesien lassen sich in organische und psychogene (funktionelle) Gedächtnisstörungen unterteilen, wobei letztere psychischen (affektiven) Ursprungs sind. Die organischen Störungen werden weiter unterteilt in vorübergehende und permanente, und letztere in stabile und progressive. Vorübergehende Amnesien (transiente globale Amnesien) sind z.B. auf Gehirnerschütterungen, epileptische Anfälle oder Vergiftungen zurückzuführen, oder auf eine Unterbrechung des Blutflusses in der Arteria cerebri posterior. Progressive organische Amnesien kennzeichnen Demenzen, Alzheimer-Krankheit (u.a. Defekte im Hippocampus, im basalen Prosencephalon und in der Amygdala), Chorea Huntington, Pick-Krankheit und AIDS im Endstadium. Stabile organische Amnesien (amnestisches Syndrom) können recht verschiedene Ursachen haben, z.B. Kopfverletzungen, Schlaganfälle, Hirnblutungen, Aneurysmen der Arteria communicans anterior (Schädigung des basalen Vorderhirns), Tumoren, Kohlenmonoxid-Vergiftungen, Anoxien bzw. Hypoxien, Insulin-Überdosis, Encephalitis (insbesondere durch Herpes simplex mit Schädigung von Hippocampus, Gyrus parahippocampalis, Gyrus cinguli, Inselrinde und Amygdala), Meningitis (selten), Stoffwechselbeeinträchtigungen und Fehlernährung (Korsakow-Syndrom), auch eine chirurgische Entfernung der Temporallappens. Dabei werden das mittlere Diencephalon (Mamillarkörper, mamillo-thalamischer Trakt, dorsomedialer thalamischer Nucleus, periaquäduktale graue Substanz) und/oder die mittleren Schläfenlappen (insbesondere der Hippocampus, aber auch Amygdala und Fornix) beeinträchtigt. An Amnesien können auch Läsionen im basalen Vorderhirn sowie im Stirnhirn (das zumindest beim Menschen für das Metagedächtnis eine wichtige Rolle spielt; Frontallappen) beteiligt sein, insbesondere im ventromedialen frontalen Cortex. Das implizite Gedächtnis bleibt bei einer Amnesie intakt, ebenso das Kurzzeitgedächtnis, was beweist, daß dieses unabhängig von den genannten Strukturen und dem Langzeitgedächtnis ist. – Ursachen: Die Ursachen der Amnesien sind noch nicht hinreichend geklärt. Es kommen mehrere Ursachen in Frage: Entweder wird das Substrat der Speicherung selbst eliminiert, oder der Zugriff auf den Speicherort (Abruf, Erinnerungsvorgang) ist unterbrochen, oder das Vermögen zur Speicherung (Encodierung) bzw. Festigung (Konsolidierung) der Informationen im Langzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr. Gegen ein Encodierungsdefizit spricht, daß die Intelligenz erhalten bleibt und bei der retrograden Amnesie bereits vor der Störung gespeicherte Erinnerungen betroffen sind. Auch eine bloße Abruf-Störung wird für unwahrscheinlich gehalten, weil auch bei einer schweren anterograden Amnesie noch viele Fakten vor der Störung erinnerbar sind. Eine favorisierte Hypothese ist deshalb eine gestörte Konsolidierung. Dies kann der Fall sein, wenn der Metabolismus des Neocortex zu sehr vermindert ist, wie Studien mit Positronenemissionstomographie bei Korsakow-Patienten vermuten lassen. (Dadurch könnte auch der Abruf von Informationen beeinträchtigt werden). Außerdem scheinen die Strukturen im medialen Temporallappen maßgeblich an der Reorganisation der Informationen im Neocortex beteiligt zu sein und fungieren wohl auch als eine Art "Zwischenspeicher" beim Übergang vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Besonders die Bildung komplexer Assoziationen, wie sie beim Behalten einer Geschichte nötig sind, gelingen ohne den Hippocampus nicht. Einfache Assoziationen, z.B. Wortpaare, können nicht gelernt werden, wenn der parahippocampale und der perirhinale Cortex geschädigt sind. Allerdings bleiben eine Reihe von Lernprozessen bei Amnestikern erhalten. Eine andere Hypothese geht von einem Defizit in der Encodierung von Kontext-Informationen aus, so daß die Gedächtnisinhalte nicht richtig eingeordnet werden können (Lernaufgaben für weitgehend kontextfreie Informationen gelingen Amnestikern besser). Bei reinen Schläfenlappen-Schäden scheint dies jedoch nicht zuzutreffen. Retrograde Amnesien werden wahrscheinlich durch eine Zerstörung des Speicherortes (insbesondere bei Schläfenlappen-Läsionen) oder des Zugangs auf diesen bedingt (bei Zwischenhirn-Läsionen). Warum ältere Erinnerungen aber noch besser erhalten bleiben, ist nicht eindeutig geklärt (vielleicht ist ihr Speicherort über größere Hirnareale verteilt). Schließlich wurde auch vorgeschlagen, daß ein Teil der Amnesien auf einer Schädigung eines übergeordneten Kontrollsystems im Stirnhirn beruht (frontale Amnesie), was auch die Konfabulationen erklären würde. Weitere Forschungen sind jedenfalls nötig, um zu klären, ob Amnesien aus verschiedenen funktionellen Defiziten bestehen (und um welche es sich dabei handelt), und wo die Schädigungen jeweils exakt lokalisiert sind. – Für eine permanente Amnesie gibt es keine effektive Behandlungsmethode; wenn eine Besserung eintritt, läßt sie sich therapeutisch kaum fördern. Wiederholte Übung ist nur partiell erfolgreich, wenn ein Teil der Gedächtniskapazität und des Erinnerungsvermögens erhalten blieb. Mnemo-Strategien (z.B. das Training bildlicher Vorstellungen) sind zuweilen hilfreich – falls sich der Patient daran erinnert, sie zu benutzen, – ebenso externe Gedächtnisstützen (z.B. Notizen). Ein Ausweichen auf das unversehrte implizite Gedächtnis hilft nur in sehr eingeschränkten Kontexten.

R.V.

Lit.: Kapur, N.: Memory Disorders in Clinical Practice. London 1994. Mayes, A.R.: Human Organic Memory Disorders. Cambridge 1988. Parkin, A.J.: Memory and Amnesia. Oxford 1996. Parkin, A.J., Leng, N.R.C.: Neuropsychology of the Amnesic Syndrome. London 1993. Petrides, M.R. in Boller, F., Grafman, J. (Hrsg.): Handbook of Neuropsychology, Bd. 3. Amsterdam 1991. Shallice, T.: From Neuropsychology to Mental Structure. Cambridge 1988. Vaas, R.: Futura 9, 196-209 (1994).

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