Direkt zum Inhalt

China - Wiege des Wissens

Erfindungen und Entdeckungen aus 7000 Jahren wie Papier, Druckkunst, Kompaß und Schießpulver zeugen von den enormen technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die das fernöstliche Reich zur Menschheitskultur beigetragen hat. Zu sehen ist die Ausstellung, die durch mehrere europäische Städte wandert, gegenwärtig in Berlin.

In seinem 1620 veröffentlichten Werk "Novum organum scientiarum" schrieb der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon (1561 bis 1626), der Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften: "Das Wesen von Erfindungen kann nirgendwo klarer erfaßt werden als anhand jener drei, die dem antiken Menschen unbekannt waren und deren Ursprung – obwohl jung – dunkel und glanzlos ist: nämlich der Druckkunst, des Schießpulvers und des Magnets. Denn alle drei haben das Antlitz und den Zustand der Welt verändert: die erste in der Literatur, die zweite in der Kriegskunst und die dritte in der Seefahrt. Dieser Revolution sind unzählige Veränderungen gefolgt, und zwar dergestalt, daß keine Macht, keine Sekte, kein Stern mehr Einfluß auf die menschlichen Geschäfte ausgeübt hat, als diese drei mechanischen Erfindungen."

Diese Worte lassen erkennen, daß schon gegen Ende der Renaissance die Gelehrten nicht mehr wußten, wie dreihundert Jahre zuvor die wichtigsten Erfindungen eben dieser Epoche zustande gekommen waren. Zudem konnte Bacon nicht sagen, ob sie aus dem europäischen Raum selbst oder von außerhalb stammten; und er vermochte nicht genau anzugeben, wie die Renaissance überhaupt entstanden war.

Man kann dies insofern verstehen, als die Renaissance die europäische Antike mit den technischen und wissenschaftlichen Leistungen der Griechen und Römer wiederentdeckt hatte. Dies ließ offenbar das Bewußtsein der Übernahme von Techniken aus China während und nach der Zeit der mongolischen Eroberungszüge verblassen. Später waren die immensen Erfolge der industriellen Revolution nicht geeignet, die modernen Menschen über den asiatischen Ursprung eines Teils ihres technischen Wissens nachdenken zu lassen.

Es ist das Verdienst des englischen Wissenschaftshistorikers Joseph Needham (1900 bis 1995), mit seinem vielbändigen Werk "Science and Civilization in China" auf die faszinierenden Leistungen der chinesischen Wissenschaft und Technik bis zur mongolischen Yüan-Dynastie (13. bis 14. Jahrhundert) aufmerksam gemacht zu haben.


Papier und Druck

Der Überlieferung zufolge hat der chinesische Eunuch Cai Lun, Aufseher der kaiserlichen Werkstätten, 105 nach Christus das Papier erfunden. Doch tatsächlich wurde bereits vor dieser Zeit ein aus ineinander verketteten Pflanzenfasern bestehendes Material zum Schreiben benutzt. Entlang der Seidenstraße verbreitete sich Papier dann vom 2. bis 5. Jahrhundert westwärts, und zwar zunächst bis Turkestan.

Als 751 eine Armee der Tang-Herrscher den vordringenden Arabern bei der Schlacht am Talas-Fluß in Zentralasien unterlag, wurden einige Papiermacher, die sich unter den chinesischen Kriegsgefangenen befanden, nach Samarkand (Usbekistan) verschleppt, wo sie ihre Besieger in der Herstellung dieses Kulturgutes unterwiesen. So entstand dort die erste Papiermanufaktur außerhalb Chinas. Von dort aus verbreitete sich die Technik der Papierherstellung rasch im gesamten asiatischen und afrikanischen Machtbereich des Islam bis in die arabisch besetzten Gebiete auf der Iberischen Halbinsel. Die erste in Europa bekannte Papiermanufaktur gründete Jean Montgolfier 1157 in Vidalon auf der französischen Seite der Pyrenäen. Doch in Europa setzte sich Papier nur langsam durch. Erst die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg (um 1397 bis 1468), bewirkte den Durchbruch des neuen Schriftträgers auch im hiesigen Raum.


Typographie und Buchdruck

Der Ursprung der chinesischen Drucktechnik reicht weit in die Vergangenheit zurück. Den Stempeldruck, bei dem Namen oder Schriftzeichen in Jade oder anderen Stein geschnitten wurden, hatten die Chinesen vermutlich aus dem Vorderen Orient übernommen. Mit dem Aufkommen des Papiers war dann ein Material verfügbar, das den Massendruck ermöglichte. Dazu meißelte man den Text in Steintafeln ein, legte angefeuchtetes Papier darüber, drückte es an und färbte es nach dem Trocknen mit Tusche ein. Auf diese Weise entstand eine exakte Abreibung des Originaltextes, der sich auf dem Papier weiß von dem tuschefarbenen Untergrund abhob.

Stempeldruck und Steinabreibung wurden schließlich zum Blockdruck verbunden. Auf einer hölzernen Platte schnitzte man die gewünschten Schriftzeichen und Bilder spiegelverkehrt frei, so daß sie im Relief stehen blieben. Nach Einfärben mit Tusche legte man einen Bogen Papier auf den Block und drückte es vorsichtig an – der Druck war fertig.

Der Gebrauch dieses Holzschnitts zum Drucken von Texten (die sogenannte Xylographie) läßt sich in China zweifelsfrei bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen (Druck des "Diamant-Sutra", einer Schriftrolle mit religiösen Texten, im Jahre 868); doch einige Autoren datieren diese Erfindung sogar auf das 6. bis 7. Jahrhundert. Jedenfalls war der Blockdruck bereits anfangs der Song-Zeit (960 bis 1279) zur Perfektion ausgereift, so daß auch große Projekte in Angriff genommen werden konnten – die "Tripitaka" beispielsweise, eine Zusammenstellung buddhistischer Schriften mit 5048 Kapiteln, erforderte 130000 Druckstöcke, die zu schnitzen man zwölf Jahre brauchte.

Zwischen 1041 und 1048 schließlich erfand Bi Sheng den Druck mit beweglichen Lettern, die Typographie. Er fertigte Keramiktypen, die er in einen Metallrahmen setzte und mit einer Mischung aus Harz, Wachs und Papierasche fixierte. Wegen der außerordentlich großen Anzahl von Begriffszeichen der chinesischen Sprache konnte sich diese Neuerung allerdings nicht gegen die Einblatt-Holzdrucke von Texten und Abbildungen durchsetzen – jedenfalls nicht bis zur Entwicklung der modernen Verfahren.

Zweifelsohne hat Europa das Wissen vom Druck mit Druckstöcken aus China bezogen, denn die Verbreitungswege über Zentral- und Kleinasien sowie die islamischen Länder – aber auch über Rußland – lassen sich recht genau rekonstruieren. Der xylographische Druck von Spielkarten und von religiösen Bildern nach chinesischem Vorbild war schon lange vor Gutenberg in Holland, Frankreich und Deutschland gebräuchlich. Dagegen ist noch immer ungewiß, ob Gutenberg die beweglichen Lettern Bi Shengs vom Hörensagen her kannte oder ob er sie unabhängig davon neu erfand. Gewiß ist nur, daß Gutenberg chinesische Bücher gesehen hat. Diese waren aber vermutlich xylographisch hergestellt, denn nach Bi Shengs typographischem Verfahren waren nur sehr wenige Bücher in China gedruckt worden.


Magnetit und Kompaß

Die Eigenschaft des Minerals Magnetit, Eisen anzuziehen, war nicht nur im antiken Griechenland, sondern auch im China des 3. vorchristlichen Jahrhunderts bekannt, wie aus Aufzeichnungen hervorgeht. Doch erst viel später wurden die magnetische Polarität sowie die richtungsweisende Eigenschaft eines Magneten beachtet und für die Orientierung dienstbar gemacht.

Der Urkompaß im alten China hatte die Form eines Löffels (dieser symbolisierte das Sternbild des Großen Bären, von den Chinesen Nördlicher Löffel genannt) und wurde von Geomanten eingesetzt, deren Aufgabe es war, die jeweils geeigneten Orte für die Bauten der Lebenden und die Ruhestätten der Toten zu finden, die im Einklang mit kosmischen Strömungen liegen mußten, um so die natürliche Harmonie zu wahren. Später wurde er durch eine schwimmende Magnetnadel ersetzt. Ein Kompaß für die Schiffahrt ist erstmals in einem chinesischen Buch aus dem Jahre 1090 erwähnt. Der erste schriftliche Hinweis darauf in westlichen Quellen ist hingegen 100 Jahre jünger und stammt aus dem Werk "De utensilibus" des englischen Gelehrten Alexander Neckam (1157 bis 1217). Die Kenntnis dieser Technik gelangte im 12. Jahrhundert über den mediterranen Raum nach Nordeuropa, wo gleichzeitig das ebenfalls in China erfundene axiale Steuerruder am Heck eines Schiffes bekannt wurde. Diese Neuerungen machten die Seefahrt der Renaissance mit ihren Handels- und Entdeckungsfahrten überhaupt erst möglich.

Doch die technischen Fortschritte fanden in China selbst nur langsam ihren Weg auf die Schiffe. So ignorierten die chinesischen Seefahrer lange den in ihrem Land entwickelten Trockenkompaß und setzten nach wie vor die schwimmende Magnetnadel ein. Erst als sie das Instrument im 17. Jahrhundert auf holländischen Seglern sahen, entdeckten sie die chinesische Erfindung wieder.


Schießpulver und Kriegstechnik

Als erster westlicher Autor beschrieb der englische Franziskaner und Pionier der Experimentalwissenschaft Roger Bacon (um 1214 bis 1292) im Jahre 1260 das Schießpulver. Kenntnis davon erhielt er offensichtlich von seinem flämischen Ordensbruder und Freund Wilhelm von Ruysbroek (um 1210 bis um 1270), der im Auftrag von Papst Innozenz IV. und des französischen Königs Ludwig IX. 1253 an den Hof des mongolischen Großkhans in Karakorum südlich des Baikalsees reiste. Die Mongolen hatten Jahrzehnte zuvor die Verwendung des Schießpulvers zu Kriegszwecken von den Chinesen übernommen – was dem exzellenten Beobachter Ruysbroek sicherlich nicht entgangen war. (In Europa galt lange Zeit der Mönch Berthold der Schwarze, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts lebte, als Erfinder des nach ihm benannten "Schwarzpulvers".)

Die einzelnen Bestandteile des Schießpulvers – Salpeter, Schwefel und Holzkohle – waren in China seit der Zeit um Christi Geburt bekannt und wurden zum Teil traditionell als Heilmittel eingesetzt. Bereits im 3. Jahrhundert warnten taoistische Alchimisten vor der Gefährlichkeit von Schwefel-Salpeter-Mischungen. Die ersten schriftlich überlieferten Schießpulverformeln gehen zurück auf eine im Jahre 1044 veröffentlichte militärische Enzyklopädie: Darin werden bereits Zusammensetzungen für explosive, brandverursachende und dicken Rauch produzierende Mischungen beschrieben. Dies belegt, daß die Chinesen schon lange zuvor mit verschiedenen Mischproportionen der Schießpulverbestandteile experimentiert hatten. Sie entwickelten dann in der Zeit der Song-Dynastie eine große Vielfalt von Brandsätzen, Raketen- und Bombentypen.

Diese hochentwickelte Pulvertechnologie erklärt denn auch, warum das chinesische Reich als einziges in der damaligen Welt den Mongolen mehr als sieben Jahrzehnte lang erfolgreich Widerstand zu leisten vermochte. Andere mächtige Reiche wie Persien oder das Kalifat von Bagdad wurden von dem Reitervolk innerhalb weniger Wochen besiegt.

Während die Chinesen die Kunst des Raketenbaus und auch der Herstellung von Feuerwerkskörpern weiterentwickelten, baute man in Europa nach Bekanntwerden des Schießpulvers Handfeuerwaffen und Kanonen, die eine viel höhere Treffsicherheit ermöglichten. Zu den vielen Widersinnigkeiten der Geschichte gehört, daß die Chinesen von diesen Fortschritten im Kanonenbau ausgerechnet von christlichen Missionaren erfuhren: Jesuiten brachten ihnen im 17. Jahrhundert die moderne europäische Technik des Kanonengießens bei.

Die Ausstellung "China – Wiege des Wissens. 7000 Jahre Erfindungen und Entdeckungen" ist noch bis 25. Februar 1996 im Bechsteinhaus am Moritzplatz in Berlin, Prinzenstr. 85, zu sehen; sie ist dienstags bis sonntags (mit Ausnahme vom 24. 12. und 31. 12. 1995) von 10 bis 19 Uhr geöffnet. Während der gesamten Ausstellungsdauer führen dreizehn Experten aus China alte chinesische Techniken wie Papierschöpfen, Druck, Weben und Siegelschnitzen vor. Ein Begleitbuch in Deutsch, Englisch und Französisch sowie eine Tonbandführung in Deutsch und Englisch werden den Besuchern angeboten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 125
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wissenschaft im Jahresrückblick

Auswirkungen von Tai-Chi auf das Gehirn, die Wasserkrise im Panamakanal, neue Theorien für die Thermodynamik und ein Kind, das König sein wollte: in dieser Ausgabe haben wir die wichtigsten Wissenschaftsthemen des Jahres 2023 für Sie zusammengestellt.

Spektrum - Die Woche – »Die Pariser Klimaziele sind auch nicht vom Himmel gefallen«

Die 28. Weltklimakonferenz in Dubai ist seit dem 30. November im vollen Gange. Wie geht es einer Klimawissenschaftlerin, die bereits auf zahlreichen COPs die immer größer werdende Dringlichkeit des Handelns kommuniziert hat? Ein Interview mit Franziska Tanneberger für Sie in der aktuellen »Woche«.

Spektrum - Die Woche – Verschlafene Jugendliche

Bis mittags im Bett lungern und abends nicht müde werden: Jugendliche scheinen eine andere zirkadiane Rhythmik zu haben als Kinder und Erwachsene. Aber warum geht die innere Uhr während der Pubertät so stark nach? Außerdem in dieser »Woche«: das Pfadintegral als Konzept aller Möglichkeiten.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.