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Astronomie und Geographie an der Wende zur Neuzeit

Eine völlig falsche Vorstellung vom Erdumfang gab Christoph Kolumbus den Mut, sich auf den vermeintlichen Seeweg nach Indien zu machen. Die unerwartete Entdeckung der Neuen Welt ermunterte wiederum andere, das astronomische Weltbild zu revolutionieren.

Im Jahre 1492 gab es zwei für die Astronomie bedeutsame Sensationen. Erstens erschien über Mitteleuropa ein strahlend heller Feuerball, aus dem ein Stein-Meteorit nahe der elsässischen Ortschaft Ensisheim niederging. Und zweitens landete der Genuese Christoph Kolumbus (1451 bis 1506) auf einer vorgelagerten Insel eines dem Abendland unbekannten Erdteils.

Der junge Albrecht Dürer (1471 bis 1528) beobachtete die grandiose Himmelserscheinung während seines Aufenthalts in Colmar und hielt sie auf einer kleinen Holztafel fest (Bild 3). Doch da er die andere Seite für ein Ölbild des Heiligen Hieronymus benutzte, blieb seine Darstellung der explodierenden Sternschnuppe jahrhundertelang unbemerkt. Erst vor etwa zwanzig Jahren, als das fromme Gemälde an das Fitzwilliam-Museum in Cambridge (England) ausgeliehen wurde, kam die Farbskizze wieder ans Licht. Auch der vom Firmament gefallene Stein, den man in der Pfarrkirche und später im Rathaus von Ensisheim aufbewahrte, war lange Zeit praktisch vergessen. Erst in den letzten Jahrzehnten erregte er – als immerhin ältester exakt datierbarer Meteorit Europas – das Interesse der Forscher.

Seltsamerweise dürfte gerade das scheinbar rein irdische Ereignis des Jahres 1492, nämlich die Fahrt hinaus auf den Atlantik, das astronomische Denken stark beeinflußt haben. Eben weil Kolumbus fälschlich meinte, er könne westwärts bis China, Japan und Indien segeln, bewiesen sein bahnbrechendes Wagnis und die nachfolgenden Reisen, wie unvollständig das mittelalterliche Wissen tatsächlich war. Die durch die Entdeckung der Neuen Welt ausgelöste geographische Revolution stimulierte auch unorthodoxe astronomische Ideen: Wenn schon die Erde Platz für einen ganzen unbekannten Kontinent bot, war dann nicht sogar der radikale Gedanke erlaubt, daß nicht sie, sondern die Sonne das Zentrum des Universums bilde?

Das überlieferte Weltbild

Eine gute Illustration für den astronomischen Kenntnisstand in der frühen Neuzeit ist das Gemälde „Die Gesandten“ von Hans Holbein dem Jüngeren (1497 bis 1543) aus dem Jahre 1533, das zu den großen Schätzen der Nationalgalerie in London zählt (Bild 1). Zwischen Jean de Dinteville, dem Gesandten des französischen Hofes, und seinem gelehrten Freund Georges de Selve, dem Bischof von Lavaux, steht ein Regal mit Büchern und Instrumenten.

Auf den ersten Blick verteilen sich diese Gegenstände in sinniger Weise auf Himmel, Erde und Meer: ganz oben astronomische Meßgeräte und ein Himmelsglobus, im Fach darunter der Erdglobus sowie Bücher und eine Laute aus der menschlichen Sphäre und am Boden eine seltsame längliche Form, die einem Fisch ähnelt.

Bei genauerer Betrachtung erwiesen sich die Objekte als eine Allegorie auf das sogenannte Quadrivium, die vier mathematischen Disziplinen Astronomie, Arithmetik, Musik und Geometrie; sie machten – neben Grammatik, Rhetorik und Dialektik – das klassische Bildungsgut einer mittelalterlichen Universität aus.

Die Meßgeräte stehen für die Astronomie, und Peter Apians Abhandlung „Eyn newe unnd wolgegründte underweysung aller Kauffmanss Rechnung“ von 1527, die geöffnet im Regal liegt, repräsentiert die Arithmetik. Die Laute und ein Liederbuch – aufgeschlagen bei Martin Luthers „Kom Heiliger Geyst“ – vertreten die Musik. Für die geometrische Kunst stehen die komplizierte Parkettierung des Fußbodens – nach einem italienischen Mosaik aus der Grabkapelle des angelsächsischen Königs Eduard des Bekenners (1002 bis 1066) in der Westminster-Abtei – und ebenfalls die Laute, die bei den Künstlern der Renaissance als Vorlage für perspektivische Zeichenübungen beliebt war. Doch vor allem das fischähnliche Objekt, das über dem Fußboden zu schweben scheint, veranschaulicht eine rein geometrische Operation: Wenn man es nämlich unter einem extrem verkürzenden Blickwinkel betrachtet, erkennt man darin das verzerrte Abbild eines Totenschädels. Vielleicht ist dieser hohle Knochen (synonym mit Bein) zudem ein Wortspiel mit dem Namen des Künstlers.

Als Symbol der Sterblichkeit soll der Schädel – getreu der überlieferten Metaphorik – außerdem daran erinnern, wie vergänglich und unwichtig jedes Streben nach irdischer Erkenntnis doch eigentlich sei. Diese Aussage wird durch eine gesprungene Lautensaite – ebenfalls ein traditionelles Bild für Tod und Verfall – noch verstärkt.

Im Gegensatz zu den deutlich hervorgehobenen Studienzweigen des Quadriviums stehen die ewigen Mysterien, symbolisiert durch ein Kruzifix, das (knapp außerhalb des hier reproduzierten Ausschnitts) ganz oben links hinter dem Vorhang hervorlugt: Das gelehrte Streben mag zwar im Zentrum stehen, doch die großen Wahrheiten bleiben den sterblichen Mächten verborgen.

In der Epoche der „Gesandten“ glaubte man noch, die Schlüssel zum Universum lägen in einem längst vergangenen goldenen Zeitalter; der Drang nach Neuem war noch keine Tugend. Dennoch nahm die Astronomie einen ehrenvollen Platz im Lehrplan ein, denn sie beschrieb den diesseitigen Schauplatz, auf dem das menschliche Drama sich abspielte.

Die Erde – eine aus Erde, Wasser, Luft und Feuer zusammengesetzte Kugel – war fest in der Mitte des Kosmos verankert. Dieses Zentrum umhüllten die Sphären der sieben damals bekannten Planeten (zu denen man auch Sonne und Mond zählte; Uranus wurde 1781, Neptun 1846 und Pluto erst 1930 entdeckt) sowie eine achte Sphäre mit den Fixsternen, deren Positionen relativ zueinander zwar fest blieben, die aber mit schwindelerregender Geschwindigkeit einmal in 24 Stunden um die Erde kreisten. Dahinter verbarg sich Gottvater mit all seinen Engeln und den auserwählten Seelen in einem Zustand ewiger Glückseligkeit. Ein Holzschnitt in der lateinischen „Weltchronik“ von 1493, verfaßt von dem Nürnberger Humanisten und Arzt Hartmann Schedel (1440 bis 1514), präsentiert die klassische Kosmologie in all ihrer Pracht (Bild 2).

Schedel schuf sein enzyklopädisches Werk, bevor Europa etwas von Kolumbus wußte, und schon ein Blick auf die darin enthaltene Darstellung des Universums genügt, einen der hartnäckigsten Mythen über die Reise des italienischen Seemanns zu zerstören: Bereits seit der Antike kannte man die Kugelgestalt der Erde. Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) hatte gelehrt, daß die Erde eine Kugel sein müsse, weil irdische Materieteilchen stets ins Zentrum des Universums streben und sich dort von selbst kugelförmig anhäufen würden. Fast nebenbei fügte der antike Philosoph hinzu, daß auch die Form des Erdschattens bei einer Mondfinsternis die Richtigkeit seiner Idee bestätige.

Trotzdem wird an jedem Kolumbus-Gedenktag erneut die Geschichte aufgewärmt, wie der Seefahrer seine Mäzene Isabella von Kastilien (1451 bis 1504) und ihren Gemahl Ferdinand von Aragonien (1452 bis 1516) mühsam habe davon überzeugen müssen, daß die Welt rund sei. Hatte die Christenheit die Kugelgestalt der Erde vergessen? In Wahrheit trieben erst die Amerikaner zu Beginn des 19. Jahrhunderts Traditionsklitterung: Sie wollten nichts von der Schulweisheit der Briten hören, daß Genuesen in ihren Diensten als erste den Fuß auf nordamerikanischen Boden setzten, während Kolumbus doch nur auf ein paar kleine Inseln in der Karibik gestoßen sei. (Giovanni Caboto – besser bekannt als John Cabot – entdeckte 1497 Labrador, sein Sohn Sebastiano erforschte 1517 die Hudsonbai und 1526 bis 1530 die Ostküste Südamerikas).

In den Nachwehen ihrer Revolution brauchten die Amerikaner dringend Helden, die nicht zur eben abgeschüttelten Kolonialmacht gehörten. Da kam Kolumbus gerade recht, obwohl niemand viel über ihn wußte – bis der amerikanische Schriftsteller Washington Irving (1783 bis 1859) Spanien besuchte, umfangreiches Quellenmaterial fand und eine vielgelesene Biographie verfaßte. Unglücklicherweise vermischte Irving Fiktion und Fakten; eine seiner besonders plastischen Szenen spielt in Salamanca und ist pure Erfindung.

Bei Irving steht Kolumbus einer Reihe von Klerikern gegenüber, „einer beeindruckenden Schar von Professoren, Mönchen und kirchlichen Würdenträgern“, die „ihm voreingenommen entgegentraten, wie es Männer in Amt und Würden oft gegenüber armen Bittstellern tun“. Sie verspotteten die Idee von der Kugelgestalt und zitierten die Heilige Schrift, um zu belegen, daß die Erde flach sein müsse. Kolumbus, ein zutiefst religiöser Mensch, lief somit Gefahr, nicht nur eines Irrtums beschuldigt zu werden, sondern gar der Ketzerei.

In Wirklichkeit hatte das Wissen von der Kugelform der Erde immer zum abendländischen Erbe gehört. Als man gegen Ende des Mittelalters die Werke des Aristoteles unvoreingenommen und mit neuen Augen zu lesen begann, fand die Vorstellung einer kugelförmigen Erde Eingang in die Lehrpläne der neu gegründeten Universitäten. Die „Sphaera“ des englischen Mathematikers Johannes de Sacro Bosco aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts – bis heute das astronomische Lehrbuch mit den meisten Auflagen – lieferte schon ein einfaches Argument für die Kugelgestalt der Erde in der Nord-Süd-Richtung: Nach Norden Reisende stellen fest, daß der Große Bär und der Polarstern unterwegs immer höher am Himmel stehen. Für die Krümmung in der Ost-West-Richtung gab Sacro Bosco eine andere, subtilere Begründung: Eine Mondfinsternis findet unabhängig vom Standort des Betrachters zu einem eindeutig bestimmten Zeitpunkt statt, doch die Höhe des Mondes am Himmel variiert je nach dem Längengrad des Standorts in einer Weise, die mit einer kugelförmigen Geographie übereinstimmt.

Der Erdumfang

Kolumbus stand in Salamanca also nicht vor dem Problem, Isabella und Ferdinand von der Kugelgestalt der Erde überzeugen zu müssen. Die Frage war vielmehr, ob die Größe der Erde und die Ausdehnung der eurasischen Landmassen den verwegenen Vorschlag, westwärts nach China und Indien zu segeln, nicht vollkommen unsinnig machten.

Den Durchmesser der Erde hatte schon Eratosthenes (um 240 vor Christus) im antiken Alexandria ziemlich zutreffend errechnet; sein Resultat von 252000 Stadien entspricht einem Erdumfang von knapp 40000 Kilometern, sofern man dem Astronomie-Historiker J.L.E. Dreyer folgt und für ein Stadion 157,5 Meter ansetzt.

Islamische Landvermesser hatten die Kalkulation des Eratosthenes überprüft. In Bagdad errechnete Al-Farghani zu Beginn des 9. Jahrhunderts unter Kalif Al-Ma’mun einen Wert von 20400 arabischen Meilen; das entspricht mit 40253 Kilometern fast exakt der heutigen Zahl von 40075 Kilometern. Kolumbus nahm nun fälschlicherweise an, die arabische Meile entspräche der römischen; dadurch kam er auf einen Umfang von umgerechnet 30044 Kilometern, erhielt also nur drei Viertel des richtigen Werts.

Außerdem überschätzte Kolumbus die geographische Länge Chinas und somit auch dessen Entfernung von Europa gewaltig. Für die Entfernung Japans in östlicher Richtung nahm er 283 Längengrade an (statt 150), wodurch der Weg nach Westen von den Kanarischen Inseln aus weniger als 5000 Kilometer betragen hätte. Beide Fehleinschätzungen paßten Kolumbus gut ins Konzept, ließen sie doch sein waghalsiges Ansinnen, in westlicher Richtung bis Indien zu segeln, praktikabel erscheinen.

Als der Hof um die Weihnachtszeit 1486 in Salamanca zusammentrat, widersprachen dort die Gelehrten dem niedrigen Schätzwert des Kolumbus für den Erdumfang; sie verteidigten einen Zahlenwert, welcher der Wahrheit ungleich näher kam. Doch ohne die falsche Schätzung hätte Kolumbus seine kühne Expedition nicht zu rechtfertigen vermocht.

Der Mythos von den gelehrten Flachwelt-Verfechtern ist somit reine Erfindung: Wie der bedeutende Kolumbus-Biograph Samuel Eliot Morison bemerkt hat, „sah Washington Irving die Gelegenheit für eine pittoreske und bewegende Szene, stützte sich auf einen fiktiven, 130 Jahre später verfaßten Bericht über eine Sitzung des universitären Rates, die niemals stattgefunden hat, schmückte alles aus und ließ seiner Vorstellungskraft völlig freien Lauf“. Irving liefert gewiß ein besonders packendes Tableau, „denn wir alle hören gern, wie Professoren und Experten durch einfachen gesunden Menschenverstand widerlegt werden. Trotzdem ist die ganze Geschichte nichts als irreführender und mutwilliger Unsinn“.

Kolumbus und die Astronomie seiner Zeit

In der Tat hatte Christoph Kolumbus – abgesehen von seiner abwegigen Geodäsie – mit Astronomie recht wenig zu schaffen. Manchmal sieht man ihn unter dem Sternenhimmel mit einfachen Navigationsinstrumenten dargestellt, mit denen sich etwa aus der Position des Großen Bären die Nachtstunde bestimmen ließ. Die wenigen Indizien dafür, daß Kolumbus die Sterne zur Navigation benutzte, legen eher nahe, daß er seinen Standort ebensogut hätte raten können. Da am Tropenhimmel die vertrauten nördlichen Sternbilder fehlen, verwechselte er zweimal den Stern Beta Cephei mit dem Polarstern und bestimmte die geographische Breite der Schiffsposition um 21 Grad zu weit nördlich. Wie sein Biograph Morison hervorhebt, war Kolumbus kein Himmelsnavigator, sondern jemand, der mit Zirkel und Landkarte den Kurs schätzte.

Das einzige spektakuläre Beispiel für astronomische Interessen war, daß Kolumbus die „Ephemerides Astronomicae“ des deutschen Astronomen Regiomontanus (Johannes Müller, 1436 bis 1476) zur Vorhersage einer Mondfinsternis nutzte. Auf seiner vierten Reise strandete Kolumbus auf Jamaica; die Würmer hatten seine Schiffe bis zur Seeuntauglichkeit zerfressen. Eine kleine Abordnung fuhr im offenen Kanu ostwärts, um von der Nachbarinsel Hispaniola und ihrer Hauptstadt Santo Domingo (in der heutigen Dominikanischen Republik) Hilfe zu holen. Doch der Gouverneur von Hispaniola hatte wenig Lust, Kolumbus beizustehen – er fürchtete nämlich, von seinem einträglichen Posten verdrängt zu werden, und ließ sich Zeit.

Monate vergingen; schließlich meuterte die halbe Mannschaft des Kolumbus und versuchte, in einem Kanu nach Hispaniola zu segeln. Die Indianer Jamaicas, die schon genug Glasperlen und anderen handelsüblichen Plunder erhalten hatten, sträubten sich immer mehr, die hungrige, wenn auch zusammengeschrumpfte Mannschaft mit Nahrung zu versorgen.

Aus den „Ephemerides“ wußte Kolumbus, daß es in der Nacht zum 29. Februar 1504 eine Mondfinsternis geben würde. Er ließ die Indianer wissen, daß der Mond dunkel und blutrot aufgehen werde, weil Gott mit ihnen unzufrieden sei. Bis die Mondfinsternis vorüber war, ließ der Seefahrer sich nicht blicken; erst dann trat er aus seiner Kajüte und verkündete, daß Gott ihnen nun dank seiner Gebete wieder gnädig sei. Das Ereignis beeindruckte die Jamaikaner so nachhaltig, daß sie Kolumbus und seine Mannschaft wieder mit Nahrungsmitteln belieferten.

Das ptolemäische Weltbild

Warum also waren die Reisen des Kolumbus so wichtig für die Astronomie, obwohl er kaum etwas von den Gestirnen verstand? So großartig dem heutigen Astronomen eine Zeit erscheinen mag, in der Astronomie für jeden Universitätsstudenten Pflicht war – das Lehrbuch des Sacro Bosco hatte ein äußerst niedriges Niveau. Die „Sphaera“ beschrieb zwar die täglichen und jahreszeitlichen Bewegungen der Himmelssphäre, doch über die Bewegungen der damals bekannten Planeten sagte sie so gut wie nichts aus.

Gebildete Astronomen des Mittelalters glaubten allerdings, daß in die aristotelischen Sphären eine komplizierte Reihe von untergeordneten Epizykeln und Äquanten eingebettet sei, welche die – scheinbaren – unterschiedlichen Vor- und Rückwärtsbewegungen der Planeten erzeugten. Epizykeln hatte der alexandrinische Astronom Claudius Ptolemäus um das Jahr 150 nach Christus in seinem „Almagest“ beschrieben; sein System war freilich derart kompliziert, daß es in der lateinischen Christenheit praktisch niemand wirklich beherrschte. Ptolemäus war auch der herausragende Geograph seiner Zeit, und seine Karten galten ohne Bedenken als richtig.

Im 15. Jahrhundert wurde der „Almagest“ schließlich wiederentdeckt. Erstmals traten in Europa zwei Astronomen auf, die diese grundlegende Abhandlung zu verstehen und frühere Kommentatoren zu kritisieren vermochten. Regiomontanus und der österreichische Gelehrte Georg von Peuerbach (1423 bis 1461) begannen gemeinsam mit einer gekürzten Übersetzung des Hauptwerks von Ptolemäus.

Nach Peuerbachs Tod führte sein Partner das Projekt allein weiter und wurde, um es weithin publik zu machen, der erste wissenschaftliche Verleger. Leider starb Regiomontanus, der größte Mathematiker und Astronom seines Jahrhunderts, bevor er die Fortsetzung von Peuerbachs Werk oder seine eigene, gleichermaßen bedeutende Abhandlung über die Trigonometrie zu veröffentli-chen vermochte.

Gerade weil Peuerbach und Regiomontanus die Details der ptolemäischen Astronomie begriffen, sahen sie deutlich deren Schwächen. In einem Brief an einen Fachkollegen von 1464 kritisierte Regiomontanus die Theorie knapp, aber gründlich: Die Tabellen lieferten ungenaue Prognosen. Er selbst hatte die Venus um dreiviertel Grad und den Mars um zwei volle Grad abseits des vorhergesagten Orts beobachtet, und im Jahre 1461 war eine Mondfinsternis eine Stunde früher als berechnet zu Ende gewesen. Überdies sollte nach der ptolemäischen Theorie der scheinbare Monddurchmesser – im Widerspruch zu jeder Erfahrung – drastisch schwanken.

Die heliozentrische Alternative

Auch der deutsch-polnische Astronom und Geistliche Nikolaus Kopernikus (1473 bis 1543) wußte sehr wohl, wie mangelhaft das antike geozentrische Modell die Planetenpositionen vorhersagte. In seinem Notizbuch zeichnete er einmal auf, daß Mars den Tabellenwerten gerade um zwei Grad vorauseilte, während Saturn ihnen um eineinhalb Grad nachhinkte. Aber in seinen gedruckten Werken hat er diese Fehler nie erwähnt, und seine eigenen, nach dem heliozentrischen Modell erstellten Tabellen stimmten mit der Beobachtung ebenfalls nicht besser überein.

Daß Kopernikus diese Mängel anscheinend wenig beachtete, ist ein sehr interessanter und wichtiger Punkt. Entgegen vielen Darstellungen in der Populärliteratur spielten für die Wahl zwischen geo- und heliozentrischem Weltbild die Fehler in den Planeten-Tabellen kaum eine Rolle. Der Übergang von der einen Kosmologie zur anderen war letztlich eine geometrische Transformation, bei der die Voraussagen praktisch gleich blieben: Das heliozentrische System lieferte keineswegs automatisch bessere Tabellen der Planetenpositionen. Aus diesem Grund ließen sich fehlerhafte Vorhersagen zumindest anfangs in einem geozentrischen Modell genauso gut korrigieren wie in einem mit der Sonne im Mittelpunkt.

In der Tat hatte Kopernikus keinerlei empirischen Beweis für seinen neuen Entwurf. Darum konnte Galileo Galilei (1564 bis 1642) ein Jahrhundert später sagen: „Ich kann jene nicht genug bewundern, die die heliozentrische Doktrin gegen den Eindruck ihrer Sinne akzeptierten.“ Kopernikus ließ sich vielmehr von einer ästhetischen Vision leiten – von einer „Theorie, die dem Verstand zusagt“.

Das heliozentrische Weltbild erklärte, warum Mars, Jupiter und Saturn ihre scheinbare Bewegungsrichtung am Himmel nur dann umkehren, wenn sie in Opposition zur Sonne stehen. Im System des Ptolemäus war dieser Rücklauf reiner Zufall, eine „Tatsache für sich“. Kopernikus machte daraus eine „begründete Tatsache“, und daß es für sie im ptolemäischen System keine Erklärung gab, wurde zu einer Anomalie. Sobald der Zusammenhang hergestellt war, lag auf der Hand, warum die rückläufige Bewegung des Jupiter kleiner war als die des Mars und die des Saturn noch geringer.

Schließlich gab Kopernikus eine natürliche Erklärung für die mysteriöse Verschiebung der achten Sphäre, die sogenannte Präzession der Äquinoktien (der Tagundnachtgleichen). Die Entdeckung dieser Bewegung hatte den klassischen Kosmologen Kopfzerbrechen bereitet. Doch wenn die Erde sich im Weltraum zugleich um die Sonne und um ihre eigene Achse drehte, ließ sich unschwer als dritte Bewegung eine langsame Verschiebung dieser Achse vorstellen, die einen Kegel beschrieb.

Kopernikus und Kolumbus

Diese radikalen Neuerungen legten das Fundament, auf dem Galilei, Johannes Kepler (1571 bis 1630) und Isaac Newton (1643 bis 1727) ein neues Himmelsmodell errichteten. Doch Peuerbach hätte dieselbe geometrische Transformation schon ein Jahrhundert zuvor einführen können, und die islamischen Kosmologen wären dazu bereits im 9. Jahrhundert imstande gewesen (siehe „Die islamische Periode der Astronomie“ von Owen Gingerich, Spektrum der Wissenschaft, April 1986, Seite 100). Warum ließ die neue Astronomie dann bis zum 16. Jahrhundert auf sich warten – just bis zum Beginn des Zeitalters der großen Entdeckungsreisen?

Kopernikus lebte in einer Ära des rapiden Wandels. Die wohl spektakulärste Veränderung war die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg um 1455. Alle Quellen – mit nur einer bekannten Ausnahme –, auf die Kopernikus sich stützte, waren gedruckte Bücher. Und daß seine heliozentrische Kosmologie gleich nach der Niederschrift in einer Auflage von wahrscheinlich 400 Exemplaren gedruckt wurde, garantierte ihr weite Verbreitung und anhaltende Diskussion. Außerdem hatte die Reformation begonnen. Kopernikus war Chorherr in einer katholischen Kathedrale, während der junge Schüler, der ihn zum Druck seiner Schrift „De revolutionibus orbium coelestium“ („Über die Kreisbewegungen der Himmelskörper“) überredete, ein Protestant war, der aus Wittenberg stammte; dort hatte Luther im Jahre 1517 seine berühmten Thesen an die Kirchentür genagelt. Es war eine Zeit religiöser Unruhen, in der viele überlieferte Ideen in Frage standen.

Doch noch wichtiger war, daß mutige Seeleute zu Lebzeiten des Kopernikus die altehrwürdige Geographie des Ptolemäus neu schrieben. Kopernikus war Student in Krakau, als Kolumbus zu seiner ersten Reise aufbrach. Die Nachrichten über die Entdeckungen erreichten Krakau schnell, und bis zum heutigen Tag besitzt die Jagiellonische Universität den ältesten bekannten Globus, der die Neue Welt zeigt. Selbst falls Kopernikus Krakau damals bereits verlassen hatte, mußte er die Neuigkeiten sicherlich kurz darauf erfahren, als er sein Studium in Italien fortsetzte.

Ptolemäus war seinerzeit durch seine geographischen Forschungen noch bekannter als durch die nach ihm benannte geozentrische Kosmologie. Seine „Geographie“ aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus legte mit ihren Anweisungen zur Kartenprojektion die Grundlagen der Kartographie. Indem er Informationen aus alten Reiseberichten und von seinem Vorgänger Marinus von Tyrene verarbeitete, trug er bestmögliche Schätzungen der Breiten- und Längengrade von Orten in der damals bekannten Welt zusammen. Darauf wiederum fußten schließlich die prächtigen Atlanten, die nach 1480 gedruckt wurden.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts verlor Ptolemäus jedoch rapide an Autorität. Obwohl Kolumbus sich noch auf die überlieferte Geographie berufen hatte, stellte seine Landung auf den vermeintlich indischen Inseln die alten Karten in Frage. Als sich herausstellte, daß er tatsächlich einen neuen Kontinent entdeckt hatte, wurde der klassische Globus endgültig wertlos. Wenn aber die Geographie des Ptolemäus sich als falsch erwies, durfte man dann nicht auch an seiner Kosmologie zweifeln?

Die Ausbreitung des kopernikanischen Modells

Als Kopernikus sein Werk „De revolutionibus“ 1543 in Nürnberg veröffentlichen ließ, war das antike Weltbild bereits erschüttert. Im Jahre 1566 gab der Baseler Verleger Heinrich Petri (1508 bis 1579) eine zweite Auflage heraus. Ein Exemplar erreichte Thomas Digges (1546 bis 1595), der sich als erster englischer Astronom zur neuen Kosmologie bekehrte. Auf die Titelseite seiner Ausgabe schrieb er die Worte „Vulgi opinio error“ (etwa: die allgemein verbreitete Meinung ist falsch); er weigerte sich also, die altehrwürdige Vorstellung zu akzeptieren, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums.

Als Digges eine englische Übersetzung der kosmologischen Schlüsselpassagen anbot, schrieb er: „Ich hielt es für angebracht, dies zu veröffentlichen, damit die edelsten Geister Englands (die ich viel lieber erreiche als gewöhnlichere Menschen) nicht ganz um ein derart edles Stück Philosophie betrogen seien.“ Er fügte seiner Darstellung ein prachtvolles heliozentrisches Diagramm bei, das eine Neuerung aufwies: Die Sterne waren nicht mehr an einer äußersten Schale fixiert, sondern bis ins Unendliche verteilt – „und deshalb“, so schloß er, „unbeweglich“. Dieses Modell vom Jahre 1576 war ein schwindelerregender Sprung von der geschlossenen Welt der Antike zum unbegrenzten Universum von heute.

Digges und mehrere seiner Zeitgenossen, unter anderem Keplers Lehrmeister Michael Mästlin (1550 bis 1631) aus Tübingen, suchten intensiv nach empirischen Beweisen für das heliozentrische System – jedoch vergebens. Das Modell blieb, auch wenn es durch ästhetische Eleganz für sich sprach, eine Glaubenssache. Die Adepten mußten zudem die etablierte aristotelische Physik aufgeben, derzufolge Vögel und Wolken durch die Erdrotation hinweggewirbelt würden. Ein Zeitgenosse aus dem anderen Lager, der dänische Astronom Tycho Brahe (1546 bis 1601), meinte kritisch: „Kopernikus verletzt nirgends die Regeln der Mathematik, aber er wirft die Erde, diesen trägen, schwerfälligen und keiner Bewegung fähigen Körper, in eine Bewegung, die so geschwind ist wie die der himmlischen Fackeln“ (gemeint sind die Sterne).

Mangels empirischer Beweise konnte der kopernikanische Entwurf nur in einem geistigen Klima gedeihen, das neuen Ideen aufgeschlossen war und die ehrwürdigen Traditionen der antiken Bildung in Frage zu stellen wagte. Zu diesem neuen Klima trug Kolumbus bei. Indem seine Entdeckungen ein für alle Mal den anschaulichen Beweis für die krasse Unvollständigkeit der ptolemäischen Geographie führten, machten sie Mut, die Stellung der Erde im Kosmos neu zu bestimmen.

Die alten Ansichten gerieten ins Wanken. Im Jahre 1611 schrieb der englische Lyriker John Donne (1572 bis 1631): „Und die neue Philosophie zieht alles in Zweifel,/Das Element Feuer wird ganz ausgelöscht;/Die Sonne geht verloren, die Erde auch, und keines Menschen Verstand/Kann ihm verläßlich sagen, wo er sie suchen soll.“


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1993, Seite 82
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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