Direkt zum Inhalt

Angemerkt!: Argumentieren statt Grübeln

Hat rationales Denken in erster Linie eine soziale Funktion? Zwei Philosophen nehmen den Gemeinschaftsaspekt des Denkens in den Blick - und erteilen Kognitionspsychologen eine wichtige Lektion.
Manuela Lenzen
Stellen Sie sich vor, vor Ihnen lägen vier Spielkarten: Sie zeigen ein E, ein K, eine 4 und eine 7. Welche der Karten müssten Sie umdrehen, um zu ermessen, ob die folgende Aussage zutrifft? "Wenn auf der einen Seite ein Vokal steht, steht auf der Rückseite ein gerade Zahl." Gar nicht so einfach, oder?

1966 stellte der Psychologe Peter Cathcart Wason seinen Probanden genau diese Aufgabe. Das Resultat war vernichtend: Nicht einmal jeder Zehnte fand die korrekte Lösung. Bis heute ist der Wason Selection Task eine der härtesten Nüsse in den Testsammlungen von Kognitionspsychologen – und die Leistungen der Versuchspersonen sind heute genauso dürftig wie ehedem.

Menschen sind offenbar lausige Logiker. Mehr noch: Sie sind sich dieser Schwäche kaum bewusst. Obwohl die Kognitionspsychologie zahlreiche Formen von Kurzschlüssen und Verzerrungen in unserem Denken – so genannte Biases – aufgedeckt hat (siehe auch G&G 5/2011, S. 14), wähnen wir uns im Besitz großartiger analytischer Gaben.

Warum, so fragen die Philosophen Hugo Mercier und Dan Sperber in einem aktuellen Fachartikel, bilden sich Menschen zum Beispiel oft erst ein Urteil und suchen im Nachhinein nach Begründungen dafür? Warum pflegen sie lieb gewonnene Ansichten, selbst wenn sich diese als haltlos erwiesen haben? Warum fangen sie angesichts von unliebsamen Gegenbelegen das Haarespalten an oder verschließen die Augen vor dem Offensichtlichen? Die eigenen Glaubenssätze nüchtern an den Fakten zu prüfen, fällt sogar Wissenschaftlern extrem schwer.

Woran liegt das? Mercier und Sperber glauben: Der Mensch denkt nicht, um die Welt zu verstehen und Wissen anzuhäufen – sondern um andere zu überzeugen! Unsere argumentativen Fähigkeiten seien nicht der Wahrheitsliebe verpflichtet, sondern dienten vor allem dazu, uns gegenüber unseren Mitmenschen durchzusetzen, Recht zu bekommen und Macht auszuüben. Kurz: Rationalität erfüllt primär eine soziale Funktion.

"Das Denken ist entstanden, weil es die menschliche Kommunikation effizienter macht", so die beiden Philosophen. Laut Mercier und Sperber erhöht unsere Argumentationsgabe die Menge und Qualität von Informationen, die Menschen miteinander teilen, und erleichtert es so, gemeinsame Ziele und Aufgaben zu verabreden. Daher kommen Gruppen, die Lösungen diskutieren, meist zu besseren Ergebnissen als der Einzelne. Und strenges Analysieren führt regelmäßig zu schlechteren Entscheidungen als intuitives Handeln.

Diese Sicht der Dinge hat auch Folgen für die Forschung: Psychologen haben bislang zwar sehr viel darüber herausgefunden, wie wir denken – allzu oft wird darüber jedoch vernachlässigt, warum wir denken, wie wir denken. Man darf die Kognition eben nicht losgelöst vom sozialen Kontext betrachten, denn so manche vermeintliche Schwäche erweist sich auf einem Spezialgebiet als höchst nützlich: dem gemeinschaftlichen Argumentieren. Erkenntnisfortschritte sind hierbei eher ein (erfreuliches) Nebenprodukt.

Zum einsamen Denker à la Sherlock Holmes taugen folglich nur wenige Zeitgenossen – oder haben Sie die Lösung des Wason Selektion Task auf Anhieb gefunden? Sie lautet: E und 7.

Kennen Sie schon …

Gehirn&Geist – Völlig verwirrt?

Sind Sie manchmal völlig verwirrt und haben keinen Durchblick? Gut so, Konfusion motiviert, macht produktiv und beschleunigt den Lernprozess. Außerdem: Manche Menschen werden von einem lästigen Pfeifen geplagt. Die Suche nach den Hirnmechanismen, denen Tinnitus entspringt, deckt zugleich mögliche Wege zu seiner Linderung auf. Lachgas hat den Ruf einer relativ ungefährlichen Substanz. Warum entwickeln trotzdem immer mehr Konsumenten gesundheitliche Schäden bei Einnahme der Trenddroge? Lange hielt man den Thalamus für eine simple Zwischenstation auf dem Verarbeitungsweg der Sinnesinformationen. Doch vermutlich wären viele Denkprozesse ohne ihn gar nicht möglich.

Gehirn&Geist – Zucker als Droge - Wie Süßes unser Gehirn beeinflusst

Auch Erwachsene können Süßem nur schwer widerstehen. Warum wirkt Zucker wie eine Droge und wie beeinflusst Süßes unser Gehirn? Lässt sich dagegen etwas machen? Außerdem: Warum schwindeln manche Menschen ständig, wie kann man solchen pathologischen Lügnern helfen? Manchmal ist es nicht so leicht zu entscheiden, ob wir etwas wirklich sehen oder es uns nur vorstellen. Wie unterscheidet unser Gehirn zwischen Realität und Einbildung? Manche Menschen können längerfristige kognitive Probleme nach einer Krebstherapie haben. Was weiß man über das so genannte Chemobrain, was kann Linderung verschaffen? Dating-Apps ermöglichen es, Beziehungen mit einem Klick zu beenden und plötzlich unsichtbar zu sein. Dieses Ghosting kann für die Opfer sehr belastend sein.

Spektrum der Wissenschaft – KI und ihr biologisches Vorbild

Künstliche Intelligenz erlebt zurzeit einen rasanten Aufschwung. Mittels ausgeklügelter neuronaler Netze lernen Computer selbstständig; umgekehrt analysieren Soft- und Hardware neuronale Prozesse im Gehirn. Doch wie funktioniert das biologische Vorbild der KI unser Gehirn? Was ist Bewusstsein und lässt sich dieses Rätsel lösen? Auf welche Weise kreiert unser Denkorgan Gefühle wie Liebe? Können Maschinen Gefühle verstehen? Erfahren Sie mehr aus dem Spannungsfeld zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz!

Schreiben Sie uns!

4 Beiträge anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

  • Quelle
Mercier, H., Sperber, D.: Why Do Humans Reason? Arguments for an Argumentative Theory. In: Behavioral and Brain Sciences 34, S. 57-111, 2011
Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.