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Andrej D. Sacharow - vom Atomphysiker zum Menschenrechtler

Der Erfinder der sowjetischen Wasserstoffbombe wurde zum Anwalt des Friedens und der Menschenrechte. Was trieb ihn zu dieser schicksalhaften Entscheidung?


Es war der 12. August 1953. Andrej Dmitrijewitsch Sacharow hatte gerade die Explosion des neuen "Produkts" beobachtet – der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe, die auf einem von ihm ersonnenen Konstruktionsprinzip beruhte. Er zog sich einen staubdichten Overall an und fuhr gemeinsam mit anderen Versuchsleitern in die Explosionszone. Der Wagen hielt neben einem Adler, der aufzufliegen versuchte; seine Flügel waren versengt. "Wie mir erzählt wurde, kommen bei jedem Versuch Tausende von Vögeln ums Leben", schrieb Sacharow später in seinen Memoiren. "Sie fliegen beim Explosionsblitz auf, fallen dann jedoch versengt und geblendet zu Boden."

Die unschuldigen Opfer der Atomtests sollten für diesen außergewöhnlichen Mann zum ernsthaften Anliegen und schließlich zur Obsession werden. Während er immer effizientere Bomben entwickelte, ließ ihn die Frage nicht los, wieviele Menschenleben der radioaktive Niederschlag von jeder einzelnen Zündung kosten würde. Seine zahlreichen erfolglosen Ansätze, unnötige Tests zu verhindern, ließen ihn schließlich erkennen, wie wenig Kontrolle er über die Waffen ausüben konnte, die er geschaffen hatte.

Vielfach wurde spekuliert, wie sich Sacharows Wandel vom Waffenkonstrukteur zu einem Verfechter der Menschenrechte vollzog. Nach seinem Tod 1989 veröffentlichten die russischen Staatsarchive zahlreiche bis dahin geheime Dokumente über sein Leben und seine Arbeit, die nun in den Sacharow-Archiven in Moskau aufbewahrt werden. Diese Papiere belegen ebenso wie Sacharows eigene Schriften, daß seine Wandlung unmittelbar mit der Beteiligung am Waffenprojekt zusammenhing. Jahrelang war Sacharow überzeugt, daß nukleare und thermonukleare Waffen für die Erhaltung des militärischen Gleichgewichts notwendig seien und einen Angriff durch die USA abschreckten. Seine spätere Wandlung beruhte nicht auf einer neuen Moral, sondern auf seinen im Grunde altmodischen Ansichten und auf seinen gesammelten Erfahrungen mit Waffen und Rüstungspolitik.





Ein gefährlicher Blätterteigkuchen




Sacharow wurde am 21. Mai 1921 in einer Familie der Moskauer Intelligenzija geboren. Sein Vater, ein Mann mit sozialem Pflichtgefühl und offenem Wesen, war Physiklehrer und Verfasser von populärwissenschaftlichen Werken und Lehrbüchern. Nach Abschluß der Oberschule schrieb sich Sacharow 1938 an der physikalischen Fakultät der Moskauer Universität ein. Der Einberufung zum Militär nach Ausbruch des Krieges mit Hitler-Deutschland entging er wegen seines schwachen Herzens. 1942 schloß er sein Studium mit Auszeichnung ab, weigerte sich jedoch, höhere akademische Würden anzustreben: Er wollte einen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisten. Es gelang ihm schließlich, eine Stelle als Ingenieur in einem Rüstungsbetrieb in Uljanowsk zu finden; dort lernte er auch Klawdija Alexejewna Wichirewa kennen, die er im Alter von 22 Jahren heiratete.

Im zentralen Werkslabor dieses Betriebes machte er sich in der Qualitätskontrolle verdient und erfand zum Beispiel ein magnetisches Verfahren für die Kontrolle der produzierten Geschosse. Zu seinen schöpferischen Errungenschaften jener Zeit gehören auch die Lösungen einiger kleinerer physikalischer Probleme. Auf Vermittlung seines Vaters sandte er diese Artikel an Igor Jewgenjewitsch Tamm, den Leiter der theoretischen Abteilung des P.-N.-Lebedew-Instituts für Physik in Moskau. Dieser lud Sacharow Anfang 1945 in seine Arbeitsgruppe ein, um dort als Aspirant seine wissenschaftliche Ausbildung fortzusetzen.

Am Morgen des 7. August jenes Jahres erfuhr Sacharow aus der Zeitung, daß die Amerikaner über Hiroshima eine Atombombe abgeworfen hatten. Er erschrak: "Ich begriff, daß sich mein Schicksal und das Schicksal sehr vieler, vielleicht aller Menschen plötzlich verändert hatte."

Sacharow war offenkundig ein fähiger Wissenschaftler, und schon bald entwickelte er eine Theorie der Schallausbreitung in sprudelnden Flüssigkeiten, die sich für die Entdeckung von U-Booten mittels Sonars als bedeutsam erwies. Er berechnete zudem, wie die Kernfusion, also das Verschmelzen zweier Atomkerne, durch ein elektron-artiges Teilchen, das sogenannte Myon, begünstigt werden könnte. (Atome, die anstelle der Elektronen die schwereren Myonen in der Hülle enthalten, sind viel kleiner, weshalb zu ihrer Verschmelzung eine wesentlich geringere Kompression erforderlich ist.)

Fasziniert von der reinen Physik lehnte er zwei Aufforderungen ab, am sowjetischen Atomwaffenprojekt mitzuarbeiten. Eine Atombombe basiert auf der Spaltung schwerer Atomkerne – wie etwa derjenigen des Uran-235 – in zwei ungefähr gleich große Teile, wobei Energie freigesetzt wird. Doch im Juni 1948 eröffnete ihm Tamm, daß er und einige ausgewählte Mitarbeiter, darunter Sacharow, den Auftrag erhalten hätten, die Möglichkeit einer Wasserstoffbombe zu untersuchen. Eine solche Waffe beruht auf der Verschmelzung leichter Atomkerne wie etwa der beiden Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium, die weit mehr Energie freisetzt als eine Spaltreaktion.

Jakow Borissowitsch Seldowitsch, ein brillanter Physiker, der die theoretische Abteilung des Kernwaffenprogramms leitete, übergab Tamm einen Konstruktionsentwurf für die Wasserstoffbombe. Eine Kernspaltungsreaktion sollte so viel Energie erzeugen, daß die positiv geladenen Kerne des Fusionsbrennstoffs ihre gegenseitige Abstoßung überwinden und sich kurzzeitig berühren könnten. Eine solchermaßen in Gang gesetzte Fusion würde dann selbsttätig als thermonukleare Reaktion durch eine mit Deuterium gefüllte Röhre voranschreiten. Dieser von amerikanischen Wissenschaftlern konzipierte Plan, eine "Superbombe" durch die Explosion einer Atombombe zu zünden, war offenbar von dem am Manhattan-Projekt mitarbeitenden Physiker Klaus Fuchs 1945 dem sowjetischen Geheimdienst verraten worden.

Mit seinen theoretischen und ingenieurwissenschaftlichen Vorkenntnissen erwies sich Sacharow als hervorragend geeignet für die Entwicklung der Wasserstoffbombe. Trotz seiner untergeordneten Stellung schlug er schon bald ein völlig neues Design vor, die sogenannte sloika (russisch "Blätterteigkuchen"): eine Atombombe, abwechselnd umhüllt mit Schichten aus Deuterium und Natururan. Die bei der Explosion der Atombombe im Zentrum der Anordnung freigesetzten Elektronen sollten innerhalb der Uranhülle enorme Drücke und Temperaturen hervorrufen, wodurch das Deuterium zur Verschmelzung gebracht würde. Die Sowjets nannten diesen Prozeß "Sacharisierung" – wörtlich "Verzuckerung" (ein Wortspiel mit dem Namen des Erfinders: Das russische Wort sachar bedeutet "Zucker"). Die Fusion wiederum würde Neutronen freisetzen, welche die Spaltung des Natururans ermöglichten.

Dieses 3-Stufen-Konzept (Spaltung-Fusion-Spaltung) – verbessert durch die Idee von Witalij Lasarewitsch Ginsburg, Deuterium durch Lithiumdeuterid zu ersetzen – erlaubte es dem sowjetischen Programm, mit dem amerikanischen gleichzuziehen. Erst im Jahre 1950 erkannten die Wissenschaftler in den USA, daß ihr Superbomben-Design nicht funktionieren könne. Doch Stanislaw Ulam und Edward Teller vom Kernwaffenlabor in Los Alamos (New Mexico) entwarfen bald darauf ein neues Konzept, das sich schließlich als erfolgreich erwies. Das thermonukleare Wettrüsten zwischen beiden Staaten war in vollem Gang.

Sacharows Einsatz für die Bombe ist nicht nur mit seiner Begeisterung für die physikalischen Fragen der Kernfusion zu erklären, sondern auch mit seinem Patriotismus. Wie viele andere glaubte er, daß das "strategische Gleichgewicht" und die "wechselseitige nukleare Abschreckung" einen Atomkrieg verhindern würden. Er war mit großer emotionaler Anteilnahme bei der Sache: "Die ungeheure Zerstörungskraft, die gewaltigen Anstrengungen, die für diese Entwicklung nötig waren, die Mittel, die dem armen und hungernden, vom Krieg zerstörten Land weggenommen wurden, die Menschenopfer in den gesundheitsschädlichen Produktionsstätten und in den Zwangsarbeiterlagern – all dies zwang uns, so zu denken und zu arbeiten, daß alle Opfer, die als unumgänglich galten, nicht umsonst waren. ... Es war wirklich die Psychologie eines Krieges."

Doch als Sacharow eine Einladung erhielt, der kommunistischen Partei beizutreten, lehnte er dies wegen der von ihr begangenen Verbrechen ab. Als er und Tamm im März 1950 an einen geheimen Ort zitiert wurden, um sich dort zusammen mit anderen Waffenentwicklern ausschließlich der Arbeit an der Wasserstoffbombe zu widmen, konnte er sich freilich nicht widersetzen. Sacharow erfuhr, daß diese militärische Einrichtung in der ehemaligen Klosterstadt Sarow etwa 500 Kilometer östlich von Moskau von Gefangenen erbaut worden war. Die gesamte Stadt war von Stacheldrahtzäunen umgeben. Sie war auf keiner Karte verzeichnet, und selbst Eingeweihte benutzten nur verschiedene Codenamen, damals Arsamas-16.

Seldowitsch war bereits in Arsamas-16. Die Physiker verbrachten einen Großteil des Tages mit der Ausarbeitung von Details zum Bombendesign. Dennoch fand Sacharow die Zeit, seine Idee zum magnetischen Einschluß eines Plasmas zu entwickeln, also eines Gases, das so heiß ist, daß die Elektronen von den Atomkernen getrennt sind. Dieses Prinzip bildet die Grundlage des Tokamak-Reaktors und ist bis heute die vielversprechendste Konzeption zur Energiegewinnung aus einer gesteuerten, permanent aufrechterhaltenen Kernfusion. ("Tokamak" ist abgeleitet aus der russischen Bezeichnung für eine Ringkammer mit Magnetspule.)

Im November 1952 zündeten die USA einen experimentellen thermonuklearen Sprengsatz. Im August 1953 schließlich waren die Sowjets in der Lage, die sloika zu testen. In letzter Minute wies jedoch Viktor Gawrilow, ein Physiker mit einer Zusatzausbildung als Meteorologe, darauf hin, daß der radioaktive Niederschlag aus der Explosionswolke sich weit über das Testgelände hinaus ausbreiten und die Bevölkerung im Umland gefährden würde. Dieses Problem hatte niemand bedacht. Mit Hilfe eines amerikanischen Handbuchs über die Auswirkungen von Versuchsexplosionen schätzten die Physiker rasch die Ausdehnung der bedrohten Gebiete ab und erkannten, daß Tausende von Menschen umgesiedelt werden müßten. Ihrer Empfehlung wurde entsprochen (allerdings wies ein staatlicher Vertreter den besorgten Sacharow darauf hin, daß bei solchen Evakuierungen in der Regel 20 bis 30 Menschen zu Tode kämen).

Der Test der sloika verlief erfolgreich und setzte etwa 20mal soviel Energie frei wie die Hiroshima-Bombe. Innerhalb weniger Monate wurde Sacharow zum Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften ernannt – mit 32 Jahren war er der jüngste Physiker, dem diese Ehre je zuteil wurde. Er erhielt auch den Stalin-Preis und wurde mit dem Titel "Held der Sozialistischen Arbeit" ausgezeichnet. Die sowjetische Führung setzte große Hoffnungen in Sacharow: Er war brillant, war zudem kein Jude (im Gegensatz zu Seldowitsch und Ginsburg) und politisch nicht verdächtig (anders als Tamm).

Doch die sloika hatte einen Nachteil – ihre Sprengkraft konnte nicht beliebig erhöht werden –, und so legten Sacharow und Seldowitsch schon bald ein neues Design vor. Sie verfolgten die Idee, die von einer explosiven Kernspaltungsreaktion erzeugte elektromagnetische Strahlung zu verwenden, um ein Rohr zu komprimieren und darin eine Fusion auszulösen. Dieses dem Teller-Ulam-Prinzip ähnliche Konzept versprach eine unbegrenzte Sprengstärke, da das Rohr je nach Bedarf verlängert werden konnte.





In einer geheimen Stadt




Das Leben in Arsamas-16 war in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Die Forscher sprachen recht frei über politische Themen. Sie hatten zudem Zugang zu westlichen Zeitschriften – darunter das "Bulletin of the Atomic Scientists", das sich hauptsächlich mit den gesellschaftlichen Aspekten der Kernenergie befaßte und demonstrierte, wie Wissenschaftler jenseits des Eisernen Vorhangs versuchten, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und Einfluß auf die Öffentlichkeit und die Politik zu nehmen. Denkanstöße kamen etwa von Leo Szilard, der die Kettenreaktion der Kernspaltung entdeckt hatte und später zu einem vehementen Kritiker der Kernwaffen wurde. Auch die politischen Schriften von Albert Einstein, Niels Bohr und Albert Schweitzer waren Sacharow bekannt und beeinflußten zweifellos sein Denken.

Der Verwaltungsdirektor von Arsamas-16 vermerkte 1955, daß Sacharow zwar ein fähiger Wissenschaftler sei, jedoch in politischer Hinsicht deutliche Schwächen aufweise. So hatte er beispielsweise ein Angebot abgelehnt, in den Rat der Volksdeputierten, ein legislatives Gremium in Arsamas-16, gewählt zu werden. Diese "Schwächen" sollten noch schlimmer werden.

Am 22. November 1955 testeten die Sowjets die "echte" Wasserstoffbombe, die eine unbegrenzte Sprengkraft zuließ. Die Stoßwelle brachte einen entfernten Schützengraben zum Einsturz, wobei ein Soldat getötet wurde, und zerstörte außerhalb des Versuchsgeländes einen Schutzkeller, wodurch ein zweijähriges Mädchen umkam. Diese tragischen Folgen lasteten schwer auf Sacharow. Als er am Abend während des Banketts zur Feier des Versuchs um einen Trinkspruch gebeten wurde, sagte er: "Ich schlage vor, darauf zu trinken, daß unsere Produkte immer genauso erfolgreich wie heute über Versuchsgeländen explodieren mögen, doch niemals – über Städten." Marschall Mitrofan Nedelin, der Versuchsleiter, antwortete mit einem obszönen Witz, der Sacharow klarmachen sollte, daß er als Wissenschaftler sich um die Stärke der Bombe, aber nicht um deren Einsatz zu kümmern habe. Sein gesamtes Leben lang empfand Sacharow diese Zurechtweisung als Peitschenschlag: "Die Gedanken und Gefühle, die sich damals herausbildeten und bis heute ... nicht schwächer geworden sind, führten in den folgenden Jahren dazu, daß sich meine gesamte Einstellung änderte."

Während verschiedene Weiterentwicklungen des thermonuklearen Sprengsatzes erprobt wurden, sorgte sich Sacharow zunehmend um die anonym bleibenden Opfer jeder Explosion. Er brachte sich selbst genug Wissen über die Genetik bei, um berechnen zu können, wieviele Menschen weltweit an Krebs und anderen Mutationen als Folge eines Kernwaffentests leiden mußten.

Im Jahre 1957 berichtete die Presse in den USA von der Entwicklung einer angeblich sauberen thermonuklearen Bombe, in der fast kein spaltbares Material eingesetzt wurde und bei der es keinen radioaktiven Niederschlag gebe. Sacharow schätzte jedoch auf Grundlage verfügbarer biologischer Daten ab, daß die Explosion eines solchen Sprengsatzes, bei der das Energieäquivalent von einer Million Tonnen des chemischen Sprengstoffs TNT freigesetzt würde, im Laufe von 8000 Jahren ungefähr 10000 Todesopfer zur Folge hätte – zwei Drittel davon allein wegen der radioaktiven Strahlung des langsam zerfallenden Kohlenstoff-14, das entsteht, wenn die bei der Explosion erzeugten Neutronen von den Kernen des Stickstoffs in der Atmosphäre absorbiert werden. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er 1958 in der Juli-Ausgabe der sowjetischen Zeitschrift "Atomenergie" und resümierte, daß die atmosphärische Erprobung jeder Wasserstoffbombe – ob "sauber" oder nicht – Menschen schade.

Der sowjetische Premierminister Nikita S. Chruschtschow selbst hatte die Veröffentlichung des Artikels genehmigt. Sie diente seinen Zwecken: Im März 1958 hatte er überraschend einen einseitigen Verzicht auf Atomtests verkündet. Sacharow allerdings spielte keine politischen Spiele. Seiner Ansicht nach belegten seine Zahlen, daß "zu den schon in der Welt vorhandenen Leiden und Todesfällen noch zusätzliche Leiden und der Tod Hunderttausender von Opfern hinzukommen, auch in den neutralen Ländern sowie in späteren Generationen". Und weiter schrieb er: "Nach Ansicht des Verfassers besteht die Einzigartigkeit dieses Problems in moralischer Hinsicht darin, daß das Verbrechen völlig ungesühnt bleibt, da bei keinem konkreten Todesfall zu beweisen ist, daß er von Strahlung verursacht wurde, sowie darin, daß unsere Nachkommen unseren Handlungen völlig schutzlos ausgeliefert sind."

Im gleichen Jahr veröffentlichte Teller gemeinsam mit E. Latter das Buch "Unsere nukleare Zukunft", in dem die beiden Autoren die Mehrheitsmeinung amerikanischer und sowjetischer Experten darlegten, die Sacharows Bedenken nicht teilten. Teller schätzte die Strahlungsdosis von Atomtests auf etwa ein Hundertstel derjenigen anderer Quellen (etwa der kosmischen Strahlung oder einer medizinischen Röntgenuntersuchung). Er behauptete auch, daß die Lebenserwartung durch die Strahlung aus Kernwaffenversuchen um etwa zwei Tage verringert werde, während eine tägliche Packung Zigaretten oder eine vorwiegend im Sitzen ausgeübte Arbeit eine tausendfach stärkere Wirkung habe. Teller schrieb: "Man sagte, man dürfe kein einziges menschliches Leben der Gefahr aussetzen. Wäre es aber nicht realistischer, und würde es auch nicht mehr den Idealen der Menschlichkeit entsprechen, wenn man ein besseres Leben für die ganze Menschheit anstreben würde?" Für Sacharow klang dies wie das Sprichwort: "Wo gehobelt wird, fallen Späne." Er fühlte sich für jeden einzelnen durch den Fallout der Tests verursachten Todesfall verantwortlich.

Die USA und Großbritannien setzten ihre Versuchsexplosionen fort, und nach sechs Monaten ordnete ein wütender Chruschtschow an, die eigene Versuchsreihe wieder aufzunehmen. Sacharow war zutiefst besorgt wegen der nach seiner Überzeugung unvermeidbaren tödlichen Folgen und überredete Igor Kurtschatow, den wissenschaftlichen Leiter des Atomprojekts, Chruschtschow aufzusuchen und ihm zu erklären, wie mittels Computern, nicht-nuklearen Experimenten und Modellierungsverfahren Versuchsexplosionen überflüssig gemacht werden könnten. Doch Chruschtschow wies den unwillkommenen Rat zurück. Sacharow wiederholte seine Bemühungen 1961, als der Premierminister im Anschluß an ein faktisches Testmoratorium neue Versuche ankündigte. Verärgert forderte ihn Chruschtschow auf, die Politik jenen zu überlassen, die sie verstehen.

Im Folgejahr erfuhr Sacharow, daß die Erprobung von zwei sehr ähnlichen Wasserstoffbomben-Konstruktionen mit ungeheurer Sprengkraft bevorstand. Weil er den zweiten Versuch für unnötig hielt, versuchte er alles, ihn zu verhindern. Er zog gleichsam an allen ihm zur Verfügung stehenden Fäden, appellierte an Chruschtschow, verärgerte seine Kollegen und Vorgesetzten – vergebens. Als die zweite Bombe explodierte, legte er sein Gesicht auf den Schreibtisch und weinte.

Doch zu seiner Überraschung sollte es ihm kurz darauf gelingen, das Hauptproblem zu lösen. 1963 wurde sein Vorschlag, die besonders schädlichen atmosphärischen Kernwaffenversuche zu verbieten, von den Regierenden positiv aufgenommen. Noch im gleichen Jahr wurde in Moskau der Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser von Delegationen aus der Sowjetunion, Großbritannien und den USA unterzeichnet. Sacharow war auf seinen Beitrag mit Recht stolz. Nach Einstellung der atmosphärischen Tests legten sich seine Sorgen um ihre schädlichen Folgen.

Indes hatte ihn sein Verantwortungsbewußtsein bereits veranlaßt, zwei wichtige Schritte zu tun: Er widmete sich verstärkt moralischen und schließlich politischen Fragen. Seine Mitarbeit in dem Bombenprojekt war nicht mehr unbedingt erforderlich, doch durch sein Bleiben hoffte er, größeren Einfluß auf die Rüstungspolitik nehmen zu können.

In diesen Jahren fand Sacharow die Zeit, zu seiner alten Liebe, der Grundlagenforschung, zurückzukehren. Ein Problem, das die Wissenschaftler noch immer plagt, ist der Überschuß an Materie gegenüber Antimaterie im Universum (vergleiche "Die Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie", Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1998, S. 90). Er analysierte die Bedingungen, unter denen sich ein solches Ungleichgewicht herausbilden konnte. Dies wurde sein bedeutendster Beitrag zur theoretischen Physik. Wladimir Karzew, ein junger Physiker, der Sacharow um ein Vorwort für ein populärwissenschaftliches Werk bat, erinnert sich, daß dieser sehr glücklich ausgesehen habe, voller kreativer Energie und Ideen über die Physik.

Im Jahre 1966 unterzeichnete Sacharow einen Gemeinschaftsbrief an den XXIII. Parteitag der Kommunistischen Partei, in der es offenbar Tendenzen gab, Stalin zu rehabilitieren. Im Dezember des gleichen Jahres nahm er an einer Schweigedemonstration zum Schutz politischer Häftlinge teil, zu der er anonym aufgefordert worden war. Doch als er an die sowjetische Regierung schrieb, um Dissidenten zu unterstützen, wurde sein Gehalt gekürzt, und er verlor eine seiner Verwaltungsaufgaben. Diese Ereignisse brachten ihn immer stärker in den schicksalsbestimmenden Kontakt mit Aktivisten in Moskau.

Sacharows Weltanschauung wurde zunehmend radikaler und veranlaßte ihn zu weiteren Meinungsäußerungen. Im Juli 1967 sandte er mit der Geheimpost einen Brief an die Regierung. Darin argumentierte er, daß das von den USA vorgeschlagene Moratorium zu Raketenabwehrsystemen im Interesse der Sowjetunion läge, da ein Rüstungswettlauf in dieser neuen Technologie einen Atomkrieg viel wahrscheinlicher mache. Das neun Seiten starke Memorandum, dem zwei fachliche Anhänge beigelegt waren, befindet sich heute in den Sacharow-Archiven. In diesem Brief bat er unter anderem um die Genehmigung, ein beigelegtes zehnseitiges Manuskript in einer sowjetischen Zeitung veröffentlichen zu dürfen, um den amerikanischen Wissenschaftlern zu helfen, "ihre Falken in Schach zu halten". Der Ton des Artikels zeigt, daß Sacharow sich immer noch als Fachmann betrachtete, der sich "den wirklichen Interessen der sowjetischen Politik" verpflichtet fühlte.

Doch die Genehmigung wurde verweigert. Diese Ablehnung bestätigte den Physiker erneut in der Ansicht, daß die politisch Verantwortlichen die Gefahren, die sie der Welt zumuten, nicht zur Kenntnis nehmen.

Anfang 1968 begann Sacharow die Arbeit an einem bedeutenden Essay, den er "Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit" betitelte. Er bemühte sich nicht, das Manuskript geheimzuhalten – die Sekretärin von Arsamas-16 tippte es ab und übergab einen Durchschlag an den KGB. (Dieser Durchschlag findet sich heute in den Präsidialarchiven in Moskau.) Der Aufsatz beschreibt die ernsten Gefahren eines Krieges mit thermonuklearen Waffen und fährt mit der Diskussion anderer Risiken fort wie der Umweltverschmutzung, der Überbevölkerung und dem Kalten Krieg. Sacharow argumentiert, daß geistige Freiheit – und allgemeiner die Menschenrechte – die einzige wahre Basis für internationale Sicherheit bilden und fordert die Konvergenz von Sozialismus und Kapitalismus in einem System, das die positiven Züge beider vereinigt.





"Wer, wenn nicht ich?"




Ende April 1968 übergab Sacharow diesen radikalen Aufsatz dem Samisdat, der Untergrundpresse. Im Juni sandte er ihn an Leonid I. Breschnjew (der ihn durch den KGB bereits kannte), im Juli wurden seine Inhalte in einer niederländischen Zeitung, durch die BBC und in der "New York Times" veröffentlicht. Sacharow erinnerte sich, der Ausstrahlung durch die BBC mit tiefster Befriedigung zugehört zu haben: "Es war geschafft."

Sacharow wurde verboten, Moskau zu verlassen und sein Büro in Arsamas-16 zu besuchen. Er hatte 18 Jahre seines Lebens in der geheimen Stadt verbracht. Doch erst im folgenden Jahr wurde er aus dem Bombenprojekt entlassen – die Entscheidung über das Schicksal eines dreifachen Helden der Sozialistischen Arbeit und eines der bedeutendsten Geheimnisträger der Nation erwies sich offenbar als heikel. Kurz darauf starb seine Frau an Krebs und ließ ihn mit drei Kindern zurück; das jüngste war erst elf. Voller Trauer vermachte er all seine Ersparnisse einer Krebsklinik und dem Internationalen Roten Kreuz.

Eine Lebensphase Sacharows war zu Ende, eine neue begann. Er sollte noch 20 Jahre leben, in denen er Jelena Bonner begegnete, der Freundin und Liebe seines Lebens. 1975 wurde ihm der Friedensnobelpreis zuerkannt, sieben Jahre verbrachte er im Exil in Gorki, und die letzten sieben Monate seines Lebens, es ist kaum zu glauben, sollte er gewähltes Mitglied des sowjetischen Parlaments sein.

Die beste Person, die Sacharow erklären kann, ist wohl er selbst: "Wenn ich mich frei fühle", sinnierte er einmal, "ist es besonders deswegen, weil ich von meiner konkreten moralischen Beurteilung zum Handeln geleitet werde, und ich denke nicht, daß ich durch etwas anderes gebunden bin." Er tat immer genau das, woran er glaubte, geleitet von einer inneren, unerschütterlichen Moralität. In den siebziger Jahren fragte ihn einer seiner Kollegen, Wladimir Ritus, warum er das alles getan habe, obwohl er sich damit in so große Gefahr begab. Sacharow fragte zurück: "Wer, wenn nicht ich?" Er sah sich nicht als in irgendeiner Weise auserwählt an. Er wußte nur, daß das Schicksal und seine Mitarbeit an der Wasserstoffbombe ihn in eine einmalige Position gebracht hatten, auf der er Entscheidungen fällen konnte. Und er fühlte sich verpflichtet, sie zu fällen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1999, Seite 82
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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