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Die Lomborg-Kontroverse: Artensterben:

Lomborg schert alles über einen Kamm


Wir Biologen pflegen Statistiken und Statistikern gehörigen Respekt entgegenzubringen. Umso mehr bestürzte mich Lomborgs Einstieg in das Kapitel über biologische Vielfalt: Bevor er sich überhaupt mit dem Problem des Artensterbens und den einschlägigen Zahlen befasst, stellt er die Wichtigkeit des Artenreichtums grundsätzlich in Frage. Auf einer knappen Seite bestreitet er den Wert der biologischen Vielfalt nicht nur als unentbehrlichen Datenfundus für die Biowissenschaften, sondern auch als nützliche Ressource und ökologisches Guthaben – zum Teil, weil es meist keine Märkte für diesen natürlichen Reichtum gebe.

Ist Lomborg dann endlich beim Thema angelangt, richtet er eine heillose Begriffsverwirrung an: Er vermengt den wissenschaftlichen Prozess, durch den eine Art als ausgestorben beurteilt wird, mit den Schätzungen und Prognosen von Aussterberaten. Nach den geltenden, äußerst eng gefassten Regeln muss eine Art, um offiziell für ausgestorben erklärt zu werden, nicht nur der Wissenschaft bekannt sein, sondern auch tatsächlich beim Aussterben beobachtet werden – wie im Fall der letzten Wandertaube, die 1914 im Zoologischen Garten von Cincinnati starb. Andernfalls darf das Tier fünfzig Jahre lang nicht mehr gesichtet worden sein.

Berechnungen von Aussterberaten hingegen beruhen auf der seit langem etablierten Relation zwischen Artenzahl und Fläche; diese Relation – sie datiert aus dem Jahr 1921 und nicht aus den 1960er Jahren, wie Lomborg behauptet – gibt die Rate an, mit der die Artenzahl abnimmt, wenn die Fläche schrumpft.

Davon ausgehend prognostizieren Forscher, wie sich die Reduktion eines natürlichen Lebensraums im Verlust von Tier- und Pflanzenarten niederschlagen wird. Das Verschwinden einer Spezies geschieht nicht unbedingt über Nacht, und so sind manche Exemplare, die den anfänglichen Schwund ihres Lebensraums überlebt haben, in Wahrheit "lebende Tote" – ihre Art wird auf lange Sicht nicht überdauern können.

Dass Arten aussterben, wenn ihnen nur noch ein Bruchteil ihres ursprünglichen Lebensraums zur Verfügung steht, ist ein bestens dokumentiertes Phänomen – ganz im Gegensatz zu Lomborgs beiläufiger und längst überholter Behauptung, die zu Grunde liegenden wissenschaftlichen Annahmen seien nie glaubhaft erhärtet worden.

Folglich erledigt sich ein scheinbar eklatanter Widerspruch, den Lomborg präsentiert, in Wirklichkeit von selbst: Der Dezimierung des Atlantischen Regenwaldes in Brasilien auf etwa zehn Prozent seiner ursprünglichen Ausdehnung scheint kein entsprechend hoher Artenverlust gegenüberzustehen. Doch erstens arbeiten in dieser Region nur sehr wenige Feldbiologen, die überhaupt Arten registrieren könnten, geschweige deren Aussterben beobachten. Zweitens spricht sehr viel dafür, dass zahlreiche gerade noch überlebende Arten dem Untergang geweiht sind, falls der Atlantische Regenwald weiterhin so dezimiert und zerstückelt bleibt.

Lomborg gibt ein weiteres Beispiel dafür, dass angeblich Arten den Verlust ihres Lebensraums überlebt haben: Nur wenige Spezies verschwanden, als die Wälder im Osten der USA auf ein bis zwei Prozent ihrer ursprünglichen Ausdehnung schrumpften. Doch so stark ging nur der Altbestand zurück; die gesamte Waldbedeckung fiel nie unter etwa fünfzig Prozent und ermöglichte genügend vielen Arten das Überleben, weil der Wald sogar zusätzliche Flächen zurückeroberte. Folglich steht die relativ geringe Anzahl ausgestorbener Vogelarten überhaupt nicht im Widerspruch zur Fläche-Arten-Theorie, sondern bestätigt sie dagegen.

Bei seiner Analyse für Puerto Rico zitiert Lomborg wieder scheinbar gegenteilige Daten: Obwohl 99 Prozent des Primärwaldes verloren gingen, beherbergt die Insel heute mehr Vögel als vor der Entwaldung. Doch erstens wurde die gesamte Waldbedeckung nie so drastisch dezimiert. Zweitens ignoriert Lomborg, dass sieben der sechzig ausschließlich in Puerto Rico heimischen Arten verloren gingen, während die zusätzlichen Arten Eindringlinge aus anderen Teilen der Welt sind und in sehr unterschiedlichen Lebensräumen zurechtkommen können. Er verfehlt somit den entscheidenden Punkt: Die Vogelfauna der Welt wurde um sieben unersetzliche Arten dezimiert.

Lomborg nimmt besonderen Anstoß an den Prophezeiungen eines drohenden Massensterbens; im Jahre 1979 schätzte Norman Myers, dass unserem Planeten Jahr für Jahr 40000 Arten verloren gehen. Lomborg hat insoweit Recht, als Myers damals nicht genau erklärte, wie er zu dieser Schätzung gelangt war. Doch immerhin war Myers der Erste, der das Ausmaß des Problems erkannte – und zwar zu einer Zeit, als genauere Berechnungen schwierig waren. Heute formuliert man solche Prognosen üblicherweise als Anstieg über die natürliche Aussterberate hinaus. Dies hat den Vorteil, dass es nicht nötig ist, eine absolute Zahl für sämtliche Spezies auf der Erde anzunehmen. Obwohl den Wissenschaftlern die Gesamtzahl der Arten verborgen ist, können sie durchaus Aussterberaten schätzen. Doch anstatt den neuen Ansatz als wissenschaftlichen Fortschritt anzuerkennen, unterstellt Lomborg zynisch, die Forscher würden von Vielfachen der normalen Rate sprechen, um Eindruck zu schinden.

Schätzungen der gegenwärtigen Aussterberaten reichen vom Hundert- bis zum Tausendfachen des Normalwerts; das heißt, durch menschlichen Einfluss sterben im selben Zeitraum hundert- bis tausendmal mehr Arten aus als unter natürlichen Bedingungen. Die meisten Forscher neigen zum Faktor Tausend. Der Prozentsatz der vom Aussterben bedrohten Tierarten – 12 Prozent bei Vögeln, 18 bei Säugetieren, 5 bei Fischen sowie 8 Prozent bei Blütenpflanzen – passt zu dieser Schätzung. Sicher ist, dass die Raten ansteigen werden – und zwar exponentiell –, wenn die natürlichen Lebensräume weiter schwinden.

Dem sauren Regen widmet Lomborg ein eigenes Kapitel. Seine Recherche ist auch hier oberflächlich, denn er zitiert kaum aus der wissenschaftlichen Fach-literatur. Lomborg behauptet, die Luftverschmutzung durch Großstädte habe nichts mit saurem Regen zu tun – entgegen der Tatsache, dass die Stickoxide (NOx) aus Autoabgasen eine Hauptursache sind. Er verweist auf eine Studie, wonach saurer Regen die Sämlinge dreier Baumarten nicht geschädigt hat – verschweigt aber, dass Nadelbaumarten, die erwiesenermaßen sehr empfindlich sind, zum Beispiel die Amerikanische Rotfichte, dabei nicht berücksichtigt wurden. Kein Wort bei Lomborg über die Spätfolgen des sauren Regens durch Auslaugung von Bodennährstoffen. Er vermengt die Baumschäden durch Luftverschmutzung vor dreißig bis sechzig Jahren mit der späteren Schädigung durch sauren Regen. Als wäre er Alice im Wunderland, behauptet Lomborg, wir sorgten uns nur deshalb um die Entlaubung der Wälder, weil wir angefangen hätten, sie zu beobachten. Es stimmt einfach nicht, wenn er schreibt, dass kein Fall von Waldsterben bekannt sei, in dem die Säureanreicherung nachweislich eine Hauptursache wäre. Zwei deutliche Gegenbeispiele aus den USA sind die Rotfichte in den Adirondacks und der Zuckerahorn in Pennsylvania.

Auch das Kapitel über den globalen Waldbestand leidet unter oberflächlicher Recherche und selektivem Gebrauch von Zahlen. Lomborg zitiert zunächst Daten der Welternährungsorganisation FAO aus den Jahren 1948 bis 2000. In den Anfangsjahren trug die FAO einfach Summen aus "offiziellen" Angaben zusammen, die von den Regierungen geliefert wurden; solche Daten sind bekanntlich von uneinheitlicher Qualität und überschätzen häufig den Waldbestand. Später verwendete die FAO so viele unterschiedliche Definitionen und Methoden, dass diese Zahlen für eine fortlaufende Vergleichsstatistik völlig unbrauchbar sind – wie jeder Statistiker wissen sollte.

Lomborgs Diskussion der großen Waldbrände in Indonesien von 1997 ist ein weiteres Beispiel für Irreführung durch selektive Information. Gewiss, die erste Schätzung des WWF (World Wide Fund for Nature) lag bei zwei Millionen Hektar verbrannten Waldes, und Indonesien konterte mit "offiziellen" Schätzungen zwischen 165000 und 219000 Hek-tar. Doch Lomborg unterschlägt, dass Letztere völlig unglaubwürdig waren und dass ein Bericht aus dem Jahre 1999 den tatsächlichen Verlust mit 4,6 Millionen Hektar angibt. Dieser abschließende Bericht wurde von der indonesischen Regierung, der Weltbank und Hilfsorganisationen unterzeichnet.

Von Anfang an – bereits in der Einleitung – verwechselt Lomborg Wälder mit Baumpflanzungen. Indem er eine WWF-Prognose über den Verlust des "natürlichen Reichtums" kritisiert, unterstellt er, der einzige Wert von Wäldern läge in der Gewinnung von Nutzholz. Das ist, als würde man den Wert eines Computerchips nur nach seinem Siliziumgehalt bemessen. Der vom WWF benutzte Maßstab schließt hingegen natürliche Wälder ein (wegen ihres Artenreichtums) und Pflanzungen aus (wegen ihrer Artenarmut).

Die zentrale Frage des Buches lautet: Wendet sich alles zum Besseren? Sie ist wirklich wichtig. Tatsächlich wurden bei der Bekämpfung des sauren Regens inzwischen bedeutende Fortschritte erzielt, obwohl noch viel zu tun bleibt. Große Anstrengungen werden unternommen, die Zerstörung der Wälder zu bremsen und die Flutwelle des Artensterbens einzudämmen. Eines dürfen wir nicht vergessen: Entwaldung und saurer Regen sind im Prinzip umkehrbar – obwohl es eine Schwelle geben mag, nach deren Überschreiten keine Umkehr mehr möglich ist –, doch die Auslöschung einer Art ist unwiderruflich. Eine sachliche Analyse der Frage, wie weit wir gekommen sind und welcher Weg noch vor uns liegt, wäre eine große Leistung. Lomborg gibt vor, diese Analyse zu liefern, aber er verfälscht systematisch die Tatsachen.

Das lässt sich anhand Lomborgs selektiver Zitierweise belegen. Um zu zeigen, wie unmöglich das Bestimmen der Artensterberate sei, behauptet er: "Colinvaux gibt in Scientific American zu, dass die Rate ‚unkalkulierbar‘ ist." In Wahrheit schrieb Paul A. Colinvaux in seinem Artikel "Der Amazonas-Regenwald" (siehe Spektrum der Wissenschaft 7/1989, S. 70): "Denn dadurch, dass riesige Waldflächen von Menschenhand einfach vernichtet werden, verschwinden rasch so viele Tier- und Pflanzenarten, wie es bisher beispiellos ist. Die Folgen für die Zukunft sind nicht mehr kalkulierbar." Warum nicht zugeben, dass Co-linvaux die Zahlen für immens hielt? Von manipulierenden Formulierungen wie "er gibt zu" wimmelt es in dem Buch.

Außer von Voreingenommenheit strotzt das Werk auch von Flüchtigkeitsfehlern. Ein ums andere Mal habe ich versucht, den Weg vom laufenden Text zu den Fußnoten und weiter zum Literaturverzeichnis zu verfolgen, und fand nur eine Fata Morgana.

Noch viel schlimmer ist, dass Lomborg anscheinend keine Ahnung davon hat, wie die Umweltwissenschaften vorgehen: Forscher identifizieren ein mögliches Problem; verschiedene Hypothesen werden wissenschaftlich überprüft; da-raus entsteht oft ein komplexeres Verständnis des Problems; die Forscher schlagen Maßnahmen zur Abhilfe vor – und erst dann bessert sich die Lage. Indem Lomborg willkürlich den ersten Schritt hervorhebt und gleich zum Endresultat springt, unterstellt er, alle Umweltforscher seien notorische Schwarzmaler. Der Punkt ist doch, dass sich die Dinge zum Besseren wenden, weil die Umweltforscher ein bestimmtes Problem anprangern, es wissenschaftlich untersuchen und Gegenmaßnahmen entwickeln. Leider scheint der Autor den Respekt nicht zu erwidern, den wir Biologen den Statistikern entgegenbringen.

Literaturhinweise


Apocalypse: No! Wie sich die menschlichen Lebensgrundlagen wirklich entwickeln. Von Björn Lomborg. Zu Klampen, Lüneburg 2002.

Die Zukunft des Lebens. Von Edward O. Wilson. Siedler, München 2002.

Bonner Luftnummer. Von Michael Springer. Spektrum der Wissenschaft 9/2001, S. 24.

Beyond Six Billion: Forecasting the World’s Population. Von John Bongaarts und Rodolfo A. Bulatao (Hgg.). National Research Council, 2000.

Global Biodiversity Assessment. Von V. H. Heywood (Hg.). Cambridge University Press, 1996.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2002, Seite 43
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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