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Lexikon der Neurowissenschaft: Psychoanalyse und Neurowissenschaft

Essay

Marianne Leuzinger-Bohleber

Psychoanalyse und Neurowissenschaft

In den letzten Jahren scheint sich eine Vision von Sigmund Freud zu erfüllen: Sein Leben lang hoffte er, neuere Entwicklungen in der Neurowissenschaft könnten dazu beitragen, psychoanalytische Prozesse (Psychoanalyse) auch naturwissenschaftlich zu erforschen. Der englische Neurologe und Psychoanalytiker Mark Solms hat in vielen historischen und theoretischen Beiträgen belegt, daß sich Freud – angesichts des Standes der neurowissenschaftlichen Methoden seiner Zeit – von dieser Vision abwandte und die Psychoanalyse als ausschließlich psychologische Wissenschaft des Unbewußten definierte. Neuere Entwicklungen in der Neurowissenschaft, z.B. die Untersuchung des lebenden Gehirns mit Hilfe von bildgebenden Verfahren, aber auch die von Solms und anderen psychoanalytischen Forschern beschriebene neuroanatomische Methode, haben den interdisziplinären Dialog zwischen der Psychoanalyse und der Neurowissenschaft in den letzten Jahren befruchtet und intensiviert. 1999 erschien zum ersten Mal die internationale Zeitschrift Neuro-Psychoanalysis, in der namhafte Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Themen wie Emotionen und Affekt, Gedächtnis, Schlaf und Träume, Konflikt und Trauma sowie bewußte und unbewußte Problemlösungsprozesse detailliert und kontrovers diskutieren. 2000 wurde die internationale Gesellschaft für Neuro-Psychoanalyse (The International Society for Neuro-Psychoanalysis) gegründet, die in regelmäßigen Kongressen ebenfalls den Austausch zwischen diesen beiden Wissenschaften pflegt. Zudem haben sich in verschiedenen Ländern Forschungsgruppen gebildet, die Patienten nach lokalisierbaren Hirnverletzungen psychoanalytisch behandeln, einmal um diese Patienten bei der Verarbeitung ihrer Behinderungen (z.B. eines Neglects) therapeutisch zu unterstützen, aber auch um in diesen Therapien gemeinsam mit den Betroffenen klinisch sorgfältig die Auswirkungen der hirnorganischen Schädigungen auf das seelische Funktionieren und Befinden zu studieren. Die mit Hilfe dieser neuroanatomischen Forschungsmethode gewonnenen Erkenntnisse werden dokumentiert und im internationalen Austausch zwischen den Expertengruppen miteinander verglichen.

Weiter sei erwähnt, daß der Dialog zwischen der Psychoanalyse und der Neurowissenschaft in der cognitive science (Kognitionswissenschaft) auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Diese Grundlagenwissenschaft hat sich immer schon interdisziplinär verstanden und versucht, in ihrer Modellbildung intelligenten Verhaltens Wissen aus den Disziplinen künstliche Intelligenz, Psychologie, Linguistik, Neurobiologie, Philosophie und neuerdings auch den Ingenieurswissenschaften zu integrieren. Seit den 1960er Jahren wurde versucht, psychoanalytische Theorien, wie die Traumtheorie oder die psychoanalytische Abwehrlehre (Abwehr), mit Hilfe von Computersimulationen empirisch zu testen und mit dem Stand des interdisziplinären Wissens, z.B. der Neurowissenschaft, in Beziehung zu setzen. In den letzten Jahren konnte weiter gezeigt werden, daß neuere Konzeptualisierungen der sogenannten embodied cognitive science produktiv für ein vertieftes Verständnis von psychoanalytischen Prozessen genutzt werden können. Aufgrund jüngerer neurobiologischer Gedächtnismodelle (z.B. von Edelman, Rosenfield u.a.) erklären sie auf neue Weise etwa die Erfahrung, daß es in psychoanalytischen Behandlungen nicht genügt, wenn sich ein Patient an seine traumatischen Kindheitserfahrungen erinnert, sondern erst ein Durcharbeiten der damit verbundenen emotionalen, kognitiven und sensomotorischen Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung selbst (der Übertragung zum Analytiker) führt zu einer dauerhaften Veränderung der Symptomatik und des inadäquaten Verhaltens. So postuliert die biologisch orientierte Gedächtnisforschung, daß Erinnerungsprozesse nicht in völlig analoger Weise wie ein Computer funktionieren: Im Gehirn existieren keine Speicherplätze, aus denen Informationen, die in früheren Situationen erworben wurden, "auf Knopfdruck abgerufen" werden können, wie es nach einem Druck auf eine Taste des Computers geschieht. Stattdessen ist das Gehirn als lebendes System auf eine aktuelle sensomotorisch-affektive Stimulation angewiesen, bei deren Verarbeitung neuronale Prozesse in analoger Weise koordiniert werden, wie dies in einer früheren Situation geschah. Dank dieser aktiven, konstruierenden und interaktiven Prozesse ist das Gehirn (bzw. der gesamte Organismus) in der Lage, "Gedächtnis" zu produzieren, d.h. sich z.B. an frühere Situationen zu erinnern. Pointiert und verkürzt zusammengefaßt: Ein Patient ist häufig nicht dazu in der Lage, sich allein – ohne ein entsprechendes Gegenüber – an jene konflikthaften, früheren Erfahrungen zu erinnern, die auch heute noch sein Verhalten unerkannt bestimmen und seine neurotischen bzw. psychopathologischen Symptome determinieren. Erst die Interaktion mit dem Therapeuten, einer für ihn emotional wichtigen Person, ermöglicht ihm dann schließlich ein Erinnern an diese traumatischen und "krankmachenden" Erfahrungen. Dies kann dank der professionell geschulten Wahrnehmung der Therapeuten einen gemeinsamen kritischen Reflexionsprozeß einleiten, der – so die Erfahrung der Psychoanalyse – schließlich zu einer Korrektur inadäquaten Verhaltens und dem Verschwinden psychopathologischer Symptome führen kann.

Dieses Beispiel mag illustrieren, daß der Dialog mit der Neurowissenschaft Psychoanalytikern die Chance bietet, ihre eigenen Beobachtungen und klinischen Entdeckungen durch einen "fremden Blick auf das Eigene" neu zu verstehen. So wird z.B. aufgrund der Forschungen zur Entwicklung des Gehirns, die die Relevanz der Früherfahrungen für die affektive, kognitive und soziale Persönlichkeitsbildung belegen, theoretisch auf neue Weise faßbar, warum therapeutische Veränderungen mit ihrem Ziel, verbales und nonverbales Verhalten auf einem besseren, "gesünderen" Adaptationsniveau an aktuelle Situationen zu integrieren bzw. zu modifizieren, "ihre Zeit brauchen". Die Neurowissenschaft bietet der Psychoanalyse objektive und detaillierte Erkenntnisse zur Funktionsweise des menschlichen Gehirns an, mit denen sich psychoanalytische Theorien als "external kohärent" (Carlo Strenger) erweisen müssen. Doch auch für Neurowissenschaftler mag der Dialog mit der Psychoanalyse interessant sein, wie einige Autoren, so etwa Howard Shevrin, in der erwähnten Zeitschrift Neuro-Psychoanalysis diskutieren: Die Psychoanalyse bietet aufgrund ihrer nun hundertjährigen spezifischen "Feldforschung", der intensiven und minutiösen Arbeit mit seelisch kranken Menschen, den Neurowissenschaftlern Theorien an, die auf einer komplexen Ebene seelische Integrationsprozesse beschreiben und dabei sowohl die unverwechselbare Subjektivität als auch den persönlichen und biographischen Kontext eines Individuums berücksichtigen. Zudem bietet die Psychoanalyse eine spezifische Forschungsmethode an, die intime und persönliche Vorgänge eines einzelnen Menschen mit einer Tiefe und Genauigkeit untersucht wie kaum eine andere psychologische Vorgehensweise.

Trotz der erwähnten historischen Chance eines produktiven interdisziplinären Dialogs zwischen der Psychoanalyse und der Neurowissenschaft muß jedoch vor einem vorschnellen Optimismus gewarnt werden: Der Dialog befindet sich erst in den Anfängen und stellt für die beteiligten Wissenschaftler eine große Herausforderung dar. Der Austausch ist zudem mit schwierigen methodischen und wissenschaftstheoretischen Problemen verbunden, die sorgfältig bedacht werden müssen, um z.B. nicht eigenen Projektionen auf die jeweils fremde wissenschaftliche Disziplin anheim zu fallen und von ihr die Lösung aller offenen wissenschaftlichen Fragen zu erwarten.

Lit.: Koukkou, M., Leuzinger-Bohleber, M., Mertens, W. (Hrsg): Erinnerung von Wirklichkeiten. Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog. Stuttgart 1998. Neuro-Psychoanalysis. Madison (seit 1999). PSYCHE Sonderheft: Psychoanalyse, Kognitionsforschung, Neurobiologie. Stuttgart 1998.

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