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Lexikon der Neurowissenschaft: Migräne

Migräne w [von griech. hemikrania = halbseitiger Kopfschmerz], E migraine, anfallsweise, sich mehr oder weniger unregelmäßig wiederholende, meist halbseitige, 4-72 Stunden anhaltende, pochende Kopfschmerzen. Sie werden oft von Übelkeit und Brechreiz begleitet, von Überempfindlichkeit gegen Lärm, Licht und Gerüche, mitunter auch von Hunger, Schwindel, Depressionen, Hyperaktivität oder Müdigkeit und in seltenen Fällen von Persönlichkeitsstörungen oder Dysphasien (Aphasie). Intensität, Dauer und Frequenz (bis zu achtmal im Monat) variieren beträchtlich. Migräne kommt in (je nach Klassifikation; siehe Tabelle ) bis zu 17 Formen vor und ist von anderen Formen des Kopfschmerzes zu unterscheiden. Sie ist die häufigste neurologische Störung; 5-20% der Bevölkerung leiden irgendwann im Lauf des Lebens darunter, in der Mehrzahl Frauen. Die Ursachen der zu ca. 50% genetisch mitbedingten Krankheit sind nur teilweise geklärt. Als Attacken-Auslöser werden Alkohol und bestimmte Nahrungsmittel (z.B. Käse, gepökeltes Fleisch), Medikamente, Klimaeinflüsse und psychische Belastung sowie -vor allem bei Frauen – hormonelle Veränderungen diskutiert. – Der vaskulären Theorie von H.G. Wolff zufolge sind Veränderungen in der regionalen Gehirndurchblutung und die damit verbundenen Kontraktionen und Erweiterungen der Gefäße für den Kopfschmerz verantwortlich. Im Laufe einer Attacke nimmt die Durchblutung zunächst ab. Dabei breiten sich die Änderungen im Verlauf von 30-60 min mit etwa 3 mm/min vom Hinterhauptslappen nach vorne aus. Später erweitern sich die extracranialen Arterien, was erneut mit Schmerzen verbunden ist. Positronenemissionstomographie-Studien zeigen keinen längerfristig veränderten Sauerstoff-Verbrauch. Ischämien treten höchstens in Ausnahmefällen auf und können deshalb entgegen früherer Auffassung als Ursache ausgeschlossen werden. Migräne ist daher nicht als Struktur-, sondern als Funktionsstörung anzusehen. Für die vaskuläre Theorie spricht auch, daß Migräne-Anfälle durch Ergotamin verhindert werden können, eine Substanz, die Gefäß-verengend wirkt. Es lassen sich jedoch nicht alle physiologischen Daten durch die Gefäßveränderungen erklären. Eventuell sind sie, wie die Schmerzen, ein Beiwerk neuronaler Vorgänge. Möglicherweise werden sowohl die Aura wie auch die Gefäßveränderungen durch eine neuronale Depolarisationswelle (E spreading depression) ausgelöst. Es handelt sich dabei um Wellen neuronaler Hemmung, die in verschiedenen Gehirnregionen (Kleinhirn, Corpus striatum, Hippocampus, Cortex) nachgewiesen worden sind: Dabei kommt es zuerst zu einer Depolarisation, dann zu einer Hyperpolarisation ( siehe Zusatzinfo ). Die Ausbreitung erfolgt mit 3-5 mm/min und kann vom Hinterhauptslappen aus binnen 5-10 min über die halbe Hemisphäre wandern. Die andere Hirnhälfte bleibt unbehelligt; meist überwindet die Welle auch die zentrale Sylvius-Furche zum Vorderhirn nicht. Nach dieser Theorie sollten die Sehstörungen durch die vorübergehende, relativ frühe Lahmlegung größerer Nervenzellverbände im visuellen Cortex bedingt werden. Die Periode zwischen Aura und Kopfweh könnte dann dem Zeitraum entsprechen, den die Depolarisationswelle braucht, um vom Hinterhauptslappen zu den weiter vorne liegenden Schmerzfasern zu gelangen. Wie der Schmerz im einzelnen entsteht, bleibt aber weiterhin unklar. Da die Blutgefäße innerviert sind, könnten die Gefäßveränderungen durch die Depolarisierung zustande kommen, vielleicht vermittelt über Neurokinin A (Neurokinine) und Substanz P. – Auch gewisse Neurotransmitter werden mit Migräne in Verbindung gebracht. Eine wichtige Rolle spielt offensichtlich Glutaminsäure. Blockiert man im Tierversuch die Glutamat-spezifischen NMDA-Rezeptoren (Glutaminrezeptoren), kommt es nicht zur Ausbildung der Depolarisationswelle. Durch die Vermittlung von NMDA-Rezeptoren kann Stickoxid freigesetzt werden, das nicht nur als Neurotransmitter, sondern auch gefäßerweiternd wirkt. Es gibt bei Migränepatienten auch Hinweise auf einen Mangel an Serotonin, das auch auf Gefäße wirkt. Ergotamin aktiviert die Serotoninrezeptoren und könnte insofern Serotonin ersetzen.

R.V.

Lit.: Lehmenkühler, A., Grotemeyer, K.-H., Tegtmeier, F. (Hrsg.): Migraine. München, Wien, Baltimore 1993. Sacks, O.: Migräne. Reinbek 1994. Vaas, R.: Naturwiss. Rdsch. 49 (1996), 307-310.

Migräne

Formen der Migräne Merkmale
einfache Migräne keine neurologischen Funktionsstörungen; häufigste Form der Migräne, bei über 80% der Patienten
klassische Migräne kurze neurologische Funktionsstörungen, z.B. visuelle (Aura, Flimmerskotom, Gesichtsfeldeinschränkungen), sensorische, motorische oder Sprachstörungen,
evtl. auch vegetative Reiz- oder Ausfallserscheinungen; tritt bei ca. 15% der Migräne-Patienten auf
Migraine accompagnée neurologische Störungen (Anästhesien, Parästhesien, Aphasien) begleiten und überdauern die Kopfschmerzen
digestive Migräne beginnt in der Verdauungsphase mit bitterem Geschmack, Appetitverlust, Geruchsempfindlichkeit
Migraine ophthalmique, Hemicrania ophthalmica plötzliche hemianoptische Sehstörung mit sich zur Peripherie ausbreitendem Flimmerskotom; verursacht durch Gefäßstörungen der Sehrinde; evtl. unter Wettereinfluß
ophthalmoplegische Migräne, Hemicrania ophthalmoplegica halbseitige Migräne mit Auftreten von Doppelbildern aufgrund von reversiblen Augenmuskellähmungen; häufig bei basalem Aneurysma am Circulus arteriosus Willisi, raumfordernden oder entzündlichen hirnbasalen Erkrankungen
Cluster-Kopfschmerz, Migraine rouge, Horton-Neuralgie, Horton-Syndrom Kopfschmerz im Augen-Stirn-Schläfenbereich, streng halbseitig, dauert selten
länger als zwei Stunden, kann aber vorübergehend häufig wiederkehren; durch Histamin provozierbar
Bärtschi-Rochaix-Syndrom, cervicale Migräne, Barré-Liéou-Syndrom halbseitige Kopfschmerzen mit Schwindel, Hör- und Sehstörungen als Folge einer unfallbedingten Osteochondrose und Spondylarthrose der Halswirbelsäule, was
die Arteria vertebralis und die Spinalnerven des Halsbereichs beeinträchtigt

Migräne

Eine Depolarisationswelle hat immer einen kurzfristigen Zusammenbruch des Ionenmilieus zur Folge. Bei der künstlichen Auslösung von Depolarisationswellen im Tierversuch mittels Kaliumchloridinjektionen kommt es zu einer kurzen, aber heftigen Aktivität: Aktionspotentiale entstehen, Neurotransmitter wie Glutamat und Aspartat werden ausgeschüttet; darauf folgt ein minutenlanger Zeitraum der Unerregbarkeit (Depression). Dabei ändert sich die Ionenverteilung stark, und Wasser strömt in die Neurone ein, woraufhin sich die Größe des extrazellulären Raums halbiert, die Nerven- und Gliazellen jedoch aufblähen. Diese Veränderungen werden unter hohem Energieaufwand innerhalb weniger Minuten mittels Ionenpumpen rückgängig gemacht: Durchblutung, Glucose- und Sauerstoff-Verbrauch sind dabei kurzfristig erhöht. Im Gegensatz zur Ischämie ist also bei der Depolarisationswelle ein Energiemangel nicht die Ursache, sondern eher die Folge. Hierin ist vielleicht auch der Grund für die Erschöpfung nach den Migräne-Attacken zu suchen.

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