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Editorial: Auf und Ab eines Großprojekts

Man hat nicht oft die Gelegenheit, einen detaillierten Einblick in den Ablauf eines wissenschaftlichen Großprojekts mit all seinen Höhen und Tiefen zu bekommen. Beim Human Brain Project der Europäischen Kommission, das auf zehn Jahre ausgelegt ist und über eine Milliarde Euro verschlingen wird, ist das aber der Fall. Bereits vor fast dreieinhalb Jahren, im Septemberheft 2012, habe ich das Mammutvorhaben an dieser Stelle kurz vorgestellt; damals brachten wir einen ausführlichen Artikel des Projektleiters Henry Markram über seine Idee, ein menschliches Gehirn per Computer zu simulieren, um mehr über die Funktionsweise und Behandlungsmöglichkeiten für Erkrankungen zu lernen.

Im selben Heft stellte der Heidelberger Forscher Karlheinz Meier seine Arbeit an neuromorphen Computern vor: Er entwickelt quasi umgekehrt analoge Rechner nach biologischem Vorbild. Jenseits von "Spektrum" gingen solche alternativen Forschungsrichtungen, die ebenfalls unter dem Dach des Human Brain Project laufen, in der allgemeinen Bericht­erstattung leider unter. Alles fokussierte sich auf das Selbstvermarktungsgenie Markram, dessen Simulationsansatz fälschlicherweise mit dem Gesamtprojekt gleichgesetzt wurde.

Zwei Jahre darauf, in der Septemberausgabe 2014, konnten unsere Leser wieder über das Human Brain Project in "Spektrum" lesen, diesmal aber unter wesentlich kritischeren Vorzeichen. In der Zwischenzeit hatte sich nämlich beträchtlicher Unmut unter den Neu­rowissenschaftlern angesammelt. Dieser war im Juli 2014 in einem offenen Brief von 154 Forschern an die Europäische Kommission kumuliert, den danach noch hunderte weiterer ­Kollegen unterschrieben. Darin bemängelten sie das Management des Projekts sowie die undurchsichtige Vergabe von Forschungsgeldern und forderten eine grundsätzliche Neuorientierung. Vielen Forschern ging sogar das noch nicht weit genug: In unserem Heft 9/2014 ­geißelte Max-Planck-Direktor Nils Brose Markrams Vorhaben, das neuronale Netzwerk des Gehirns per Supercomputer nachzubauen, als vollkommen illusorisch.

Die breite Kritik zeigte Wirkung: Es begann ein Mediationsverfahren, das im Frühjahr 2015 unter anderem die Führungsstruktur des Projekts umbaute. Damit scheint das Riesenvor­haben inzwischen auf einem besseren Weg zu sein. Doch wie konnte es überhaupt zu den Verirrungen kommen, dass offenbar ein einzelner Forscher mehr oder weniger nach Belieben ein europäisches Milliardenprojekt steuern und für sich vereinnahmen konnte? Um diese Frage zu beantworten, blickt "Spektrum" ab S. 58 hinter die Kulissen und beleuchtet kritisch die hineinspielenden politischen Interessen. Der Vergleich des EU-Megaprojekts mit der US-Konkurrenzinitiative BRAIN zeigt, wie sich solche Probleme vermeiden lassen. Es bleibt nun zu hoffen, dass daraus nicht nur für das Human Brain Project, sondern für sämtliche zukünftige "Big Science"-Unterfangen Lehren gezogen werden. Denn hier geht es nicht nur um den guten Ruf der Wissenschaft, sondern schlicht auch um einen verantwortungsvollen Umgang mit Steuergeldern.

Herzlich Ihr

Hartwig Hanser

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