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Amerika 1492. Die Indianervölker vor der Entdeckung


Die Ureinwohner Amerikas verdienen als grandiose Kulturschöpfer und als oft mißhandelte und unterdrückte Mitmenschen unser Interesse. Diese Aufgabe hat nicht nur das schwedische Nobel-Komitee gesehen und der guatemaltekischen Quiché-Indianerin Rigoberta Menchú den Friedensnobelpreis 1992 verliehen; auch Schriftsteller und Wissenschaftler fühlten sich gefordert, anläßlich der 500. Wiederkehr der europäischen Entdeckung und Eroberung Amerikas aufklärend und informierend zu wirken.

Die Absicht des von Alvin M. Josephy herausgegebenen Buches liegt in diesem politisch-reuigen Wiedergutmachungstrend. Der amerikanische Historiker spricht das in seinem Vorwort „Das Zentrum des Universums“ auch deutlich aus: Zunächst sollen die europäische Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 und die anschließende zielstrebige und gewalttätige Eroberung und Unterjochung des ganzen Kontinents Anlaß sein, uns Europäer und Abkömmlinge von Eroberern als Erben dieser Untaten bescheiden zu stimmen.

Bescheidenheit tut beim Lesen des Buches in der Tat not: Kapitel für Kapi-tel muß man ertragen, wie bedeutende Forscher sich mit der unerfüllbaren Forderung des Herausgebers abplagen, Hunderte von Kulturen im Detail und bezogen auf bestimmte Lebensbereiche – wie Sprache, Religion, Literatur und Wissenssysteme – zu schildern, um ein gültiges und differenziertes Bild der Kulturen Amerikas zum Stichjahr 1492 zu entwerfen. Wie soll das möglich sein, wo es doch damals keine europäischen Beobachter gab, die darüber hätten berichten können? Es gelingt den meisten Autoren denn auch eher schlecht als recht, und es wimmelt demgemäß von entschuldigenden Formulierungen wie „So hätte es 1492 sein können“. Manche machen es sich freilich zu leicht, indem sie ihre historischen oder archäologischen Rekonstruktionen fälschlich als erwiesene Wahrheiten ausgeben und das Problem so unter den Teppich kehren.

Andere Autoren bewältigen die problematischen Vorgaben methodisch und inhaltlich angemessener und bringen dabei sogar einen anregenden und informativen Text zustande. Richard D. Daughertys Beitrag über „die Lachsfischer“ der Nordwestküste (Seiten 63 bis 106) ist hier hervorzuheben. Um seiner Abhandlung Struktur zu geben, bezieht er sich immer wieder auf die Ausgrabungsbefunde der prähistorischen Siedlung Ozette und schildert, deutlich als fiktiv gekennzeichnet, das Leben in diesem Dorf, wie es aufgrund archäologischer Analysen der Funde und ethnographischer Parallelen zu späteren Bewohnern der Nordwestküste plausibel erscheint.

Doch das Buch soll den Leser wohl nicht so sehr mit seinen Texten, sondern in erster Linie mit seinen etwa 100 Abbildungen ansprechen. Diese sind aus alten Werken, zum Teil sogar aus unveröffentlichten Handschriften im Bestand der Chicagoer Newberry Library, reproduziert. Idee und Auftrag zu diesem Buch kamen aus besagter Bibliothek, deren Beitrag zum Kolumbus-Jahr 1992 es sein sollte; und so wird auch verständlich, daß drei der 17 Autoren Mitarbeiter dieser Bibliothek sind.

Wie trotz dieser geballten Sachkompetenz und des direkten Zugriffes auf die besten Quellen und Hilfsmittel die Illustrierung zum Teil so unangemessen ausfallen konnte, bleibt mir unerklärlich. Die originalen Abbildungen sind meist prächtig und konturscharf gedruckte Stiche, manche sind sogar sorgfältig handkoloriert. Im vorliegenden Buch werden sie nur schwarzweiß und oft so schlecht reproduziert, daß man nicht nur den abgebildeten Indianern, sondern auch den Künstlern Unrecht tut. Bei den Bilderläuterungen werden Namen von Autoren gelegentlich grob falsch genannt: Hans Staden etwa, ein einfacher Büchsenmacher aus Homberg in Hessen, der aber durch die Umstände seiner Amerika-Erlebnisse zum bedeutendsten frühen Berichterstatter über den Kannibalismus der Tupinambá-Indianer an der brasilianischen Küste wurde, heißt dort „Johann von Staden“.

Oft wird der Verfasser des Textes fälschlich auch als Autor der Illustrationen ausgegeben; und bei vielen Abbildungen haben die Herausgeber schlicht jeglichen Hinweis auf die Quelle unterlassen. Herausgeber und Verlag ist es außerdem gelungen, die Abbildungen im Buch so zu plazieren, daß sie mit dem umgebenden Text nichts zu tun haben. Da in den Texten nirgends auch nur auf eine einzige Abbildung Bezug genommen wird, sind Bilder und Texte in diesem Buch getrennte Welten, die der Leser kaum zusammenbringen kann. Das ist bedauerlich, denn beispielsweise die Zeichnungen des Franzosen Louis Nicholas von den Waldindianern des Nordostens, von denen hier einige erstmals der Öffentlichkeit vorgeführt werden, waren auch Fachleuten bisher wenig bekannt, und man wüßte gern Genaueres über ihren Künstler und die Bildinhalte.

Als editorischer Tiefpunkt (aber durchaus symptomatisch für die unsorgfältige Mache des ganzen Buchs) kann der Beitrag über „Die Welt der Kunst“ von „Christian F. Fesst“ gelten (Seiten 504 bis 534; der richtige Name des Verfassers, eines der führenden europäischen Amerikanisten, ist Feest). Der Beitrag bescheidet sich mit der Abbildung von drei Gebrauchsgegenständen, unter denen höchstens einem – einer abstrakt bemalten Tonschale der Pueblo-Indianer aus dem 15. Jahrhundert – etwas Künstlerisches eignet. Die Bibliographie zu diesem Beitrag wie zu allen anderen auch weist kein einziges deutschsprachiges Werk auf, obgleich Feest lesenswerte Bücher auf Deutsch veröffentlicht hat.

Um den Leser von der Überlegenheit alles Indianischen zu überzeugen und damit zugleich anti-europäisch zu stimmen, schmückt sich das Buch mit einem Kapitel des nordamerikanischen Schriftstellers und Pulitzer-Preisträgers indianischer Herkunft N. Scott Momaday „Das Werden des einheimischen Amerikaners in der Zeit vor Kolumbus“ und einem „Nachwort“ des indianischen Rechtsanwalts und Aktivisten Vine Deloria. Vor allem diese beiden Kapitel sind von der Sache her unergiebig, in Passagen faktisch falsch und interpretativ obskur. So begründet Momaday seine gegenüber dem (weißen) Forscher qualitativ besseren Erkenntnismöglichkeiten so: „Wenn ich mein Blut durch die Generationen hindurch zum ersten Menschen in Amerika zurückverfolge, sehe ich vor meinem inneren Auge eine Prozession schamanischer Gestalten“ (Seite 25). Und Vine Deloria versucht am Schluß seines Beitrages, der zugleich den ganzen Band beschließt, dem nicht-indianischen Bewohner Amerikas die Zukunft so zu vermiesen: „Andere Prophezeiungen sagen, der weiße Mann werde unter allen Völkern, die je versuchten, in diesem Land zu leben, der kurzlebigste sein“ (Seite 553). Da kann man nur jedem weißen Amerikaner (Frauen eingeschlossen) raten, sein Geld schnell der Newberry Library zu stiften, die damit indianische Forscher unterstützt, wozu – wie ausdrücklich gesagt wird – der Verkaufserlös dieses Buches dienen soll.

Glücklicherweise ist das Jahr 1992 vorbei, so daß die Hoffnung besteht, daß deutsche Verlage uns in Zukunft mit der Übernahme und Übersetzung solcher anlaßbezogener literarischer Machwerke verschonen werden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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