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BLISS - globales Kommunikationssystem und Anfangsschrift für Kinder?

Eine in den fünfziger Jahren erfundene Symbolschrift könnte das Schreibenlernen und die internationale Verständigung erleichtern.

In der Mathematik gibt es eine prinzipiell für jeden Menschen verständliche Weltschrift, die auf arabischen Ziffern (und auf einigen zusätzlichen Symbolen) beruht. Deren Bedeutung ist lesbar unabhängig von ihrer länderspezifischen Aussprache. Ob zwei auf deutsch, dos auf spanisch, kaks auf estnisch oder dwa auf russisch – das Zeichen "2" wird stets als Mächtigkeit einer bestimmten Menge verstanden. Anders als bei der alphabetischen Schrift beziehen sich die Ziffern direkt auf die Bedeutung, ohne Umweg über die Lautform des Begriffs.

In der Schriftgeschichte wird die Erfindung der Buchstaben als kulturhistorischer Durchbruch eingestuft. Eines der wenigen Länder, in denen sich eine alphabetische Schrift nicht durchgesetzt hat, ist China. Aus westlicher Sicht wird dieses Festhalten an der Begriffsschrift oft als entwicklungshindernder Traditionalismus bewertet. Man darf jedoch nicht übersehen, daß in China verschiedene Sprachgemeinschaften leben.

Insofern erweist sich eine Schrift als vorteilhaft, die – wie auch die arabischen Ziffern oder chemische Formeln – unabhängig von der Lautform zu lesen ist. Auch wenn die Zeichen in verschiedenen Regionen unterschiedlich ausgesprochen werden, entnehmen ihnen alle schriftkundigen Chinesen dieselbe Bedeutung. Diese Möglichkeit faszinierte den aus Österreich emigrierten Chemie-Ingenieur Karl Blitz (1897 bis 1985), als er auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten nach Shanghai kam. Ihn beschäftigte damals die Idee einer Sprache, über die sich alle Menschen ohne Übersetzung verständigen könnten. Überdies suchte er nach einem Zeichensystem, das Bedeutungen direkt sichtbar macht, damit diese nicht wie in der Nazi-Propaganda über viele Worte verschleiert werden können; seine – vielleicht naive – Hoffnung war, daß Bildzeichen Bedeutungen ("Herrenvolk", "Deutschland über alles") eindringlicher verdeutlichten als ihre sprachliche Umschreibung.

Das 1887 von dem polnischen Augenarzt Ludwik Zamenhof geschaffene Esperanto hat sich nicht als Welthilfssprache durchsetzen können, weil es als zusätzliche, künstliche Lautsprache konzipiert und zudem in der begrenzten Perspektive europäischer Tradition entwickelt wurde. Ganz anders BLISS. Blitz, der sich dann Charles Bliss nannte, entwarf dieses Zeichensystem als eine "logische Schrift in einer unlogischen Welt", zugleich mit dem Anspruch, in der Form der Symbole eine universelle Ethik zu repräsentieren. Mit einfachen Zusatzzeichen lassen sich Grundsymbole zum Substantiv, Adjektiv oder Verb machen, kehrt sich ein positiver Begriff in das Gegenteil, werden Mehrzahl oder Vergangenheitsform gebildet – ein sehr flexibles, offenes und doch grammatisch geregeltes System (Bild 2).

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Völker neue nationale Ansprüche erhoben, hat sich auch BLISS nicht als universelles System durchsetzen können. Jedoch verbreitete es sich in den siebziger Jahren als Kommunikationsmittel unter Menschen, die aufgrund körperlicher Behinderung weder lautsprachlich artikulieren konnten noch mit der Hand Gebärdenzeichen zu bilden oder gar zu schreiben vermochten. Dabei erwies sich der direkte begriffliche Zugang, die morphematische Systematik, als entscheidender Vorteil.

Für einen raschen Zugriff werden die Zeichen auf einer Reihe von Themen-Tafeln hierarchisch geordnet, so daß man mit wenigen Auswahlentscheidungen von der Ebene der Oberbegriffe zu spezifischen Zielbegriffen kommt: zum Beispiel durch die Auswahl von "Essen" über "Frühstück" zu "Brötchen" oder von "Spielen" über "Fußball" zu "Eckball". Auf einem Computerbildschirm lassen sich so Zeichen aus verschiedenen semantischen Feldern zu Sätzen zusammenstellen und – zusammen mit einer alphabetischen Wort-für-Wort-Übersetzung – über einen Drucker ausgeben. Selbst bei starker Behinderung der Motorik durch zerebrale Lähmungen sind solche Auswahlentscheidungen durch einfache Ja/Nein-Schalter für viele Menschen, die keine differenzierteren Bewegungen auszuführen vermögen, noch realisierbar.

Weil die Zeichen vielfältig verknüpfbar sind, kann man auch komplexe Bedeutungen differenziert ausdrücken. Andererseits sind die Grundelemente einfach zu verstehen und zu gebrauchen. Diese Vorzüge legen es nahe, BLISS als Brücke zwischen dem Zeichnen der Kinder und ihrem Einstieg in die alphabetische Schrift zu erproben.

Der russische Neuropsychologe Alexander Luria entdeckte bereits in den zwanziger Jahren, daß sich das kindliche Schreiben allmählich aus dem Malen ausdifferenziert. Beobachtungen in unserem Bremer Projekt "Kinder auf dem Weg zur Schrift" und in verschiedenen Studien im angelsächsischen Raum bestätigen diese Auffassung (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1987, Seite 81). Bieten sich dann nicht Bild- und Begriffszeichen an, um Kinder in die Logik einer sprachorientierten, linear Wort für Wort erfordernden Darstellung einzuführen? Schließlich zeigt die Forschung: Bilder sind leichter zu lesen als Schrift.

Aber sprechen Pikto- und Logogramme wirklich für sich? Auch Bilder lesen muß man lernen, so die These des Bremer Sonderpädagogen Manfred Gangkofer. Er hat BLISS in der Arbeit mit behinderten Kindern erprobt und die Fachliteratur unter verschiedenen Aspekten, insbesondere zur Psychologie der Verarbeitung von Bildern, Schrift und anderen Zeichen im Gehirn, gesichtet. In einem Versuch ließ er bildhafte BLISS-Zeichen von Grundschulkindern "lesen" und erhielt eine breite Streuung von Deutungen (Bild 3). Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen interkultureller Vergleiche zur Deutung von Bildern, Filmen und Zeichen: Ihre scheinbare Eindeutigkeit gilt nur innerhalb bestimmter sozialer Gruppen.

Gleichwohl sind Bilder leichter zu lesen als Schrift. Das sagt nicht nur unser Alltagsverstand, das belegen auch Lernexperimente: Bildersysteme werden leichter gelernt als BLISS, dieses System ist wiederum leichter zu lernen als die alphabetische Schrift.

Als Begriffsschrift ist BLISS für Kinder näher am vertrauten Malen und Zeichnen als unsere Buchstaben. Auch wenn die Zeichen nicht für sich sprechen, lassen sie sich leichter merken, weil ihre Formen mit vertrauten Merkmalen der Gegenstände assoziierbar sind. Ihre graphische Gestalt ist dem Inhalt analog, nicht digital vereinbart wie in der Buchstabenschrift (das lange Wort "Regenwurm" bezeichnet ein kleines Tier, "Wal" hingegen ein sehr großes).

Andererseits ist die Bedeutung der Zeichen sozial festgelegt, und die Verbindung einzelner Symbole folgt allgemeinen Regeln. Damit bereitet BLISS auf die formalen Konventionen der alphabetischen Schrift vor. Das System bietet sich also an als Brücke vom subjektiven Kritzeln in der Kindergartenzeit zum Schreiben mit dem standardisierten Alphabet in der Schule.

Wie ließe sich das konkret umsetzen? Räume und Gegenstände in Kindergärten und Grundschulen könnten mit BLISS beschildert werden (Bild 1). Nicht umsonst gibt es Piktogramme auf Flughäfen, wo Reisende aus vielen Ländern sich zurechtfinden müssen, und auf Steuertafeln von Geräten, die international vermarktet werden – sie sind unabhängig von unterschiedlichen Lautsprachen verwendbar, und man erfaßt ihre Bedeutung auf einen Blick.

Werden Schrift und BLISS parallel verwendet, gewinnen die Kinder allmählich Einsicht in die Darstellungsfunktion von Schrift und in die konkrete Bedeutung einzelner Schriftwörter. Diese Erfahrungen sind vor allem für Kinder wichtig, die nicht dank jahrelangem Vorlesen eine intuitive Grundlage für das Verständnis des Schriftsystems erworben haben. Gangkofer wies in seiner Untersuchung nach, daß die parallele Verwendung von BLISS und Schrift durchaus nicht, wie man vielleicht erwarten mag, eine Doppelbelastung bedeutet, sondern daß beide Systeme linguistisch, psychologisch und neurophysiologisch komplementär angelegt sind. Ähnlich wie die lautsprachbegleitenden Gebärden die Sprachentwicklung der Gehörlosen könnte BLISS die Schriftentwicklung von Kindern stützen. In einem Versuch, den wir für 1996 planen, wollen wir das Potential dieses Ansatzes in Kindergärten und Grundschulen eruieren. Zweisprachige Büchlein für Leseanfänger, also mit BLISS- und alphabetischem Text, sind bereits verfügbar (Verlag für pädagogische Medien, Hamburg).

Verfolgt man diesen Ansatz weiter, läßt sich generell eine sozusagen bilinguale Beschilderung im öffentlichen Raum und in Dienstleistungsbetrieben vorstellen: auf Straßen und Plätzen, in Behörden, Postämtern und Geldinstituten. In einer Gesellschaft, die durch Migration und europäische Einigung zunehmend mehrsprachig wird, könnte ein sprachunabhängiges Zeichensystem dieselbe Funktion erfüllen wie das chinesische in China.

Würde dieses System zudem länderübergreifend angewandt, könnte es die Mobilität und das Erlernen anderer Sprachen – durch beiläufigen Gebrauch – erleichtern (wie mehrsprachige Schilder in Südtirol, Wales und anderswo zeigen). Dann hätte Karl Blitz auf manchen Umwegen doch noch erreicht, worauf es ihm bei der Erfindung von BLISS in schlimmer Zeit ankam: die Verständigung zwischen den Menschen verschiedener Sprachen zu verbessern – nicht nur technisch, sondern auch im Umgang miteinander.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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