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Lexikon der Neurowissenschaft: Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Essay

Eberhard Horn

Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Geschichte

Biologische Forschung unter Weltraumbedingungen begann Anfang der 1950er Jahre. Während ballistischer Raketenflüge wurden allgemeine physiologische Daten aufgenommen. Diese Untersuchungen bahnten den Raumflug der Hündin Laika an, die am 3. November 1957 an Bord von Sputnik 2 für eine Woche der Schwerelosigkeit ausgesetzt wurde, bevor sie wegen fehlender Rückkehrmöglichkeiten verstarb. Der Beginn neurowissenschaftlicher Forschung im Weltraum kann auch auf diese Zeit gelegt werden, da während solcher Flüge u.a. auch das taktile und visuelle Orientierungsverhalten von intakten und labyrinthektomierten (Labyrinth) Mäusen beobachtet wurde. Es folgten voll-automatisierte neurowissenschaftliche Experimente an Bord unbemannter Satelliten, unter ihnen die amerikanischen Biosatelliten I, II und III und die OFO-A Mission (orbiting frog otolith) sowie die sowjetischen (bzw. nach 1991 russischen) Satelliten der Cosmos-Reihe. Mit Beginn der Gemini- und Apollo- sowie der Sojus/Saljut-Programme wurden bemannte Raumflüge für neurowissenschaftliche Experimente genutzt, die auf amerikanischer Seite über die Skylab I-III Programme zum Shuttle Transport System (STS) und auf der sowjetischen Seite zur ersten bemannten Weltraumstation Mir führten (Mir verglühte nach herbeigeführtem Absturz am 23. März 2001 in der Erdatmosphäre). Insbesondere durch das von der Europäischen Raumfahrtorganisation (ESA) entwickelte und mit dem amerikanischen Space Shuttle in den Weltraum transportierte Raumlabor Spacelab (25 Flüge; Erstflug 1985; letzter Flug 1998 als Neurolab; siehe Abb. 1 ) konnte eine quantitative neurowissenschaftliche Forschung unter Nutzung des Weltraums durchgeführt werden.
Die frühe Phase neurowissenschaftlicher Forschung wurde von der (damaligen) UdSSR dominiert. Sie führte physiologische und psychologische Experimente, unter besonderer Berücksichtigung des Gleichgewichtssinns durch, um den Gesundheitszustand der Kosmonauten zu überwachen. Daneben waren auch Kleinsttiere wie Fruchtfliegen (Drosophila melanogaster) oder Käfer Gegenstand der Beobachtungen. Mit dem Einstieg in die Gemini- und Apollo- und letztlich in die Spacelab-Ära begannen die quantitativen Forschungen und damit die Dominanz der westlichen Welt.
Höhepunkt der neurowissenschaftlichen Forschung unter Schwerelosigkeit ( siehe Zusatzinfo ) war die Weltraummission Neurolab (STS-90) im Jahre 1998. Für diesen Flug wurden 26 von 170 angemeldeten Experimenten ausgewählt, die aus den Themenkreisen Sensomotorik, vestibuläres System, vegetatives Nervensystem, neuronale Plastizität (Plastizität im Nervensystem), Entwicklungs- und Neurobiologie stammten. Neurolab wurde von hochrangigen amerikanischen Forschungsinstitutionen unterstützt, wie den National Institutes of Health, der National Science Foundation (NSF) und dem Office of Naval Research (ONR). Hohe wissenschaftliche und finanzielle Beiträge lieferten die großen internationalen Raumfahrtagenturen, unter ihnen die europäische (ESA), deutsche (DLR), französische (CNES), japanische (NASDA) und kanadische (CSA).

Wissenschaftliche Begründung

Neurowissenschaftliche Forschung im Weltraum dient primär der Sicherheit der Astronauten. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Gegenmaßnahmen für den Fall von Ausfallserscheinungen, wie z.B. der Raumkrankheit oder ein Abfall kognitiver Leistungsfähigkeit. Die Grundlagenforschung nutzt die Möglichkeit des Schwereentzugs (Schweredeprivation), um die Bedeutung der Schwerkraft für die Leistungsfähigkeit sensorischer, neuronaler und motorischer Systeme zu ermitteln. Der Raum, in dem Mensch und Tier leben, gewinnt durch die unterschiedlichen Reizmodalitäten seine Struktur. Seh-, Hör-, Tast- oder Riechsinn vermitteln ein Raumgefühl und ermöglichen die Orientierung hin zu lebens- und arterhaltenden Zielen wie Nahrungsquellen oder Artgenossen. Lage- und Drehsinn stabilisieren den Körper gegenüber störenden, mechanischen Einflüssen.
Die richtenden Reize bilden Referenzsysteme, deren Bezugsrichtungen entweder 1) konstant und für jeden Organismus gleich, 2) variabel, aber sonst für jeden Organismus gleich oder 3) individuenbezogen und damit für jeden Organismus anders sind. Hinzu kommt der Eigenraum von Mensch und Tier, der die Ausführung gerichteter Bewegungen ohne Blick auf Bezugspunkte erlaubt, etwa ein Ergreifen eines Gegenstands im Dunkeln. Die Hauptkoordinaten verschiedener Sinne können übereinstimmen. Wird die Eindeutigkeit solcher intersensorischen Beziehungen gestört, kann die Raumwahrnehmung getäuscht werden und eine Raumillusion entstehen. Der Wegfall der Raum-Referenzsysteme ruft Orientierungslosigkeit hervor.
Das Koordinatensystem des visuellen, akustischen, taktilen und olfaktorischen Raums ist, bedingt durch die Position der Zielorte, für jeden Organismus anders orientiert und daher in seiner Lage verschiebbar; d.h., es liegt ein Organismus-spezifisch orientierter Raum vor. Dagegen weisen die geophysikalischen Felder wie das Gravitations- und das erdmagnetische Feld eine für jeden Organismus konstante Bezugsrichtung auf. Der Lagesinn nutzt das Gravitationsfeld als Referenz. Hierauf stützt sich die wissenschaftliche Begründung der neurobiologischen Forschung unter Nutzung des Weltraums. Nur durch den temporären Schwereentzug kann geklärt werden, inwieweit das Referenzsystem 'Schwere' für Sinnesleistungen wie die Gleichgewichtskontrolle, die Erkennung der Raumvertikalen oder die Orientierung unabdingbar sind oder ob andere Sinnessysteme wie das Sehsystem, das Gelenksinnessystem (Kinästhesie), das Drucksystem oder selbst auch das Hörsystem vollständig Ersatz leisten können. Die Nutzung der Schwerelosigkeit ermöglicht für die Analyse vestibulärer Funktionen eine kausalanalytische Unterscheidung zwischen den stimulatorischen Wirkungen von Translationsbewegungen gegenüber Rollbewegungen auf das Otolithensystem. Hinzu kommt, daß vestibuläre Aktivitäten einen regulativen Einfluß auf das vegetative Nervensystem, insbesondere auf das kardiovaskuläre System und die Atmung, ausüben.

Methoden zur Erforschung der Wirkung von Schweredeprivation und Schwerelosigkeit

In erdgebundenen Versuchen werden Simulationsmethoden zur Erzeugung von Schweredeprivation oder Schwerelosigkeit genutzt, die auf mehreren Prinzipien aufbauen. 1) Das Schweresinnesorgan (Gleichgewichtsorgan) wird operativ (Labyrinthektomie, Nervendurchtrennung) oder pharmakologisch (Neurotoxine, Antibiotika) ausgeschaltet. 2) Durch konstante oder zufallsverteilte Lageänderungen läßt man den Schwerevektor statistisch gleich häufig aus allen Richtungen auf den Organismus einwirken (Horizontal- und Zufalls-Klinostat). Bei dieser Simulationsmethode wird die Schwerkraft selbst nicht ausgeschaltet, sondern nur die Orientierung des Organismus in bezug auf ihre Richtung. Die Methode hat nur einen begrenzten Nutzen für neurowissenschaftliche Forschung. 3) Die schwerkraftsbedingte Gewichtskomponente wird reduziert. Bei wasserlebenden Organismen kann der Auftrieb durch Dichteänderungen des Mediums verändert werden. Bei landlebenden Organismen genügt zur Gewichtsentlastung der Aufenthalt im Wasser; beim Experimentieren an Land hilft eine Halterung in Geschirren. Eine horizontale Lagerung (bed-rest) führt zu einem Wegfall des Drucks auf Druckrezeptoren der Beine. Entlastungsmethoden wirken allerdings nicht auf das Otolithensystem. Einige Simulationsmethoden haben sich aus Reaktionen des Körpers unter Schwerelosigkeit herausentwickelt. Zu ihnen gehören das Low-Body-Positive-Pressure-System (LBPP) und die Kopf-unten-Ruhelage (E head down tilt, HDT); durch beide Methoden wird die Körperflüssigkeit in Richtung Kopf getrieben.
Wirkliche Schwerelosigkeit kann durch freien Fall aus großen Höhen (Fallturm, Ballonabwürfe) oder durch Parabelflüge in Flugzeugen oder Raketen (ESA-Projekte: Mini-TEXUS, TEXUS, MAXUS) erzeugt werden. Die Dauer der Schwerelosigkeit für Fallturmversuche liegt bei 4,5 s und kann zur Untersuchung kurzdauernder neurobiologischer Reaktionen genutzt werden. Während ballistischer Raketenflüge wird je nach Flughöhe Schwerelosigkeit bis zur Dauer von 15 min erreicht, bei Parabelflügen mit Flugzeugen bis zu 30 s. Diese Zeitspannen reichen für Untersuchungen des vestibulären Systems oder von Bewegungsabläufen aus. Langer Schwereentzug von Stunden bis Monaten, wie er für die Analyse von Entwicklungs- oder Alterungsprozessen unabdingbar ist, kann nur während bemannter oder unbemannter Orbitalflüge erzeugt werden. Experimente auf unbemannten Forschungssatelliten sind kaum Störbeschleunigungen ausgesetzt; sie erfordern allerdings eine Automatisierung aller Arbeitsschritte. Bemannte Raumflüge bieten den Vorteil, Astronauten in ein Experiment nach Anweisung durch den Experimentleiter (E principal investigator) eingreifen oder präparative Arbeiten (Entnahme von Gewebeproben, Anbringen von Elektroden) ausführen zu lassen. Bei den meist gewählten Flughöhen zwischen 300 und 500 km wird das Schwereprofil im Orbit durch die kleine Restbeschleunigung wegen der Erdnähe (ca. 5×10-5 g) bestimmt; hinzu kommen Beschleunigungsspitzen durch Bewegungen von Mensch und Maschinen (ca. 10-2 bis 10-3 g) sowie durch Korrekturzündungen der Triebwerke (ca. 10-4 bis 10-6 g). Man hat vereinbart, bei diesem komplexen Gravitationsfeld von Mikrogravitation zu sprechen ( siehe Zusatzinfo ).
Verschiedene Methoden dienen der Simulation von Erdschwere im Weltraum und werden zur Vermeidung durch Mikrogravitation bedingter gesundheitlicher Störungen der Astronauten und zu wissenschaftlichen Zwecken eingesetzt. Zur Erzeugung von Beschleunigungsfeldern werden Zentrifugen und Linearschlitten eingesetzt, die Aufhängung in elastischen Bändern erzeugt Drücke auf Druck- und Gelenkrezeptoren der Beine, das Low-Body-Negative-Pressure-System (LBNP) schließlich mindert infolge 10 bis 50 mmHg Unterdrucks die durch Mikrogravitation bedingte Verschiebung der Körperflüssigkeit in Richtung Kopf. Empfindlichkeitsschwellen des Raumlagesinns werden bei Kleinorganismen mit dem vom DLR entwickelten Niedergeschwindigkeits-Zentrifugen-Mikroskop (NIZEMI) bestimmt, Schwellen für die Wahrnehmung linearer Beschleunigungsreize mit dem Linearschlitten ( siehe Abb. 2 ).

Morphologie

Morphologische Untersuchungen unter Schwerelosigkeit belegen Veränderungen, die auf veränderte Erregungsflüsse im Nervensystem hinweisen. Durch einen verminderten Erregungsfluß unter Mikrogravitation erklärbar sind Veränderungen im somatosensorischen Cortex, an Neuronen der Hinterwurzelganglien sowie an Motoneuronen des Rückenmarks und hypothalamischen Neuronen, die Arginin-Vasopressin und Somatotropin produzieren. Zu höheren Empfindlichkeiten führen Veränderungen des Otolithensystems. Im Sinnesepithel der Schweresinnesorgane von Ratten erhöhte sich während des Schwereentzugs die Zahl der Synapsen an Typ 1-Haarzellen um 50% und an Typ 2-Haarzellen um 100%. Experimente während der Neurolab-Mission zeigten in der Statocyste von Schnecken (Tellerschnecke, Biomphalaria glabrata) eine um 50% erhöhte Zahl von Statoconien und eine ähnliche Zunahme bei einem Fisch (Schwertträger, Xiphophorus helleri). Keine Änderungen wurden an Sinneszellen oder Otoconien des Otolithenorgans von Kaulquappen (Krallenfrosch, Xenopus laevis) und Molchen (Feuerbauchmolch, Cynops pyrrhogaster) sowie an den cercalen Schweresinnesorganen von Grillen (Heimchen, Acheta domesticus) nachgewiesen.
Im Gegensatz zu den meist erst nach Beendigung eines Raumflugs gewonnenen Proben wurde während der Neurolab-Mission Gewebe unter Schwerelosigkeit fixiert. Bei Mikrogravitation exponierten Ratten verminderte sich die GABAerge Projektion des Kleinhirns auf die Vestibulariskerne, während die afferente Übertragung auf die primären Neurone des Vestibulocochlearis, die efferente Rückkopplung auf die Sinneszellen sowie die glutamaterge Projektion primärer Fasern auf die Vestibulariskerne zu keiner Phase des Raumflugs verändert waren. Veränderungen an den neuromuskulären Synapsen (motorischen Endplatten) und Motoneuronen lassen sich im Sinne eines geringeren efferenten Aktivitätsflusses deuten. Bei Ratten verzögerte Schwerelosigkeit die Entwicklung spinaler Motoneurone; motorische Endverzweigungen an Fasern des gewichtstragenden Wadenmuskels bildeten umso einfachere Muster, je länger der Raumflug dauerte ( siehe Abb. 3 ). Bei Mäusen war die Proliferationsphase während der Entwicklung der Großhirnrinde durch eine Beschleunigung der Zellteilung gekennzeichnet.

Neuronale Aktivität

Neuronale Aktivität wurde vom Gehirn mittels Elektroencephalogramm (EEG), von Nerven des vegetativen Nervensystems mittels Mikroneurographie sowie von sensorischen Nervenbündeln oder identifizierten Neuronen abgeleitet. Mit EEG-Messungen wurden corticale Aktivitäten insbesondere während des Schlafens und bei kognitiven und mentalen Aktivitäten erfaßt. Mikroneurographie wurde genutzt, um Auswirkungen von Schwerelosigkeit auf autonome Körperfunktionen zu untersuchen. Ableitungen von sensorischen Neuronen oder Nervenbündeln erfaßten Veränderungen in raumlagesensitiven Systemen vor, während und nach einem Raumflug.
EEG: Simulationstechniken wie HDT oder LBPP sowie Schwerelosigkeit während Raumflügen können das EEG deutlich im α-, β-, δ- und ϑ-Bereich verändern. Bei Parabelflügen wird während der 0 g-Phase das ϑ-Band verstärkt; die Kopf-unten-Lage verstärkt das δ- und ϑ-Band, schwächt aber den α-Bereich ab.
Mikroneurographie: Die Methode dient der Untersuchung postganglionärer Nerven, die zu Muskeln (E muscle sympathetic nerve activity, MSNA) und zur Haut (E skin sympathetic nerve activity, SSNA) führen. Während mentaler Tätigkeit steigt MSNA nach einer 14-tägigen 6°-Kopf-unten-Lage stärker an als unter Normalbedingungen. Mikrogravitation während Parabelflügen reduziert MSNA um 50%; MSNA vermindert sich zu Beginn eines partiellen Untertauchens auf 20%, normalisiert sich aber bei unveränderter Belastung innerhalb von drei Stunden. Unter langandauernder Gewichtsentlastung mittels Bettruhe von bis zu 120 Tagen sowie während des 16-tägigen Neurolab-Flugs unter echter Mikrogravitation stieg die efferente sympathische Aktivität an. Die Befunde zeigen Ursachen der orthostatischen Intoleranz an, die nach langer Bettruhe und langen Raumflügen besonders groß ist.
Sensorische Nervenzellen: Ableitungen von primären Neuronen des Otolithenorgans vom Frosch (Rana catesbeiana) während der OFO-A Mission des Jahres 1970 zeigten unmittelbar nach Beginn der Schwerelosigkeit eine Aktivitäts-Abnahme, die während der nachfolgenden Flugtage wieder vollständig zurückging. Diese Modifikation ähnelt derjenigen nach Labyrinthektomie (vestibuläre Kompensation). Ableitungen von afferenten Nerven wurden bei zwei Tierspezies nach Ende der Neurolab-Mission vorgenommen. Bei dem raumlagesensitiven Neuron PSI der Grille, das durch Reizung des cercalen Schweresinnesorgans aktiviert wird, war die Antwortstärke für mehr als eine Woche reduziert ( siehe Abb. 4 ). Dagegen war beim Krötenfisch (Opsanus tau) die Aktivität primärer Fasern des Otolithenorgans und damit ihre Empfindlichkeit gegenüber linearen Beschleunigungsreizen am ersten Tag nach der Mission erhöht ( siehe Abb. 5 ), normalisierte sich aber innerhalb von 30 Stunden. Primäre Neurone des horizontalen Bogengangs von Rhesusaffen steigerten oder senkten tierspezifisch ihre Empfindlichkeit. Die Verstärkung neuronaler Antworten weist allgemein auf eine Steigerung der Empfindlichkeit des Otolithensystems als Anpassung an die geringen bis nicht erfaßbaren linearen Beschleunigungsbedingungen hin. Sie kann ihre Ursache in den morphologischen Veränderungen der Sinnesorgane haben.

Zelluläre und membrangebundene Mechanismen der Gravizeption: Einzeller als experimentelle Modelle

Wahrnehmung und Verarbeitung von Schwerkraft bis hin zur Verhaltensreaktion stützt sich in der Regel auf spezielle Sinnesorgane. Das Grundprinzip der Erkennung der Schwererichtung beruht auf Verschiebungen schwerer Körper, etwa der Statolithen. Durch deren Bau werden raumlageabhängige Erregungsflüsse vom Rezeptor hin zum Effektor erzeugt, die zu einer Verhaltensreaktion führen, deren Referenzrichtung der Schwerevektor ist. Bei Einzellern läuft der gesamte Prozeß der Verarbeitung des Schwerereizes von der Rezeption bis hin zur Ausrichtung der Schwimmrichtung bezüglich des Schwerevektors (Geotaxis) in einer einzigen Zelle ab; allerdings werden verschiedene Mechanismen der Rezeption genutzt. Gemeinsam ist beiden, daß Körper höherer Dichte sich in ihrer Lage verschieben (Statolithen-Hypothese). Die Statolithen-Hypothese wurde unter Schwerelosigkeitsbedingungen (Fallturm, ballistische Flüge, Orbitalflüge) geprüft. Daß die Richtung des Schwerevektors als Referenz bei diesem Orientierungsverhalten genutzt wird, wurde erst eindeutig bewiesen, nachdem sowohl Loxodes als auch Paramecium (beide gehören zur Klasse der einzelligen Wimpertierchen) ihre geotaktische Reaktionsfähigkeit in der Schwerelosigkeit verloren. Loxodes erkennt seine Raumlage anhand der Verlagerung von Bariumkristallen, die sich gemäß der Orientierungsrichtung des Einzellers in Vakuolen, den Müllerschen Organellen, verschieben. Das Pantoffeltierchen Paramecium besitzt keine solchen Organellen; seine geotaktische Reaktion kommt durch die Gewichtskraft des Cytoplasmas zustande, dessen Dichte 1,04 g/cm3 beträgt und damit 4% größer ist als die des umgebenden Mediums. Der Druck durch den Cytoplast entfaltet eine Kraft von 10-10 N auf die unten liegende Membran und modifiziert über mechanosensitive K+- und Ca2+-Ionenkanäle das Membranpotential. Diese Kaliumkanäle sind weitgehend am posterioren Pol, die Calciumkanäle am anterioren Pol zu finden. Der Druckgradient entlang eines aufwärts schwimmenden Pantoffeltierchens ist 0,1 Pa; er liegt damit in dem Bereich, der in Pflanzen infolge der schwerebedingten Verlagerungen der Statolithen entsteht und zu geotropischen Wachstumsreaktionen führt. Je nach Orientierung der Zelle führt bei Paramecium die Mechanostimulation infolge der Cytoplasma-Sedimentation zu einer De- (Ca2+-Kanäle) oder Hyperpolarisation (K+-Kanäle) des Membranpotentials ( siehe Abb. 6 ). Eine geringe Depolarisation mindert die Schlagrate der Cilien und verschiebt die Schlagorientierung entgegen dem Uhrzeigersinn. Dadurch kommt es zu einer Verlangsamung des Vorwärtsschwimmens. Hyperpolarisation verstärkt die Cilienschlagfrequenz; ihre Schlagrichtung erfolgt dann im Uhrzeigersinn und steigert die Geschwindigkeit der Vorwärtsbewegung. Diese quantifizierbaren Eigenschaften bei der Reiztransduktion machen Einzeller wie Paramecium oder Loxodes zu Modellsystemen der Analyse von Primärprozessen bei der Wahrnehmung des Schwerereizes. Die Entlastung des mechanosensitiven Ionenkanal-Systems durch Schwerelosigkeit ist ein bedeutendes Hilfmittel bei der Analyse der Perzeptionsmechanismen, insbesondere der Funktion intrazellulärer molekularer Informationsträger wie Ca2+ (Calcium), cGMP oder cAMP.

Raumwahrnehmung und Raumorientierung

Die Wahrnehmung des Raums wird durch ein intersensorisches Zusammenspiel der vestibulären mit visuellen und taktilen Eindrücken gewährleistet. Rückkopplungen aus dem motorischen System erhöhen die Genauigkeit. Auf der Erde kann das ausgewogene System allein schon durch Veränderungen der visuellen Umgebung, z.B. ein rotierendes optisches Muster, gestört werden und Störungen der Raumempfindung hervorrufen. In der Schwerelosigkeit verstärkt sich zwar die Störwirkung nicht-gravitationsabhängiger Reizfelder auf die Raumwahrnehmung; doch wirkt die Verstärkung taktiler Reize auf die Fußsohlen stabilisierend auf sie.
Armbewegungen: Die Stellung der Gliedmaßen wird von Muskelspindelorganen (Muskelspindeln, Dehnungsrezeptoren), Sehnenorganen und Propriorezeptoren kontrolliert. Die Muskelspindelaktivität wird durch die Otolithenorgane beeinflußt, wodurch die Anti-Schwere-Muskeln in ihrer Aktivität beeinflußt werden. Kinematische Studien über die Armbewegung zeigen, daß die Amplitude der Bewegung unter Schwerelosigkeit abnimmt, was auf eine verringerte Empfindlichkeit der beteiligten Muskelspindeln hindeutet. Armbewegungen während des Stehens führen zu einer kompensatorischen Aktivierung von Beinmuskeln, um die Verschiebung der Schwerpunktslage des Körpers auszugleichen. Ähnliche Muster hinsichtlich der beteiligten Muskeln und der zeitlichen Abstimmung sind auch zu Beginn der Schwerelosigkeit zu beobachten, obgleich dies nicht erforderlich wäre. Erst nach längerer 0 g-Exposition wird die Aktivierung der Bein-Extensoren reduziert, da eine kompensatorische Verlagerung des Schwerpunktes unnötig ist.
Auge-Hand-Koordination: Greif-, Zeige- und Folgebewegungen erfordern eine abgestimmte Auge-Hand-Koordination. Schwerelosigkeit nimmt Einfluß auf diese Koordination: Wird im Orbit eine zielgerichtete Bewegung mit der gleichen Geschwindigkeit wie auf der Erde erledigt, so nimmt die Genauigkeit der Bewegung ab. Ein vorgegebener Kreis wird demnach weniger genau nachgezeichnet. Wird die Aufgabe dagegen mit der gleichen Präzision erledigt, läuft die Bewegung langsamer ab. Raumorientierung benötigt allerdings auch die Vorausschau für den Ablauf einer Bewegung. Das Gehirn besitzt prädiktive Fähigkeiten, die unter Schwerelosigkeit rasch umgestellt werden, obgleich die Gewichtskomponente der Arme fehlt. So wird die Trajektorie eines unter Erdbedingungen zunehmend schneller fliegenden Balls genauso präzise vorherberechnet wie die eines in der Schwerelosigkeit mit konstanter Geschwindigkeit fliegenden Balls. So einfach diese Tests zur Raumwahrnehmung erscheinen, so wichtig ist die Analyse prädiktiver cerebraler Leistungen bei Bewegungsabläufen für das Arbeiten im Orbit.

Körperhaltung und Lokomotion

Die Kontrolle von Körperhaltung und Fortbewegung stützt sich auf eine Verarbeitung vestibulärer mit somatosensorischer, propriorezeptiver, visueller und motorischer Information. Gestreckte oder verdrehte Körperstellungen und das Suchen nach Möglichkeiten zum Festhalten zeigen, daß ihre Regelung unter Schwerelosigkeit anderen Mechanismen als auf der Erde folgt ( siehe Abb. 7 ).
Druckrezeptoren der Füße: Sie werden durch den vom Körpergewicht verursachten Druck aktiviert, wodurch reflektorisch der Schwerpunkt über die Standfläche der Füße zu liegen kommt. Ist unter Schwerelosigkeit die Druckwirkung aufgehoben oder unter Wasser reduziert, vermindert sich die Notwendigkeit der physikalischen Haltungsstabilität; der Körper kippt nach vorn, weil der Extensortonus ab- und die Flexoraktivität zunimmt.
Vestibuläre Reize: Die vestibuläre Komponente bei der Kontrolle der Körperhaltung wird auf der Erde während Zentrifugation besonders deutlich; sie folgt weitgehend physikalischen Gesetzen. Eine Person empfindet während einer Zentrifugation eine Kippung um 35°, wenn der nach außen gerichtete Vektor die Stärke von 1 g hat. Nach Beginn der Schwerelosigkeit fühlen Astronauten trotz Wegfalls der Erdschwere weiterhin eine 35°-Kippung, die erst nach einigen Flugtagen unter 0 g in die zu erwartende 90°-Kippungsempfindung übergeht. Nach der Landung wird unter 1 g vorübergehend eine Kippung empfunden, die stärker als die der Vorflugsphase ist und als Sensitivierung des Otolithensystems zu interpretieren ist ( siehe Abb. 8 ). Es ist nicht auszuschließen, daß die Sensitivierung auf der Kipp-Translations-Reinterpretation beruht, nach der im Orbit im Gegensatz zu den Bedingungen auf der Erde vom Otolithenorgan nur lineare Translationsbeschleunigungen, nicht aber Kippungen erkannt werden.
Propriorezeptoren: Vibrationsreizung eines Muskels aktiviert Ia-Afferenzen (Gruppe-II-Faser) der Muskelspindeln. Mit einiger Verzögerung kontrahiert sich der Muskel, und die Körperhaltung ändert sich. Sie ist als Kippung nach vorne oder hinten meßbar, wenn die Versuchsperson nur mit ihren Füßen festgeschnallt ist. Sie induziert eine Kippempfindung nach vorne oder hinten, wenn die Person ihren Körper nicht bewegen kann. Während der 0 g-Exposition ändert sich die Wirksamkeit der Vibrationsreizung. Anfangs ähnelt die Kippempfindung der auf der Erde, schwächt sich jedoch nach längerer Flugdauer deutlich ab. Auch die wahre Körperkippung nimmt unter Schwerelosigkeit stetig ab und bleibt schließlich trotz Vibrationsreizung aus ( siehe Abb. 9 ). Die Änderungen sind als adaptive Reaktion des sensomotorischen Systems auf die geringe Bedeutung gewichtstragender Muskeln unter 0 g zu verstehen. Bei Körperbewegungen unter Schwerelosigkeit wird wie unter 1 g-Erdbedingungen ein rasches Vor- und Rückwärtspendeln des Körpers in der Taille von kompensatorischen Hüft- und Kniebewegungen begleitet. Trotz gleichen Erscheinungsbilds findet eine Reorganisation der motorischen Aktivierungsmuster statt, da sich die den Schwerpunkt stabilisierenden Dehnungsreflexe der Anti-Schwerkraft-Muskeln abschwächen, wie z.B. der Hoffmann-Reflex (H-Reflex), ein Indikator der Erregbarkeit von α-Motoneuronen.
Lokomotion: Fortbewegung innerhalb des Raumschiffs unter Schwerelosigkeit wird von Raumfahrern rasch erlernt; Erfahrungen werden auf spätere Raumflüge übertragen. Nach Beendigung des Raumflugs treten Laufunsicherheiten auf, insbesondere bei geschlossenen Augen. Das Laufmuster normalisiert sich nach wenigen Stunden. Da beim Menschen kognitive Mechanismen in der Lokomotion nicht auszuschließen sind, lassen sich Grundprinzipien über den Einfluß von Schwereentzug oder Gewichtsentlastung auf die Lokomotion bei Tieren besser untersuchen. Fische und Frösche tendieren zu unregelmäßigem Schwimmverhalten; sie vollführen bauch- oder rückwärtsgerichtete Loopings, rotieren um ihre Längsachse oder schwimmen in Zickzackbahnen. Bei Kaulquappen wird der rückwärts gerichtete Looping durch Veränderungen der Körperform unterstützt. Das Laufmuster von Ratten, deren Hinterbeine durch einen nach oben wirkenden Zug entlastet wurden (E tail suspension technique), unterscheidet sich im Test ohne Entlastung in mehrfacher Weise von normalgehaltenen Tieren. Ihre Hinterbeine bevorzugen den Zehengang und werden stärker gestreckt; sie werden verzögert und in der Schwingphase sehr hoch vom Boden abgehoben. Während eines Schritts ist der Winkel zwischen Fuß und Unterschenkel größer als bei nicht entlasteten Tieren. Die Vorderfüße entlasteter Tiere verweilen länger auf dem Boden. Tiere, die unter Schwerelosigkeit im Orbit gehalten wurden, zeigen unmittelbar nach der Landung eine Streckung der Hinterbeine, insbesondere während der Standphase eines Schritts.

Raumillusionen

Zentralnervöse Adaptationsprozesse können auf der Erde Raumlage- und Bewegungs-Illusionen (Sinnestäuschungen) auslösen. Eine langdauernde Seitwärtsrollung mit konstanter Geschwindigkeit aus der Rückenlage über die rechte Seitenlage, Bauchlage, linke Seitenlage und zurück in die Ausgangslage kann bei Versuchspersonen mit geschlossenen Augen, nicht aber bei geöffneten Augen, eine kreisende Bewegung mit Blick nach oben vortäuschen. Ruhig sitzende Personen empfinden in einer sich drehenden, gemusterten Umgebung eine Eigendrehung; werden sie dagegen in dieser Umgebung gedreht, nehmen sie nach einer gewissen Zeit eine Bewegung der Umgebung wahr und glauben gleichzeitig, still zu sitzen. Eine auf dem Rücken horizontal liegende Versuchsperson, die in Richtung ihrer Körperlängsachse hin- und hergependelt wird, empfindet ein ständiges Alternieren ihrer Körperneigung ( siehe Abb. 10 ).
Unter Schwerelosigkeit nehmen alle Astronauten Raum- und Bewegungsillusionen wahr, die sich entweder auf den eigenen Körper oder auf die Umgebung beziehen. Aus Parabelflügen ist bekannt, daß während des Steigflugs bei geschlossenen Augen eine Kopf-unten-Empfindung auftritt; beim Sinkflug, bei dem der Kopf objektiv nach unten ausgerichtet ist, kommt es dagegen zu einer Kopf-oben-Illusion. Können optische Orientierungshilfen genutzt werden, wird die Raumlage stets richtig beurteilt. Aufrichten und Senken des Körpers eines mit den Füßen am Boden festgeschnallten Astronauten führt zur Wahrnehmung einer Ab- und Aufwärtsbewegung der "Decke" des Raumschiffs. Die multisensorischen Ursachen der Raumillusionen bedingen eine hohe interindividuelle Typenvariabilität. Infolge der neuroplastischen Leistungen sensomotorischer Systeme führen Wiederholungen gleicher Reizbedingungen häufig zum Wegfall von Raumillusionen.

Zentralnervöse Grundlagen der Raumwahrnehmung und Raumorientierung

Ähnlich dem visuellen und akustischen Sinn ist auch der Lage- und Gleichgewichtssinn in Form sensorischer und zentralnervöser Karten topographisch strukturiert. Im Otolithenorgan sind die Richtungen der höchsten Empfindlichkeit der Sinneszellen fächerförmig angeordnet. Die Repräsentanz aller Raumlagen bleibt in den Vestibulariskernen erhalten, während spinale Interneurone, deren Aktivität vom Otolithenorgan beeinflußt wird, weitgehend Vorzugsrichtungen für Kippungen zur Seite besitzen ( siehe Abb. 11 ). Die zentralnervöse Verarbeitung der Raumlage kann von zwei anderen Neuronentypen, Raumkonstanzneuronen und Kopfrichtungsneuronen unterstützt werden. Multimodale Raumkonstanzneurone beziehen ihre Erregbarkeit auf die Raumhorizontale; sie werden nur dann aktiviert, wenn das Licht von oben auf das Auge trifft, unabhängig von der Raumlage des Tieres. Ausdruck von Raumkonstanz ist beim Menschen die Eigenschaft, Raumlagen nahe der Horizontalen und Vertikalen am besten abschätzen zu können.
Thalamische Kopfrichtungsneurone (Thalamus) repräsentieren Kopfrichtungen in recht engen Kegeln. Sie sind in die Raumorientierung eingebunden und kooperieren dabei mit Ortsneuronen des Hippocampus. Die Gesamtheit der Ortsneurone bildet eine Raumkarte, in welcher jeder Ort zur Aktivierung eines bestimmten Neurons führt (kognitive Karte). Obgleich bei der Erkundung eines Raums ständig Kopfbewegungen und damit auch eine Reizung der Otolithenorgane vorkommen, entstehen diese hippocampalen kognitiven Karten auch ohne gravizeptive Information. Unter Schwerelosigkeit bauten Ratten, die zuvor auf der Erde eine Karte für einen ebenen, quadratischen Laufsteg gebildet hatten, für einen dreidimensionalen Steg nach anfänglicher Desorientiertheit eine neue, situationsgerechte Raumkarte auf ( siehe Abb. 12 ).

Augenbewegungen

Die engen Beziehungen zwischen vestibulärem System und Augenmuskulatur dienen der Blickstabilisierung. Zu den Augenbewegungen gehören die durch Reizung der Bogengangsorgane ausgelösten dynamischen und durch Reizung der Otolithenorgane ausgelösten statischen vestibulo-okulären Reflexe (VOR) sowie die Nystagmen, die durch alternierend schnelle und langsame Bewegungsphasen gekennzeichnet sind (optokinetischer und vestibulärer Nystagmus, Nach-Nystagmus).
Statischer und dynamischer VOR: Auf der Erde führt die Reizung des Otolithenorgans durch eine konstante Seitwärts- oder Vorwärtskippung des Kopfes zu einer Augenbewegung in die Gegenrichtung. Dieser statische VOR bleibt unter Schwerelosigkeit aus. Wird der Kopf dagegen unter Schwerelosigkeit einer Translationsbewegung etwa entlang der Interaurallinie unterworfen, tritt eine gegengerichtete Augenbewegung wie auf der Erde auf. Nach einem Raumflug ist bei Astronauten und Rhesusaffen der statische VOR abgeschwächt, gleichgültig, ob er durch eine Kippung oder durch eine Translationsbewegung des Kopfes ausgelöst wurde. Nach mehrwöchigen Raumflügen hält diese Abschwächung mehr als 10 Tage an. Bei Amphibienlarven ist der statische VOR nach einem Raumflug infolge seiner verzögerten Entwicklung abgeschwächt, bei Fischjungen dagegen wegen einer sich unter 0 g aufbauenden Sensitivierung des vestibulären Systems verstärkt. Der dynamische VOR dient der Erhaltung der Blickrichtung während aktiver oder passiver Kopf- und Körperbewegungen. Reizung des horizontalen Bogengangs durch pendelnde Kopfbewegungen bis zu 30° löst eine kompensatorische Augenbewegung gleicher Größe aus (Verstärkungsfaktor = 1). Unter Schwerelosigkeit ändert sich hieran bis auf eine kleine Abnahme des Verstärkungsfaktors wenig.
Nystagmische Augenbewegungen: Anders als auf der Erde treten während eines Raumflugs nystagmische Augenbewegungen spontan auf. Nystagmen, die durch Reizung des horizontalen Bogengangs mittels konstanter Drehung induziert werden, sind durch Schwereentzug wenig beeinflußbar. Der nach Ende der Drehung sichtbare Nach-Nystagmus verkürzt sich unter Mikrogravitation, was auf eine Verminderung der Speicherfähigkeit von Geschwindigkeitssignalen im Mittelhirn (Mesencephalon) zurückzuführen ist. Der horizontale optokinetische Nystagmus (OKN) verändert sich unter 0 g personenspezifisch; sein Nach-Nystagmus zu Reizende verkürzt sich einheitlich. Eine für den vertikalen OKN auf der Erde typische Asymmetrie, bei der die langsame Phase der Augenbewegung bei einem sich aufwärtsbewegenden Reizmuster schneller ist als bei einem sich abwärtsbewegenden Muster, dreht sich zunächst unter Schwerelosigkeit um. Später ist die langsame OKN-Bewegung für beide Reizrichtungen gleich schnell, bedingt durch die Änderung von der unter 0 g bedeutungslosen Schwerereferenz zu einem körpergebundenen Referenzsystem.
Kalorischer Nystagmus: Eine Spülung des Innenohrs mit warmem oder kaltem Wasser oder mit Luft löst auf der Erde rhythmische Augenbewegungen mit langsamen und schnellen Phasen aus (kalorischer Nystagmus). Als Ursache wurden lange Zeit durch Dichteunterschiede hervorgerufene Verschiebungen der Endolymphe und damit eine Wirkung der Schwerkraft angesehen (Konvektionstheorie von Bárány). Unter Weltraumbedingungen treten Konvektionsströme nicht auf; daher sollte eine thermische Reizung des Innenohrs unter Schwerelosigkeit keinen Nystagmus hervorbringen. Genau diese Forderung wurde auf dem ersten Spacelab-Flug des Jahres 1983 widerlegt. Dieser Befund ist nur in Einklang zu bringen mit einer direkten Wärmeempfindlichkeit der Bogengangsrezeptoren.

Vegetatives Nervensystem: Kreislaufkontrolle

Erste sichtbare Wirkung von Schwerelosigkeit ist die Aufblähung des Kopfes und des Halses. Ursache der kopfwärts gerichteten Flüssigkeitsverschiebung ist der fehlende, nach unten gerichtete hydrostatische Druck. Der zentralvenöse Druck nimmt ab, gleichzeitig steigert das Herz sein Ausschlagvolumen. Die Regulation des Blutdrucks ändert sich ebenfalls; ein höheres Schlagvolumen hebt den systolischen Blutdruck an; der arterielle Blutdruck nimmt während der ersten Tage ab. Die Atmung ist durch eine 15%ige Abnahme des Atemvolumens, aber gleichzeitig auch durch einen 15%igen Anstieg der Atemfrequenz gegenüber Erdbedingungen gekennzeichnet. Diese Änderungen normalisieren sich innerhalb einer Woche durch regulatorische Aktivitäten des vegetativen Nervensystems. An Barorezeptoren und sympathischen Nervenfasern wurden Grundlagen dieser Regulation untersucht. Barorezeptoren messen den Blutdruck und greifen bei Störungen regulierend in die Herzschlagfrequenz ein. Ihre Leistung ist unter Schwerelosigkeit abgeschwächt; eine arterielle Druckänderung, die auf der Erde eine Schlagfrequenz einer bestimmten Größe bedingt, löst unter 0 g eine geringere Antwort aus. Eine Aktivierung sympathischer Fasern, welche die Beinmuskulatur versorgen, verursacht auf der Erde eine Konstriktion der Gefäße in den Beinmuskeln und somit eine Steigerung des Blutdrucks. Mikroneurographische Untersuchungen während der Neurolab-Mission belegten eine gesteigerte Aktivierung dieser Nerven.
Nach Beendigung eines Raumflugs sind 70% der Raumfahrer unfähig, ihren Blutdruck stabil zu halten und länger als 10 min aufrecht zu stehen (orthostatische Intoleranz). Belastungs- und Konzentrationsfähigkeit sind stark vermindert. Das Ausmaß der Anfälligkeit hängt von der Dauer des Flugs und interindividuellen Empfindlichkeiten ab. Der schon unter 0 g abgesenkte Baroreflex bleibt nach Beendigung des Raumflugs zunächst auf diesem geringen Wirkungsniveau und trägt so zur orthostatischen Intoleranz bei. Orthostatische Intoleranz wurde schon nach den ersten Weltraumflügen beobachtet und löste eine Suche nach geeigneten Gegenmaßnahmen aus. Fahrradtreten und Krafttraining vor und während des Weltraumflugs gehören ebenso dazu wie die von der Deutschen Raumfahrtbehörde entwickelte Unterdruckkammer (Lower Body Negative Pressure Device, LBNP), durch die eine Erdanziehung durch die künstliche Erzeugung eines Unterdrucks von 10 bis 50 mmHg in der unteren Körperhälfte vorgetäuscht werden soll ( siehe Abb. 2 ).

Raumkrankheit

Zwei Drittel aller Raumfahrer erleben die Raumkrankheit (E space motion sickness, SMS), die der Seekrankheit ähnelnde Symptome, wie Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Schwindel, Müdigkeit, Apathie, Übelkeit oder Erbrechen, seltener auch Schwitzen und Blässe, hervorruft. Diese Symptome gehen innerhalb von drei Tagen vorüber. Als Ursachen werden angenommen: eine unter Schwerelosigkeit schlechtere Abstimmung der Kopfbewegungen in der Kipp- und Rollachse (sensomotorische Konflikt-Theorie), die kopfwärtsgerichtete Flüssigkeitsverschiebung, die Otolithenasymmetrie, die Roll-Translations-Reinterpretation durch die Otolithenorgane sowie Fehlfunktionen des vegetativen Nervensystems. Unter Schwerelosigkeit und unter erhöhter Schwere läßt sich SMS durch Kopfbewegungen provozieren, insbesondere wenn rechtes und linkes Vestibularorgan infolge der Lage der Drehachse unterschiedlich gereizt werden (off-axis rotation; off-axis head movements). Sensorische Konflikte mit der visuellen Umgebung können bei stark visuell abhängigen Astronauten Symptome von SMS hervorrufen, etwa wenn er gegenüber den Racks des Raumschiffs oder gegenüber den anderen Astronauten "auf dem Kopf" steht. Nur wenige Parameter sind bekannt, die SMS-Sensitivität voraussagen. Subjektive Vertikale und diskonjugierte Augenbewegungen sind nach Ende einer Mission positiv mit der SMS-Ausprägung korreliert. Asymmetrien des EEGs zwischen beiden Hemisphären während simulierter Schwerelosigkeit weisen ebenfalls auf eine verstärkte Empfindlichkeit des Auftretens von Raumkrankheit hin. Prävention durch vestibuläres Training erwies sich als unwirksam. Daher ist z.Z. eine Behandlung mit Promethazin, seltener Scopolamin, das Schutzmittel der Wahl.
Otolithenasymmetrie: Die ungleiche Reizung beider Sinnesepithelien infolge einer Asymmetrie der Otolithengewichte wird auf der Erde durch den Aufbau einer physiologischen Asymmetrie zentralnervös kompensiert; sie wird uns daher nicht bewußt und führt auch zu keinen Fehlhaltungen, wie sie nach einer einseitigen Labyrinthektomie zu beobachten sind. In der Schwerelosigkeit kommt diese physiologische Asymmetrie zum Vorschein, so daß Mißfunktionen entstehen. Beobachtungen an Fischen stützen diese Vorstellung, denn die Stärke ihres unter Schwerelosigkeit auftretenden anormalen Schwimmverhaltens läßt sich mit der Stärke der Otolithenasymmetrie korrelieren ( siehe Abb. 13 ).

Entwicklungsbiologie

Die Embryonalentwicklung läßt nach bisherigen Beobachtungen nur eine geringe Empfindlichkeit gegenüber Schwereentzug erkennen. Aus im Orbit befruchteten Eiern entwickelten sich morphologisch normal gestaltete Tiere (Xenopus-Kaulquappen, Drosophila-Larven), obgleich frühere Untersuchungen auf der Erde nachwiesen, daß eine Lageänderung der Eier oder ein ständiges Wechseln der Richtung der Erdschwere die Polaritätsbildung der Eizellen beeinflussen. Im Gegensatz zu dieser hohen Plastizität kann die postembryonale sensorische, neuronale und motorische Entwicklung eine gewisse Starrheit aufweisen; denn dieser Lebensabschnitt ist häufig durch eine kritische (sensitive) Periode gekennzeichnet, während der ein Entzug des adäquaten Reizfelds (Reiz-Deprivation) zu Störungen der Entwicklung führt. Für Schweresinnessysteme setzt der Deprivationsansatz eine längere Exposition in die Schwerelosigkeit voraus.
Postembryonale sensorische Entwicklung: Untersuchungen über den Einfluß modifizierter Schwerebedingungen auf die Entwicklung sensorischer Systeme setzt die Kenntnis ihres Entwicklungsgangs unter Normalbedingungen voraus. Der Entwicklungsgang kann nämlich Merkmale aufweisen, die für die Auswahl der Entwicklungsperioden von Bedeutung werden können, zu denen der Schwereentzug erfolgen soll. Detaillierte Daten liegen für die postembryonale Entwicklung kompensatorischer Kopf- und Augenbewegungen von Grillen, Fischen und Fröschen vor, die durch Änderung der Raumlage ausgelöst werden. Bei Grillen (Acheta domesticus) steigt die Stärke dieser Kopfbewegung kontinuierlich bis zur letzten Häutung an. Beim Krallenfrosch (Xenopus laevis) folgt der Entwicklungsgang des statischen vestibulo-okulären Reflexes (VOR) einer Optimumkurve, die sich auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert. Beim Fisch (Oreochromis mossambicus) durchläuft die Entwicklung nach einem anfänglichen deutlichen Anwachsen eine Phase der Absenkung der Stärke des statischen VOR. Mikrogravitation bewirkte in den meisten Fällen eine Änderung der Reflexstärke. Oreochromis zeigt nach Ende eines Raumflugs einen stärkeren statischen VOR, wenn sich dieser zu 0 g-Beginn noch nicht entwickelt hatte, während er unverändert bleibt, wenn ihn die Tiere vor 0 g-Beginn schon durchführen konnten. Bei Xenopus-Kaulquappen wird durch 0 g der statische VOR abgeschwächt. Diese Abschwächung ist sehr stabil und hält unter 1 g-Bedingungen auf der Erde für mehr als 2 Wochen an. Die kompensatorische Kopfbewegung von Grillenlarven erweist sich gegenüber einer 0 g-Exposition als weitgehend unempfindlich ( siehe Abb. 14 ) – im Gegensatz etwa zu den Resultaten bei einem lagesensitiven Neuron ( siehe Abb. 4 ).
Postembryonale Entwicklung motorischer Systeme: Bodenstudien an Ratten mit Hilfe der Gewichtsentlastungs-Methode zeigten, daß die Entwicklung motorischer Systeme, wie etwa des Laufens oder Schwimmens, der Gewichtsbelastung bedarf und damit von der Erdschwere abhängt. Die Entlastung der gewichtstragenden Muskeln für die Hinterbeinbewegung beim Schwimmen ist aber nur während eines bestimmten Alters der Tiere wirksam ( siehe Abb. 15 ). Die Wirkung echter Schwerelosigkeit wurde während der Neurolab-Mission für die Entwicklung der Umdrehreaktion untersucht, durch die Tiere aus der Rücken- in die Bauchlage kommen. Das Muster dieses Verhaltens ändert sich während der Entwicklung. Junge Tiere leiten die Rückdrehung mit einer U-förmigen Einrollbewegung oder korkenzieherartigen Verdrillung des Körpers ein; erwachsene Ratten erledigen diese Aufgabe durch eine rasche Seitwärtsrolle in gestreckter Haltung. Jungtiere, die im Alter von zwei bis 20 Tagen unter Schwerelosigkeit getestet wurden, nutzten die U-Strategie. Anders als ihre unter Erdbedingungen aufgewachsenen Geschwistern behielten sie dieses "unreife" Bewegungsmuster auch noch 110 Tage nach Rückkehr zur Erde bei; einzig die Geschwindigkeit der Rückdrehung nahm zu.

Alterungsbiologie

Alle Altersgruppen erwiesen sich bisher für einen Raumflug als tauglich. Der Amerikaner John Glenn flog im Alter von 76 Jahren auf STS-95, ohne Zeichen verminderter physiologischer und mentaler Leistungsfähigkeit im Vergleich mit seinen üblicherweise 35- bis 50-jährigen Kollegen zu zeigen. Seit Mitte der 1980er Jahre wurden Taufliegen (Drosophila melanogaster) und Nematoden (Caenorhabditis elegans) unter 0 g für mehr als eine Generation gehalten. Männliche, aber nicht die weiblichen Drosophila offenbarten dabei eine 0 g-Sensitivität. Bei beiden Geschlechtern war unter 0 g die morphologische Entwicklung nicht verändert und die lokomotorische Aktivität erhöht, doch traten bei den Männchen nach Rückkehr in die 1 g-Bedingungen auf der Erde Veränderungen auf, die auf beschleunigtes Altern hinweisen. Dazu zählten eine verminderte Begattungsaktivität, negative Geotaxis und Lebenserwartung. Vergleichbare Studien an Vertebraten, obgleich notwendig, scheiterten bisher an der langen Lebensdauer und einem Fehlen geeigneter Haltungsbedingungen.

Circadiane Rhythmik

Die Himmelsmechanik verleiht der Zeit eine periodische Struktur (Tage, Monate, Jahre). Organismen haben sich an diese Periodizität, wie etwa den 24-Stunden-Rhythmus (circadianer Rhythmus), angepaßt und eine innere Uhr entwickelt, die sich selbst erhalten kann und im periodischen Ablauf physiologischer Prozesse sichtbar wird (freilaufende Periodik; Chronobiologie). Periodisch wiederkehrende Reize (Zeitgeber) wie etwa der Hell-Dunkel-Tageszyklus wirken synchronisierend auf physiologische Prozesse. Die unterschiedlichen Kinetiken beim Übergang vom freilaufenden zum synchronisierten Rhythmus offenbaren ausgeprägte Unterschiede in der Abhängigkeit physiologischer Prozesse wie Schlafen, motorische Aktivität, Herzfunktion, Temperaturkontrolle etc. von diesen Zeitgebern. Die Abgestimmtheit zwischen diesen Rhythmen ist Grundlage der Homöostase. Während Raumflügen sind die Organismen nicht nur der Schwerelosigkeit ausgesetzt, sondern auch Veränderungen der Zeitgeberstrukturen. Messungen über Veränderungen der circadianen Periodik gehörten daher zu den grundlegenden biomedizinischen Untersuchungen während der ersten Raumflüge. Man wollte Klarheit darüber haben, inwieweit schon allein die veränderte Tageslänge während der 90-minütigen Erdumkreisungen zu einer Aufhebung der inneren Abgestimmtheit zwischen den verschiedenen Rhythmen führen würde und daher physiologische Störungen bei Mensch und Tier auslösen könnte.
Tatsächlich zeigten sich Störungen der Rhythmen. Insbesondere reduzierten sich ihre Stabilität und Phasenlagen. Bei Käfern (Trigonoscelis gigas) wurde auf einem der Cosmos-Satelliten zwei Wochen lang die freilaufende circadiane Periodik verfolgt. Gegenüber den Vor- und Nachflug-Messungen stieg dabei ihre Frequenz an und ihre Periodenlänge nahm um 0,3 Stunden ab. Bei Rhesusaffen verzögerte sich die innere Uhr für die Regulation der Körpertemperatur, des Herzrhythmus und der motorischen Aktivität gegenüber dem 24-Stunden-Zeitgeber Hell/Dunkel um 2 bis 3 Stunden. Astronauten zeigten infolge einer verminderten Synchronisation zwischen 24-Stunden-Zeitgeber und freilaufender circadianer Periodik Schlafstörungen. Dagegen unterschieden sich die Zeitgänge von Körpertemperatur, Cortison- und Melatoningehalt im Urin sowie Stimmung, Aktivierung und objektiver Aufgabenbewältigung unter Schwerelosigkeit nicht von denen unter Erd-1 g-Bedingungen gemessenen. Simulationsstudien auf der Erde mittels Kopf-unten-Bettruhe wiesen genau den entgegengesetzten Befund auf, eine starke Beeinflussung der physiologischen Rhythmen, aber nicht des Schlafs. Die unter Raumbedingungen nicht mehr gegebene Übereinstimmung zwischen auf den 24-Stunden-Rhythmus ausgelegtem Arbeitstag und der durch die Schwerelosigkeit veränderten Periodik der inneren Uhr kann Schlafstörungen verursachen und damit Fehlhandlungen hervorrufen. Unfälle auf der Raumstation Mir in den Jahren 1997 und 1998 wurden darauf zurückgeführt.

Schlaf

Vieles, was über die Beurteilung des Schlafs im Orbit bekannt wurde, stammte ursprünglich aus Erzählungen der Astronauten und Notizen in den Bord-Büchern. Doch schon auf Flügen wie Gemini und Skylab erfolgte eine physiologische Überwachung des Schlafs mittels EEG. Die später auf Shuttle- und Mir-Flügen an Astronauten und auf den Cosmos-Satelliten an Rhesusaffen gemachten Schlafbeobachtungen zeigten auffällige Übereinstimmungen. Während der Orbitalflüge nimmt die Schlafdauer pro Tag etwa um eine Stunde ab und liegt bei Astronauten zwischen 6 und 6,5 Stunden. Typische Änderungen der inneren Schlafstruktur sind die Verkürzung der REM-Phasen (REM-Schlaf), der Perioden mit Tiefschlaf (slow wave sleep) und damit auch die Menge des Delta-Schlafs (Perioden mit EEG-Wellen zwischen 0,5 und 3 Hz; Delta-Wellen), sowie eine leichtere Störanfälligkeit des Schlafs. Die Herzschlagperiode verlängert sich um 100 ms, insbesondere während des NREM-Schlafs. Phasen von Atemstillstand (Apnoen) und langsamer Atmung (Hypnoen) treten im All seltener auf als vor und nach dem Flug und sind auch kürzer. Offensichtlich begünstigt auf der Erde die Schwerkraft die Verengung der oberen Luftwege und liefert damit eine der Ursachen für die vorzugsweise von männlichen Schnarchern bekannten und unter Umständen lebensbedrohenden Phasen des Atemstillstands.
Die Änderungen der Schlafstruktur sind meist für die gesamte Dauer des Raumflugs sichtbar. Obgleich sie die physiologische Stabilität der Raumfahrer nicht aus ihrem Gleichgewicht bringen, wurde und wird nach Gegenmaßnahmen gesucht, um einer möglichen Abnahme der Konzentrationsfähigkeit und einer dadurch verursachten Zunahme von Fehlhandlungen vorzubeugen. Melatonin, das unter Erdbedingungen schlafstabilisierend wirkt, erwies sich während des Neurolab-Flugs als unwirksam. Es ist nicht auszuschließen, daß die Schlafverkürzung ihre Ursache in dem umfangreichen Arbeitspensum und der Faszination des Neuen hat, das die Besatzung während ihres Raumflugs erfährt.

Verhaltensgenetik

In begrenztem Maße wurden bisher Untersuchungen zur Verhaltensgenetik durchgeführt. Bei Fischen (Medaka [Japankärpflinge, Oryzias latipes]) wurden mittels verhaltensgenetischer Techniken gravisensitive Stämme selektioniert, bei denen das Wechselspiel mit visueller Orientierung von Bedeutung ist. Der Medaka-Fisch hat eine sehr kurze Generationsfolge von nur 3 Monaten. 1994 gelang die natürliche Begattung unter Schwerelosigkeit mit Bildung von Nachkommen. Zur Selektion Schwerkraft-sensitiver Mutanten wurden das unter Schwerelosigkeit induzierbare Looping sowie die Stärke optokinetischen Verhaltens genutzt. Mittlerweile gibt es Linien, die unter Schwerelosigkeit immer loopen, während andere Linien dies nur bei Dunkelheit tun. Diese "augenabhängigen" Fische ordnen sich in drei Gruppen ein:
Typ A: Fische mit gutem optokinetischen Verhalten und gewöhnlicher Schwereempfindlichkeit,
Typ B: Fische mit gewöhnlichem optokinetischen Verhalten und geringer Schwereempfindlichkeit,
Typ C: Fische mit gutem optokinetischen Verhalten und geringer Schwereempfindlichkeit.
Nach der Befruchtung von Fischen des Typs A unter Schwerelosigkeit bildeten sich auch Nachkömmlinge, welche die Merkmale des Typs B hatten. Unter ihnen fanden sich Mutanten, die Fehlentwicklungen des Vestibularsystems hatten (ha-Linie); in der Embryonalentwicklung schon erkennbar fehlten einigen von ihnen auch im erwachsenen Stadium die Otolithen des Utriculus (Lapillae); andere Fische dieses Stamms bilden nur unvollständige Lapillae, andere normale. Das optokinetische Verhalten der ha-Mutanten ist nicht unterscheidbar von dem der Fische des Typs A.

Anpassungskinetik an Mikrogravitation und Rückanpassung an Erdbedingungen

Untersuchungen über die Anpassungskinetik sensorischer und neuronaler Funktionen beinhalten die Frage, wie sich das sensorische und neuronale System an die Bedingungen der Schwerelosigkeit anpaßt (0 g-Adaptation), sowie die Frage, wie beständig die auftretenden Wirkungen sind (1 g-Readaptation). Der zeitliche Ablauf der Anpassung an die Bedingungen der Mikrogravitation (0 g-Adaptation) wurde weitgehend nur für Astronauten bestimmt. Verglichen mit anderen Organsystemen adaptieren das vestibuläre und das für die Lokomotion verantwortliche System an einen 0 g-spezifischen Sollwert sehr schnell. Die bei einem ersten Raumflug erworbenen Bewegungsprinzipien werden auf spätere Raumflüge übertragen. Nicht viel langsamer erfolgt die Anpassung des kardiovaskulären Systems an einen spezifischen 0 g-stabilen Zustand. Die Anpassung erfolgt nicht im Sinne einer Sättigungskinetik, sondern kann über einen typischen 0 g-Sollwert hinausschießen und so für einige Tage klinische Symptome, z.B. die Raumkrankheit, bei einer Übersensitivierung des vestibulären oder des neurovegetativen Systems hervorrufen. Propriozeptive Aktivität aus den Beinen führt anfänglich zu der Empfindung einer Eigenkippung, später kommt es dagegen zur Illusionen einer Kippung des Raumschiffbodens. Neurophysiologische Untersuchungen an Fröschen zeigten nach einer anfänglichen Absenkung der Aktivität des Vestibulocochlearis ein Anheben der Aktivität in Richtung Grundniveau.
Die physiologische Rückanpassung sensorischer und neuronaler Systeme an die 1 g-Bedingungen auf der Erde nach Ende eines Raumflugs führt in der Regel zu einer Normalisierung. Darin unterscheiden sie sich von anderen Körpersystemen, bei denen es u.U. zu keiner Normalisierung mehr kommt (z.B. Demineralisation der Knochen). Anfänglich treten bei allen Astronauten Haltungs- und Laufprobleme auf, insbesondere wenn die Augen geschlossen sind. Sie umfassen Hüpfempfindungen während eines Schritts, die Unfähigkeit zum geradlinigen Laufen bei geschlossenen Augen, eine verminderte Gleichgewichtskontrolle beim Laufen um eine Ecke oder Balancieren auf einer Schiene sowie das Gefühl einer erhöhten Anstrengung beim Laufen. Die Nachflug-Störungen können z.T. auf eine zentrale Reinterpretation der Otolithensignale zurückgeführt werden, die während des Raumflugs wegen der fehlenden Schwere weitgehend als Translationsbewegung interpretiert werden. Beispielsweise kann eine Vorwärtskippung des Kopfes anfangs noch als Translationsbewegung nach hinten interpretiert werden. Doch müssen insbesondere nach langen Flügen Modifikationen berücksichtigt werden, welche die Veränderungen der Muskulatur und der Kontrollmechanismen des motorischen Systems (Sensomotorik, Hirnkarten motorischer Kontrolle, somatosensorische Empfindungen) betreffen. Die Erholung dieser Probleme zeigt einen exponentiellen Zeitverlauf mit einer erheblichen Verbesserung innerhalb von 12 Stunden nach der Landung und einem anschließenden langsamen Anpassen an den Normalzustand, welches Wochen dauern kann. Teilkomponenten der Bewegungs- und Haltekontrolle können dabei außerordentlich rasch readaptieren, wie z.B. vestibulospinale Reflexe. Die mittels Elektromyographie (EMG) vom Musculus gastrocnemius und Musculus soleus während einer kurzzeitigen Beschleunigung des Astronauten in Richtung seiner Füße abgeleiteten Muskelaktivierungen nehmen unter Schwerelosigkeit stetig ab, zeigen aber unmittelbar nach Rückkehr in die 1 g-Bedingungen zu Flugende eine gleich starke Empfindlichkeit wie vor dem Flug. Anders sieht bei Astronauten die Erholung des Kreislaufsystems aus, die in der Nachflugphase durch die starke orthostatische Intoleranz gekennzeichnet ist und noch wochenlange Beeinträchtigungen erkennen läßt. Eine lange Readaptationsdauer von bis zu mehreren Wochen ist bei Entwicklungsabläufen sensorischer Systeme bekannt, wie etwa beim statischen vestibulo-okulären Reflex von Fischen und Amphibien ( siehe Abb. 16 ).

Psychologische Aspekte des Raumflugs

Die langen Phasen einer Isolierung in kleinen Gruppen, die für zukünftige interplanetarische Flüge Jahre dauern können, hat einen Druck zur Analyse psychologischer Aspekte entstehen lassen. Aus diesem Grund hat sich parallel mit der Raumflugentwicklung seit 1960 die Richtung der Raumflug-Psychologie herausgebildet (Psychologie). Sie erarbeitet Fragen der zwischenmenschlichen Beziehungen in Kleingruppen (Gruppendynamik; Gruppenverhalten) nicht nur anhand von Raumflügen, sondern sammelt schon im Vorfeld Kenntnisse über Anpassungsmechanismen in anderen Isolationssystemen, z.B. in Großkammern von Großforschungsanlagen oder in Wohngemeinschaften von Antarktislaboratorien oder Tiefseeschiffen. Derartige Untersuchungen zeigen, daß sich die benötigte Zeitdauer zum Treffen von Entscheidungen unter langer Isolation verlängert und Fehlerquoten und Ermüdung bei Handlungen zunehmen. Hier sind allerdings auch individuelle Strategie-Unterschiede zu beobachten: bei hohen eigenen Leistungsansprüchen wird eine gleichbleibende Fehlerquote durch eine zunehmend langsamere Ausführung der Handlung erreicht. Angststärken (Angst) verändern sich offensichtlich nicht unter Isolierungsbedingungen. Innerhalb einer in Isolation befindlichen Gruppe können sich Subgruppen bilden, was zu einer massiven Störung des gesamten Wirkungsgefüges führen kann. Aus diesem Grund wurden Isolationsversuche bereits abgebrochen.
Beobachtungen im Rahmen der Organisation und Durchführung von Shuttle-to-Mir-Missionen zwischen 1995 und 1997 zeigten schwerwiegende individuelle, zwischenmenschliche und organisatorische Unterschiede zwischen amerikanischen und russischen Raumfliegern und dem Bodenpersonal. Die individuelle Ebene schloß Persönlichkeitsprofile ein, die eine Vorhersage über das erfolgreiche Erledigen von Aufgaben, die Bewältigung des Isolations-Stresses und seine Auswirkung auf Emotionen und kognitive Leistungsfähigkeit (Kognition) erlaubten sowie Anforderungen an die psychologische Unterstützung der Mannschaft und ihrer Familien während der Mission stellten. Die Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen berücksichtigte die Verschiedenheit von Mannschaft und Führungsstil in den kleinen Gruppen, Konflikt- und Spannungsbewältigung zwischen Besatzungsmitgliedern sowie adaptive Merkmale des Bodenpersonals. Auch auf der Organisationsebene kommt ein Einfluß Kultur-abhängiger Managementprinzipien bei individuellen und gruppenspezifischen Planungen und Tätigkeiten zum Ausdruck. Erkenntnisse aus solchen Untersuchungen werden genutzt, um Gegenmaßnahmen zu entwickeln, die dem Erhalt der Leistungsfähigkeit der Besatzung in monatelanger Isolation dienen, und um die Auswahlkriterien festzulegen, die für die Erstellung solch einer Besatzung erforderlich sind.

Die langfristigen Ziele neurowissenschaftlicher Forschung unter Weltraumbedingungen

Der Aufenthalt des Menschen im Orbit, auch über mehrere Jahre, ist das erklärte Ziel der Raumfahrttechnologie. Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist praktisch noch nichts bekannt über gesetzmäßige Veränderungen der Leistungsfähigkeit des Nervensystems und der mit ihm verbundenen Organsysteme unter solchen Bedingungen. Die vielen Beobachtungen über Veränderungen von neuronalen, sensorischen und motorischen Mechanismen nach den bisher nur als kurz anzusehenden Raumflügen könnten zur Vermutung führen, daß der erwachsene wie der sich entwickelnde Organismus im Weltraum erheblichen Schaden nimmt, wenn die schwerebedingte Gewichtskomponente über Monate bis Jahre fehlt. Andererseits ist jedoch von einer hohen Anpassungsfähigkeit des Nervensystems und der Sinnessysteme auszugehen, wie es schon unter Erdbedingungen die Reaktionen des Körpers auf neuropathologische Zustände sowie die bisherigen Beobachtungen im Rahmen von Raumflügen zeigen. Die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jh. werden dazu dienen, diese theoretischen Möglichkeiten auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen, damit das Risiko für die Lebensraum-Erweiterung in das All hinaus so gering wie möglich gehalten wird. Nach Einrichtung der Internationalen Raumstation ISS ( siehe Abb. 17 ) ist der nächste bedeutende Schritt der Flug zum Mars, dessen Dauer über zwei Jahre betragen wird. Neurowissenschaftliche Forschung an Tier und Mensch wird dazu beitragen, das Risiko für die Leistungsfähigkeit sensorischer, motorischer und neuronaler Systeme abzuklären. Die Analyse ihrer reflektorischen und kognitiven Mechanismen beim erwachsenen Tier und Mensch und auch beim sich entwickelnden Tier, das hierzu als Modellsystem zu sehen ist, ist unabdingbar. Andere Ziele neurowissenschaftlicher Forschung beinhalten die optimale Abstimmung zwischen Zeitgebern und circadianen Periodizitäten, um der Gefahr vorzubeugen, daß durch allmählich auseinanderdriftende endogene circadiane Rhythmen ein störungsfreies Arbeiten im Weltraum unmöglich wird, die Analyse der Arbeitsmöglichkeiten unter variablen g-Bedingungen, wenn im Laufe eines interplanetaren Raumflugs andere Gravitationsfelder berührt würden sowie die Analyse von Gesetzmäßigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen während langer Isolation. Die erste Phase der interplanetarischen "Eroberung" wird nicht ohne eine Überwachung von physiologischen Funktionen, ausgehend vom Mutterplaneten Erde, auskommen. Aus diesem Grund sind zuverlässige Parameter reflektorischer, kognitiver und mentaler Arbeiten zu ermitteln und die dazu notwendigen Gerätschaften zu entwickeln, die unter Nutzung von Teleoperation und Telepräsenz den Zustand der Raumfahrer akkurat messen, so daß im Risikofall der Mensch von der Erde aus, auch unter Einbeziehung automatischer Systeme des Raumschiffs, helfend eingreifen kann.

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Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Abb. 1: Bild des Space-Shuttle (Orbiter), in der Bildmitte (Aufdruck esa) das eigentliche bemannte Laboratorium (Spacelab), rechts davon eine Palette (geöffnet)

Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Gravitation ist die Eigenschaft aller Körper, entsprechend ihrer schweren Masse Anziehungskräfte (allgemeine Massenanziehung) aufeinander auszuüben. Die Gravitation wurde von I. Newton an den Gesetzen der Planetenbewegung (Keplersche Gesetze) und von H. Cavendish im Laboratorium mit einer Drehwaage nachgewiesen. Nach dem Newtonschen Gravitationsgesetz ziehen sich 2 Körper mit einer Kraft F an, die proportional dem Produkt ihrer Massen m und umgekehrt proportional dem Quadrat ihres Abstands r ist: F = G m1m2/r2. Der Proportionalitätsfaktor G ist die Gravitationskonstante (G = 6,672·10-11 kg-1m3s-2). Die irdische Schwerkraft ist nur ein Spezialfall der Gravitation.

Schwerelosigkeit ist die Bezeichnung für das scheinbare Fehlen von Gravitationskräften in einem System, das sich im Zustand des freien Falls befindet. Ein Mensch (allgemein ein Organismus) in diesem Zustand spürt keine Gewichtskraft mehr – er ist schwerelos. Ein auf der Erdoberfläche stehender Beobachter empfindet sein Gewicht (besser Gewichtskraft), weil der Erdboden ihn daran hindert, in gleichförmig beschleunigter Bewegung (infolge der Wirkung der Erdgravitation; Erdbeschleunigung g = ca. 9,80665 m·s-2) zum Erdzentrum hin zu fallen, indem er eine der Erdschwerkraft entgegengerichtete, gleich große Gegenkraft auf seine Füße ausübt (actio = reactio). Steht der Beobachter in einem (ohne Luftwiderstand) frei fallenden, völlig verschlossenen Kasten (ähnlich einer Aufzugskabine), so bewegen sich er und der Kastenboden mit exakt der gleichen Beschleunigung nach unten, so daß es keine zwischen dem Boden und seinen Füßen wirkende Kraft mehr gibt und er folglich auch kein Gewicht mehr verspürt. Die Versuchsperson wäre nicht in der Lage festzustellen, ob sie sich im freien Fall in einem Gravitationsfeld befindet oder fernab von gravitativ wirkenden Massen (antriebslos) im Weltraum dahindriftet. Das Auftreten von Schwerelosigkeit ist also nicht gleichbedeutend mit dem Nichtvorhandensein von Gravitationskräften. Der Begriff sagt lediglich aus, daß sich durch einen (wahrnehmungsmäßig von der Umwelt isolierten) Beobachter keinerlei Gravitationskräfte nachweisen lassen. Auch in einem antriebslos um die Erde kreisenden Erdsatelliten oder in einer Raumstation – die quasi "um die Erde herumfallen" –, herrscht nach den obigen Überlegungen Schwerelosigkeit.



Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Abb. 2: Methoden
1 Niedergeschwindigkeits-Zentrifugen-Mikroskop (NIZEMI) zur Bestimmung von Empfindlichkeitsschwellen des Raumlagesinns bei Kleinorganismen im Orbit
2 Linearschlitten zur Untersuchung der Empfindlichkeit des vestibulären Systems auf lineare Beschleunigungsreize im Orbit
3 Zentrifuge, mit der lineare Beschleunigungsreize und Winkelbeschleunigungsreize auf das vestibuläre System im Orbit erzeugt werden (Off-Axis-Rotator; mit ihm wurden 1998 auf der Neurolab-Mission Untersuchungen am Vestibularsystem durchgeführt; er wird auch auf der Internationalen Raumstation ISS eingesetzt werden)
4 LBNP-Kammer (E low body negative pressure) in Kombination mit der geneigten Liege, auf welcher die Versuchsperson in der Kopf-unten-Ruhelage (E head down tilt, HDT) liegt, so daß eine Flüssigkeitverschiebung in Richtung Kopf ausgelöst wird. Der in der LBNP-Kammer bestehende Unterdruck soll dieser Flüssigkeitsverschiebung entgegenwirken.



Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Abb. 3: Morphologie
Die Wirkung der Gewichtsentlastung auf die Entwicklung neuromuskulärer Kontakte wurde während der Neurolab-Mission an 8 Tage alten Ratten geprüft. Zum Startzeitpunkt besaßen mehr als 75% der motorischen Einheiten eine multiple Innervation der unreifen Muskelfasern (oben). Die weitere Entwicklung der Tiere der Bodenkontrolle (1 g) verlief normal; Motoneurone und Muskelfasern nahmen an Größe zu, die multiple Innervation verschwand, die Nervenendigungen änderten sich vom einfachen zum komplexen Verzweigungsmuster, und die Muskelfasern differenzierten sich vom schnellen zum langsamen Typ (unten links). Bei Tieren aus dem Orbit (0 g) verschwand die multiple Innervation, sie zeigten aber ein geringeres Wachstum der Neurone und Muskelfasern, und auch die weitere Entwicklung der Terminalen verlangsamte sich (unten rechts).



Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Abb. 4: Physiologie
Modulation der Aktivität von raumlagesensitiven Interneuronen (E position sensitive interneuron, PSI) von Heimchenlarven (Acheta domesticus), wenn die Tiere einmal um ihre Längsachse gerollt werden. Nach einem 16-tägigen Aufenthalt unter Schwerelosigkeit (0 g; Neurolab-Mission) war die Stärke dieser Modulation erheblich reduziert gegenüber derjenigen, die bei unter Erdschwere (1 g) gehaltenen Tieren gemessen wurde.



Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Abb. 5: Empfindlichkeitssteigerung von Otolithen-Afferenzen beim Krötenfisch (Opsanus tau) nach einem 16-tägigen Aufenthalt unter Schwerelosigkeit (0 g; Neurolab-Mission) im Vergleich zu derjenigen, die bei unter Erdschwere (1 g) gehaltenen Tieren gemessen wurden. Bei den 0 g-Fischen ist die Empfindlichkeit gegenüber aus unterschiedlichen Richtungen einwirkenden linearen Beschleunigungsreizen um das 3,5-fache gesteigert.



Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Abb. 6: Zelluläre Grundlagen der Geotaxis des Pantoffeltierchens (Paramecium aurelia). Mechanosensitive K+- und Ca2+-Ionenkanäle sind ungleich über die Zellmembran verteilt; am posterioren Pol überwiegen K+-Kanäle, am anterioren Pol Ca2+-Kanäle. Die Masse des Cytoplasmas erzeugt durch die Schwerewirkung eine Kraft auf die unteren Membranbereiche, wodurch es je nach Ausrichtung der Zelle zu einer Hyper- oder Depolarisation des Membranpotentials kommt. Diese Potentialänderung beeinflußt den Cilienschlag und damit das Schwimmverhalten. In die intrazelluläre Signalübertragung können Informationsträger wie Ca2+, cGMP oder cAMP eingreifen (Fragezeichen).



Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Abb. 7: Körperstellung von Tieren in der Schwerelosigkeit. Auffällige Merkmale sind Umklammern eigener Körperteile (1, Reptil), Überstreckung des Körpers (2, Amphibienlarve; 3, erwachsenes Amphibium) oder Strecken der Extremitäten sowie die Suche nach Klammerpunkten, selbst wenn dies ein anderes Tier ist (4, Säuger).



Neurowissenschaftliche Forschung unter Schwerelosigkeit

Abb. 8: Raumwahrnehmung
Lageempfindung von Astronauten während einer Zentrifugation der Stärke 1 g vor, während und nach einem Raumflug (Neurolab-Mission). Die unter Erdbedingungen (1 g) zu erwartende Kippempfindung liegt – gemäß der Richtung des aus der Überlagerung des Schwere- mit dem Zentrifugationsfeld resultierenden Kraftfelds (gravito-inertial acceleration, GIA) – bei 45°. Tatsächlich empfinden die Astronauten nur eine Kippung von etwa 35° (Messungen 90, 60, 30 und 15 Tage vor der Mission). Unter Schwerelosigkeit (0 g) wird erst nach mehreren Flugtagen (E flight days, FD) der theoretische Empfindungswert von 90° erreicht (Messungen an den Flugtagen 1, 2, 5, 7, 11, 12 und 16). Unter Schwerelosigkeit ist eine Kippung oder Translationsbewegung denkbar (Roll-Translations-Reinterpretation des Otolithensystems unter Schwerelosigkeit); tatsächlich wird aber eine Kippung wahrgenommen. Nach Rückkehr zur Erde kommt es vorübergehend zu einer zu großen Kippempfindung, verglichen mit den Vorflug-Werten (Messungen 1, 2, 4 und 9 Tage nach der Mission).



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Abb. 9: Richtung und Stärke einer Kippempfindung und der tatsächlichen Körperkippung, die durch Vibrationsreizung von Muskeln (Musculus soleus, Musculus tibialis, Nackenmuskel) ausgelöst werden. Die Reaktionen und Empfindungen basieren auf der durch diese Reizung induzierten Aktivität der afferenten Gruppe-Ia-Fasern der Muskelspindelorgane. Messungen vor, während und nach einem Raumflug.



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Abb. 10: Raumlage-Illusion
Schräglage-Illusion beim Liegen auf einer schwingenden Horizontalschaukel.



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Abb. 11: Zentralnervöse Grundlagen der Raumwahrnehmung und Raumorientierung
Räumliche Präferenzrichtungen bei lagesensitiven Neuronen des Gleichgewichtssinns der Katze (vestibuläre Karten). Am Katzenkopf sind die Roll- und Kippachsen markiert.
1 Richtungsrepräsentation im Otolithenorgan.
2 Hauptempfindlichkeitsrichtungen von Neuronen des Vestibulariskerns, die durch Otolithen-Reizung aktiviert werden.
3 Gleiches, nur für Rückenmarksneurone; hier kommt es zu einer extremen Reduktion der Hauptempfindlichkeitsrichtungen auf seitliche Rollbewegungen.



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Abb. 12: Bildung kognitiver Karten (Ortsgedächtnis) im Hippocampus bei der Raumorientierung von Ratten unter 1 g- und 0 g-Bedingungen (Neurolab-Mission). Mit diesem Versuch wurde nachgewiesen, daß proprio- und vestibuläre Information für eine Kartenbildung auch im dreidimensionalen Raum nicht notwendig ist, obgleich unter Erdbedingungen das Ortsgedächtnis auf einer Wechselbeziehung zwischen den hippocampalen Ortsneuronen (E place cells) und thalamischen Kopfrichtungsneuronen (E head-direction cells) aufbaut.
1 Schematische Darstellung eines Escher-Stegs, wie er im Orbit genutzt wurde. Auf ihm kommen die Tiere nach 3 Linkswendungen (und 3 Kippbewegungen) an den Ausgangspunkt zurück.
2 beispielhafte Darstellung eines Antwortmusters eines Orts-Neurons bei einem Versuch unter 0 g-Bedingungen auf dem Escher-Steg. Blaue Felder geben den Aufenthaltsbereich des Kopfes an; rote und gelbe markieren die Aktivitätsstärke der Orts-Neurone.



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Abb. 13: Raumkrankheit
Beziehung zwischen dem Schwimmverhalten und der Asymmetrie zwischen rechten und linken Otolithen. Die Versuche wurden im Rahmen von Parabelflügen durchgeführt, bei denen die g-Stärke zwischen 0 g und 2 g variierte. Oben: Otolithenasymmetrie für die unterschiedlichen Fischgruppen. Unten: Häufigkeit der 4 Verhaltensweisen normales Schwimmen, Ruhe, Kopfstand und Kinetose (Rotieren um die Körperlängsachse). Bis zu einer gewissen Stärke der Otolithenasymmetrie werden die dadurch verursachten physiologischen Asymmetrien zentralnervös kompensiert (Kompensationsgrenze).



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Abb. 14: Entwicklungsbiologie
Raumlageabhängige kompensatorische Kopf- und Augenbewegungen nach Beendigung eines mehrtägigen Raumflugs von Grillen (Neurolab-Mission), Fischen und Amphibien, die sich zu Startbeginn noch im Embryonalstadium befanden. In der Regel besteht zwischen der Stärke der kompensatorischen Bewegung und der Größe des Rollwinkels eine sinusförmige Beziehung. Bei der Grille wird der kompensatorische Kopfreflex nicht beeinflußt. Bei Fischen verstärkt sich der vestibulo-okuläre Reflex, erkennbar an der stärkeren Auslenkung der Sinusfunktion. Beim Krallenfrosch wird der vestibulo-okuläre Reflex abgeschwächt, erkennbar an der geringeren Auslenkung der sinusähnlichen Reflexkennlinie.



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Abb. 15: Nachweis einer sensitiven Phase in der Entwicklung motorischer Muster bei der Ratte. Grundlage war die Gewichtsentlastung der Hinterbeine, die sich nur zu charakteristischen Zeiten (Entlastung zwischen den postnatalen Tagen P8 bis P13) nachteilig auf die Entwicklung dieser Muster (Schlagdauer des Hinterbeins beim Schwimmen) auswirkt. Der Pfeil weist darauf hin, daß die während dieser Tage entlasteten Tiere zu diesem Test-Zeitpunkt nicht schwimmen konnten.



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Abb. 16: Readaptation der Augenreflexe bei Kaulquappen des Krallenfroschs (Xenopus laevis). Der vestibulo-okuläre Reflex (obere Bildreihe) wurde nach Beendigung einer 9-tägigen Schwerelosigkeit zu verschiedenen Zeitpunkten vermessen; eine Angleichung zwischen 0 g- und 1 g-Tieren dauerte länger als 2 Wochen.



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Abb. 17: Die ca. 420 t schwere Internationale Raumstation ISS nahm im Herbst 2000 die ersten Astronauten für einen mehrmonatigen Aufenthalt auf und soll 2004 fertiggestellt sein.

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