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Sicherheit: Crash-Test für die Bahn

Auf der Schiene geht es immer hektischer zu, deshalb sollen Züge und Waggons künftig mit Knautschzonen und anderen Sicherheitssystemen ihre Passagiere schützen.


Fahr lieber mit der Bundesbahn, lautete ein Slogan vor wenigen Jahren. Doch als am 3. Juni 1998 mehrere Waggons eines ICE bei Eschede gegen eine Brücke prallten, starben 101 Menschen und 105 wurden zum Teil schwer verletzt. Weitere Zugunglücke im In- und Ausland erschütterten das Vertrauen in die Sicherheit dieses Verkehrsmittels. Zu Unrecht, wie die Statistik zeigt: So sind auf der Schiene im Mittel nur 0,7 Tote je Milliarde Personenkilometer zu beklagen, auf der Straße hingegen acht. Bei den Verletzten liegt das Verhältnis sogar bei 1:70. Doch die Verkehrsdichte auf dem deutschen Schienennetz hat seit 1990 um 22 Prozent zugenommen. Immer mehr Züge passieren zudem die Grenzen und durchqueren das zusammenwachsende Europa. Und jeder Tote ist ein Toter zu viel.

Neue Sicherheitsrichtlinien tun Not. Das derzeit noch gültige Regelwerk des Internationalen Eisenbahnverbandes UIC für die Festigkeit von Lokomotiven, Triebwagen und Waggons stammt aus dem Jahre 1974. Deshalb schlossen sich 16 Partner aus den Bereichen Bahn, Industrie und Wissenschaft zum Forschungsverbund "Safetrain" zusammen, entwickelten Mindestanforderungen an die Kollisionsfestigkeit sowie den Insassenschutz der Fahrzeuge und veranstalteten spektakuläre Crash-Tests auf einem Gelände des polnischen Bahnforschungszentrums in der Nähe von Breslau. Zum ersten Mal überhaupt wurden Mindestanforderungen an die Kollisionssicherheit und den Insassenschutz neuer Schienenfahrzeuge festgeschrieben und fanden Eingang in eine Euro-Norm. Damit wird künftig eine bei Automobilen längst selbstverständliche "Knautsch-zone" auch bei Eisenbahnen europaweit Pflicht.

Den Crash-Tests ging eine Analyse von 300 Unfällen der Jahre 1991 bis 1995 voraus. Bei gut einem Drittel war ein Zug mit einem Auto oder LKW auf einem Bahnübergang zusammengestoßen, bei knapp einem Viertel auf ein anderes Schienenfahrzeug aufgefahren. Bei immerhin zehn Prozent der Fälle waren Loks oder Waggons frontal aufeinander geprallt.

Diese Daten stellten die Forscher in Rechnung und verbesserten die Sicherheit der so genannten Wagenkästen, also der tragenden Konstruktion eines Schienenfahrzeugs: Sie soll künftig Energie beim Aufprall aufnehmen und abführen können, statt starr zu sein und diese als Beschleunigung an die Passagiere weiterzugeben. Auch Energieabsorber an den Kupplungen zwischen Lokomotive und Waggon beziehungsweise zwischen zwei Waggons sowie spezielle Inneneinrichtungen waren Themen bei Safetrain.

Prototypen sicherer Züge absolvierten drei typische Bahnunfälle auf dem polnischen Testring: Ein 129 Tonnen schwerer Regionalbahnzug kollidierte bei Tempo 100 mit einem 16,5-Tonnen-Laster auf einem Bahnübergang; derselbe Zug fuhr mit 36 km/h auf ein 80-Tonnen-Triebfahrzeug auf und als "Höhepunkt" prallten zwei derartige Regionalbahnen frontal zusammen.

"Eigentlich hatten wir befürchtet, die Wagen wären nach dem Test nur noch Schrott", gesteht Wilfried Wolter vom Forschungs- und Technologiezentrum der Deutschen Bahn in Brandenburg-Kirchmöser. Doch die Schäden waren so gering, dass beide Fahrzeuge sogar zu reparieren gewesen wären. Die Zugführer hätten überlebt. Die Forderung, dass die neuen Konstruktionen 4,6 Megajoule Aufprallenergie in Verformungsarbeit umsetzen und die Fahrzeuge nicht entgleisen sollten, wurde voll erfüllt. "Wir haben viel darüber gelernt, wie durch konstruktive Merkmale Kollisionsfolgen sowohl für die Menschen im Zug als auch für die Fahrzeuge selbst deutlich begrenzt werden können", resümiert Wolter.

Zur Safetrain-Lösung gehören auch Vorrichtungen, die das so genannte Aufklettern verhindern: Oft schiebt sich bei einem Zusammenstoß ein Fahrzeug an dem anderen hoch, beide entgleisen und kippen. Das aber hat dann meist schlimmere Folgen als der eigentliche Crash. Als Gegenmittel dienten spezielle Pufferhörner, die, wie in der Computersimulation berechnet, im Versuch tatsächlich die konventionellen Puffer eines Test-Güterwagens vollständig umfassen und damit das Aufklettern verhinderten.

Flucht nach hinten

Die Crash-fähigen Strukturen der Prototypen erlaubten eine kontrollierte Verformung des Fahrzeugkopfes nach einem Drei-Stufen-Modell: Zunächst fingen mit Stauchrohren versehene Kupplungen kleinere Aufprallkräfte ab und federten anschließend wieder in ihre Ursprungslage zurück. Danach falteten sich spezielle Energieabsorber wie eine Ziehharmonika und vernichteten so weitere Bewegungsenergie. In den Versuchen waren zu diesem Zeitpunkt bereits drei Viertel der zerstörerischen Kräfte unschädlich gemacht. Stufe drei schließlich schluckte auch den Rest der Kollisionsenergie: Knautschzonen in den Wagenkasten-Enden und im Frontbereich. Führerstände und Fahrgasträume blieben innerhalb eines definierten Kräftespektrums unversehrt. "Wo heute noch mit Schwerverletzten zu rechnen ist, werden Passagiere künftig nur leichte Verletzungen davontragen", prophezeit DB-Projektchef Wolter. Weil auf Jahrzehnte hinaus noch ältere Bahnfahrzeuge auf europäischen Gleisen unterwegs sein werden, will man diese zumindest mit den neuen Pufferhörnern aufrüsten. Neufahrzeuge erhalten schon heute Stauchrohre hinter den Kupplung.

Eine von der Bahn und dem Unternehmen Bombardier zum Patent angemeldete Sitzbefestigung verhindert darüber hinaus das Einklemmen des Zugführers: Führerpult und Sitzgestell sind so miteinander verbunden, dass sich die Abstände nicht verringern, wenn sie bei einem Aufprall gemeinsam nach hinten, also in Richtung Fahrgastraum, gedrückt werden. Der Triebfahrzeugführer, der im Übrigen durch einen Gurt oder einen Airbag am Führerstand gesichert werden kann, wird im schlimmsten Fall auf seinem Sitz mit nach hinten gedrückt. "Wichtig ist dabei", so Wolter, "dass ihm ein Fluchtweg nach hinten bleibt."

Weil sich die eigentliche Fahrgastzelle nur wenig verformt, erhöht sich die Sicherheit der Passagiere. Verformbare Sitze, Anschnallgurte und Airbags sind in der Diskussion. Ein Ergebnis der Crash-Tests zeigte zudem, dass eine Anordnung der Sitze hintereinander den größten Schutz bei Unfällen bietet.

Im Anschlussprojekt "Safetram" soll nun auch die passive Sicherheit leicht gebauter Schienenfahrzeuge des Regionalbahnverkehrs verbessert werden. Denn Stadtbahnzüge fahren immer häufiger im Mischverkehr auf Schienen der großen Kollegen. Beispielsweise wechselt die S-Bahn im Großraum Saarbrücken von den innerstädtischen Gleisen auf DB-Schienen und fährt sogar über die deutsche Grenze bis nach Sarreguemimes ins französische SNCF-Netz. Bei Unfällen nimmt aber das leichtere Fahrzeug die gesamte Kollisionsenergie auf. Ein Crash zwischen Straßenbahn und Reisezug hätte kaum auszumalende Konsequenzen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2002, Seite 86
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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