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Lexikon der Neurowissenschaft: Wissenschaftstheorie

Wissenschaftstheorie w, eine Metadisziplin, die wie die Erkenntnistheorie nicht nach der Struktur der Welt fragt, sondern nach der Struktur unseres Wissens von der Welt (Wissen), insbesondere nach den Strukturen und Methoden der Erfahrungswissenschaften. (Die Metatheorien der Strukturwissenschaften, etwa die Metamathematik, bleiben hier unberücksichtigt.) Dabei bemüht sie sich sowohl um vorliegende, "fertige" Theorien (Wissenschaft als Ergebnis) als auch – als diachronische Wissenschaftstheorie – um Wissenschaft im Werden (Wissenschaft als Prozeß). Sie arbeitet beschreibend ("Wie gehen Wissenschaftler vor?") und vorschreibend ("Wie sollten sie vorgehen?"), besitzt also jenen deskriptiv-normativen Doppelcharakter, der für methodologische Disziplinen charakteristisch ist. Ihre Hauptaufgaben sind logische Analyse (Logik) und rationale Rekonstruktion von wissenschaftlichen Problemen, Theorien, Methoden und Argumenten. Solche Rekonstruktionen dienen der Erhellung, der Systematisierung, der Präzisierung, der Kritik und möglicherweise der Korrektur. Ob eine Rekonstruktion angemessen ist, erweist sich freilich nicht im Experiment, sondern nur im Vergleich mit der "tatsächlichen" Wissenschaft. Nun macht allerdings die Wissenschaftstheorie selbst darauf aufmerksam, daß es so etwas wie "nackte Tatsachen" gar nicht gibt; vielmehr hängt schon die Auswahl und Deutung der Tatsachen von Erwartungen und Vor-Urteilen, von subjektiven Bewertungen und Präferenzen ab. Dem hier drohenden Zirkel kann man nur dadurch entgehen, daß man dem faktischen Wissenschaftsbetrieb einen gewissen Vertrauensvorschuß einräumt, ihn als ein im Kern vernünftiges Unternehmen ansieht. Tut man nicht einmal dies, so erübrigt sich jede Rekonstruktion, da für deren Angemessenheit dann gar keine Prüfinstanz mehr zur Verfügung steht. Sollten sich allerdings aufeinanderfolgende Rekonstruktionsversuche regelmäßig als verfehlt erweisen, so müßte das genannte Rationalitätspostulat selbst kritisiert, notfalls sogar aufgegeben werden. – Der Aufgabenbereich der Wissenschaftstheorie wird vielleicht am besten abgesteckt, indem man einige ihrer Probleme nennt und als Fragen formuliert: Was ist eine wissenschaftliche Erklärung? (Wie verwenden Wissenschaftler den Begriff der Erklärung, und wie sollten sie ihn verwenden?) Analog: Was ist eine Hypothese, ein Naturgesetz, eine Theorie, eine Wissenschaft? Was unterscheidet Beobachtung, Messung, Experiment und Test? Was ist eine Definition, und welche zusätzlichen Forderungen muß eine Explikation erfüllen? Welche Begriffsarten gibt es, was unterscheidet insbesondere Beobachtungs- und theoretische Begriffe, und wie werden wissenschaftliche Begriffe gebildet? Welches sind und welchen Status haben die elementaren Beobachtungsaussagen (Protokollsätze, Konstatierungen)? (Wie) können sie als empirische Basis für erfahrungswissenschaftliche Theorien dienen? Gibt es wahrheitsbewahrende Erweiterungsschlüsse? (Deduktion, Induktion) Wie lauten solche Schlüsse oder Verfahren, und (wie) lassen sie sich rechtfertigen? Gibt es einen deduktiven Bestätigungsbegriff und (wie) läßt er sich auszeichnen? Wie lauten die Normen für rationale Entscheidungen und (wie) lassen sie sich begründen? Welches sind die Kriterien zur Beurteilung wissenschaftlicher Theorien? Wie kann man "gute" erfahrungswissenschaftliche Theorien von anderen, insbesondere von pseudowissenschaftlichen Auffassungen unterscheiden? Welche Rolle spielen dabei die notwendigen Kriterien Zirkelfreiheit, Widerspruchsfreiheit, Erklärungswert, Prüfbarkeit und Testerfolg, welche die erwünschten Merkmale wie Einfachheit, Anschaulichkeit, Tiefe, Präzision, Wiederholbarkeit usw.? Lassen sich erfahrungswissenschaftliche Gesetze, Theorien und Wissenschaften auf andere zurückführen? In welchem Sinne und unter welchen Bedingungen sind solche Reduktionen möglich? Wie kommt es, daß Logik, Mathematik und andere Strukturwissenschaften sich zur Beschreibung der Welt so gut eignen? Wie kommt es, daß unter konkurrierenden Theorien in der Regel eine sich als allen anderen überlegen erweist? – Reduktionsprobleme: Fragen der Definierbarkeit, der Ableitbarkeit, der Rückführbarkeit treten in vielen Zusammenhängen auf. Für die Neurowissenschaft stellen sich einige besonders interessante Reduktionsprobleme (Reduktionismus), z.B.: Kann man psychische Phänomene neurophysiologisch erklären (Leib-Seele-Problem)? Kann man soziales Verhalten bei Tieren und Menschen biologisch-evolutionstheoretisch erklären (Soziobiologie)? Und läßt sich die Neurowissenschaft als Ganzes auf andere Disziplinen, z.B. auf Physik und Chemie, zurückführen? Die Diskussion über derartige Probleme ist keineswegs abgeschlossen; sie hat aber doch zu wichtigen Einsichten geführt. Wie sich gezeigt hat, gibt es sehr unterschiedliche Reduktionsbegriffe, die für verschiedene Bereiche relevant sind. Die letzte Frage z.B. betrifft das Gesamtgebäude der Erfahrungswissenschaften, also auch die Einheit der Wissenschaft und die Frage nach der Einheit der Natur. Kein Wunder, daß die jeweiligen Antworten stark von den verwendeten Reduktionsbegriffen abhängen. Die formulierten Probleme können deshalb überhaupt nur sinnvoll diskutiert werden, wenn ein präziser Reduktionsbegriff zugrunde gelegt wird. – Eine Reduktion im Sinne einer strengen logischen Ableitung (Reduktion durch Deduktion) ist in den Erfahrungswissenschaften im allgemeinen und auch in den vorliegenden Fällen nicht möglich. Daraus sollte man jedoch nicht den Schluß ziehen, daß die vom Wissenschaftler intuitiv durchaus erwartete Reduzierbarkeit reine Utopie sein müsse. Wie so oft in der Wissenschaftstheorie könnte es mit einem verfeinerten Instrumentarium durchaus gelingen, der Intuition des Wissenschaftlers gerecht zu werden, hier z.B. mit dem Begriff einer approximativen Reduktion. Die Kernfrage ist also nicht "Reduktion – ja oder nein?", sondern "Wie muß der Reduktionsbegriff verfeinert werden, damit eine Reduzierbarkeit sinnvoll erwartet oder aufgewiesen werden kann?" Und auch hier gilt wieder: Erst wenn die Versuche, einen angemessenen Reduktionsbegriff zu explizieren, regelmäßig scheitern sollten, ist es sinnvoll, die Reduzierbarkeitsthese als verfehlt anzusehen. Zukunft der Neurowissenschaft

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